Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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1. Mai 2000
Hl. Joseph, der Arbeiter


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Gegen Ende des Jahres 1841 machte Alphonse Ratisbonne, ein junger jüdischer Bankier aus einer vornehmen Strassburger Familie, auf seiner Reise in den Orient in Rom Halt. Seine religiöse Einstellung war sehr stark gegen die katholische Kirche gerichtet, vor allem seit sein Bruder Théodore sich zum Katholizismus bekehrt hatte und zum Priester geweiht worden war. In der Heiligen Stadt begab er sich zu einem Freund, Gustave de Bussière. Da dieser gerade abwesend war, wurde er von dessen Bruder, Théodore de Bussière, einem begeisterten Katholiken, empfangen. Während ihres Gesprächs brachte Alphonse seine Animosität gegen den katholischen Glauben zum Ausdruck und beteuerte seine unerschütterliche Verbundenheit mit der israelitischen Religion. Unter dem Einfluss der Gnade machte ihm Théodore de Bussière eine wundertätige Medaille zum Geschenk und sagte: «Versprechen Sie mir, dass Sie dieses kleine Geschenk, das nicht abzulehnen ich Sie bitte, immer bei sich tragen werden.» Alphonse versprach es aus Höflichkeit.

Einige Tage später, am 20. Januar 1842, gingen die beiden Freunde in die Kirche Sant'Andrea delle Fratte. De Bussière ließ Alphonse einen Augenblick allein, um sich mit einem Priester zu unterhalten. Als er

zurückkehrte, fand er den jungen Mann in der Kapelle des heiligen Michael in tiefer Andacht versunken vor. Nach einem Moment wandte ihm Alphonse ein tränenüberströmtes Gesicht zu. «Ich war kaum einen Augenblick in der Kirche», sagte er später, «da fühlte ich mich plötzlich von einer unbeschreiblichen Verwirrung ergriffen. Ich erhob die Augen; das ganze Gebäude war aus meinem Blick verschwunden; eine einzige Kapelle hatte sozusagen das ganze Licht auf sich konzentriert, und mitten in diesem Lichtstrahl erschien aufrecht über dem Altar die große, glänzende, majestätische und sanfte Gestalt der Jungfrau Maria, wie sie auf meiner Medaille dargestellt ist; ich fühlte mich mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihr hingezogen. Die Jungfrau machte mir mit der Hand ein Zeichen, mich hinzuknien, sie schien mir zu sagen: So ist es gut! Sie hat gar nicht zu mir gesprochen, doch ich habe alles verstanden.» Am 31. Januar empfing Alphonse die Taufe und wurde später Priester. Da er sich inzwischen nach dem Ursprung der wundertätigen Medaille erkundigt hatte, wollte er Schwester Catherine Labouré kennenlernen, der das Bild offenbart worden war. Doch er hatte nicht mit der tiefen Demut der Schwester gerechnet, die unerkannt bleiben wollte und eine Begegnung ablehnte.

Woher die Kraft nehmen?

Die so zurückhaltende Nonne, die die Allerseligste Jungfrau ebenfalls gesehen hatte und von Papst Pius XII. später als die Heilige des Schweigens bezeichnet werden sollte, wurde am 2. Mai 1806 im Dorf Fain-les-Moutiers, im französischen Burgund, geboren. Am folgenden Tag erhielt sie bei der Taufe den Vornamen Catherine. Ihr Vater, Pierre Labouré, war ein wohlhabender Bauer. Catherine war das achte von zehn Kindern. Als ihre Mutter 1815 mit 46 Jahren starb, war Catherine erst neun Jahre alt. Sie kletterte auf einen Stuhl, um auf Zehenspitzen die Statue der Seligsten Jungfrau zu erreichen, die auf einem Möbelstück stand, und flehte sie unter Tränen an, an die Stelle ihrer Mutter zu treten.

Am 25. Januar 1818 empfing Catherine mit großer Inbrunst ihre Erstkommunion. Als ihre älteste Tochter Marie-Louise das frühreife Wesen ihrer Schwester bemerkte, machte sie sie mit der Hausarbeit vertraut, um ihren eigenen Plan, sich Gott zu weihen, ohne Aufschub verwirklichen zu können. Catherine sagte in entschiedenem Ton zu ihrer jüngsten Schwester Tonine: «Wir beide, wir werden das Haus am Laufen halten.» So wurde also Catherine zur Herrscherin über den großen Bauernhof. Morgens stand sie als Erste auf. Ihre tägliche Hauptaufgabe bestand im Zubereiten und Servieren von drei Mahlzeiten. Die Bäuerin war zugleich eine Dienerin; sie setzte sich mehr als jeder andere mit ihrer ganzen Person ein. Sie musste sich auch um das Vieh kümmern. Daneben holte sie Wasser vom Brunnen, machte die Wäsche, knetete den Brotteig, ging donnerstags 15 km weit nach Montbard auf den Markt, usw. Die langen Winterabende wurden vor dem Kaminfeuer verbracht: Erst tauschte man Neuigkeiten, Erinnerungen und Geschichten aus, dann kam das Abendgebet. Sonntags besuchte Catherine Arme und Kranke.

Woraus erwuchs ihr die Fähigkeit, eine so erdrückende Aufgabe zu erfüllen? Ihr Geheimnis lag in ihren kurzen Abstechern vom Bauernhof weg verborgen. Jeden Tag verschwand sie für einige Zeit, um in die ganz nahegelegene Kirche zu gehen und lange auf den kalten Fliesen zu beten. Der Tabernakel war leer, da das Dorf seit der Revolution ohne Priester war. Und doch zeigte sich dort tief im Herzen des jungen Mädchens die Gegenwart des Herrn. Dort schöpfte sie die Kraft, ihren Dienst mit freundlichem Gesicht zu verrichten. «Gebete bringen die Arbeit nicht vorwärts, das ist verlorene Zeit», sagten mitunter die Nachbarinnen. Catherine kümmerte sich kaum darum; sie betete, und die Arbeit wurde rechtzeitig fertig. Ihr tiefster Wunsch bestand darin, Nonne zu werden.

«Gott hat etwas mit dir vor»

Sie hatte einen Traum, der sie in ihrer Berufung bestärkte. Sie sah einen betagten, sehr gütig aussehenden Priester, der sie eindringlich betrachtete... Dann befand sie sich – immer noch im Traum – am Bett einer Kranken. Der alte Priester war auch noch da und sagte: «Meine Tochter, es ist gut, Kranke zu pflegen... Eines Tages wirst du zu mir kommen. Gott hat etwas mit dir vor, vergiss das nicht.» Doch um Ordensschwester zu werden, musste sie lesen und schreiben können. Eine Kusine bot an, Catherine in ein von ihr geführtes Pensionat von gutem Ruf in Châtillon-sur-Seine aufzunehmen. Tonine, die nun 16 Jahre alt war, konnte die Aufgaben auf dem Bauernhof übernehmen.

In Châtillon-sur-Seine stattete das junge Mädchen den Töchtern der christlichen Liebe einen Besuch ab und erkannte dabei erstaunt auf einem Bild den Priester, der ihr im Schlaf erschienen war. «Wer ist das?», fragte sie. – «Das ist unser guter Vater, der heilige Vinzenz von Paul», antwortete eine Nonne. Diesmal war Catherine sicher, dass Gott sie als Tochter der christlichen Liebe wollte. Als sie das damalige Volljährigkeitsalter von 21 Jahren erreichte, teilte sie ihrem Vater ihren Entschluss mit, sich Gott zu weihen. Herr Labouré erhob formell Einspruch: Er hatte bereits eine Tochter an Gott abgetreten, das war genug. Und dann war Catherine nützlich, sie war fröhlich, ging gern zu den Dorffesten und hatte sogar schon Heiratsanträge bekommen. Doch sie war entschlossen: «Ich will nicht heiraten.»

Nachdem sie sich einige Monate geduldet hatte, erhielt Catherine schließlich die Zustimmung ihres Vaters. Am 21. April 1830 begab sie sich in die Rue du Bac nach Paris, um dort bei den Töchtern der christlichen Liebe ihr Noviziat zu beginnen. Schon in den ersten Monaten ihres Ordenslebens wurde sie mit außergewöhnlichen Gnadenbeweisen ausgezeichnet: Während der Messe zeigte sich ihr Jesus in der heiligen Eucharistie; das Herz des heiligen Vinzenz von Paul erschien ihr; sie hatte die Vorahnung einer nahe bevorstehenden Revolution. Sie berichtete alles ihrem Beichtvater, dem Lazaristenpater Aladel, der eher zum Zweifeln neigte und ihr zur Ruhe und zum Vergessen riet.

«Die heilige Jungfrau erwartet Sie»

In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli wurde Schwester Catherine durch einen Ruf geweckt: «Schwester!

Schwester!» Ein kleines Kind von 4 oder 5 Jahren in einem weißen Gewand stand vor ihr: «Stehen Sie schnell auf und kommen Sie in die Kapelle, die heilige Jungfrau erwartet Sie! – Aber man wird mich hören! – Keine Sorge, es ist halb zwölf, alle schlafen.» Sie zog sich an und folgte dem Kind, von dem überall, wo es vorbeikam, Lichtstrahlen ausgingen. In der Kapelle brannten alle Kerzen und Leuchter. Nach einem Moment erblickte Schwester Catherine eine große Dame, die sich nach einem Kniefall vor dem Tabernakel in einen Sessel setzte. Mit einem Sprung sank sie vor der Dame nieder und stützte ihre Hände auf deren Knie: «Mein Kind», sagte Maria zu ihr, «der liebe Gott will dich mit einem Auftrag betrauen, der dich viel Mühe kosten wird... Du wirst alles deinem Beichtvater sagen müssen. Viel Unglück wird über Frankreich hereinbrechen... Kommt zu Füßen dieses Altars. Hier wird allen Personen, die mit Vertrauen und Inbrunst darum bitten, Gnade zuteil werden. Man wird alles für verloren halten. Doch ich werde hier mit euch sein. Habt Vertrauen, ihr werdet meinen Besuch und den Schutz Gottes und den des heiligen Vinzenz über euren Gemeinschaften erkennen.» Als Maria gegen zwei Uhr morgens fortging, war es, als ginge ein Licht aus. Schwester Catherine ging unter der Führung des kleinen Kindes ins Bett zurück. Sie schlief jedoch nicht mehr ein: Das beweist, dass sie nicht geträumt hatte. Als Pater Aladel über das Ganze informiert wurde, sah er darin nur eine «Illusion». Die Voraussage einer neuen Revolution erschien ihm unwahrscheinlich: Frankreich gedieh in Frieden. Doch plötzlich brach am 27. Juli 1830 die Revolution aus. Priester und Nonnen wurden von den Aufständischen gejagt. Doch die Gewalt machte am Tor der vom heiligen Vinzenz von Paul gegründeten Häuser halt.

Am 27. November desselben Jahres sah Schwester Catherine während der Abendandacht ein Bild mit der Darstellung der Seligsten Jungfrau erscheinen: Maria streckte ihr die Arme entgegen, und aus ihren Händen gingen Lichtstrahlen von einem entzückendem Glanz aus. Im selben Augenblick ertönte eine Stimme: «Diese Strahlen sind Symbole der Gnade, die Maria für die Menschen erlangt.» Um das Bild herum las Schwester Catherine folgende Anrufung in goldenen Lettern: «O Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir zu Dir unsere Zuflucht nehmen!» Dann drehte sich das Bild um, und auf seiner Rückseite erschienen der Buchstabe «M» als Anfangsbuchstabe von «Maria», darüber ein Kreuz, und darunter die heiligen Herzen von Jesus und Maria. Die Stimme sagte ganz deutlich: «Es soll eine Medaille nach diesem Vorbild geprägt werden, und die Personen, die sie ständig bei sich tragen und die andächtig diese kurze Anrufung sprechen, werden den ganz besonderen Schutz der Muttergottes genießen.» Schwester Catherine berichtete alles Pater Aladel, doch dieser nahm es nicht gut auf: «Pure Einbildung! Wenn ihr unsere Liebe Frau ehren wollt, so ahmt ihre Tugenden nach und hütet euch vor Einbildung!» Die Schwester zog sich beherrscht und ruhig zurück und sorgte sich nicht weiter. Doch der Schlag war hart gewesen.

Geheimnisvolle Edelsteine

Im Dezember 1830 erschien Maria ein drittes Mal Schwester Catherine und zeigte ihr das Bild mit der Darstellung der Medaille. An den Fingern der Gottesmutter glitzerten Edelsteine, von denen leuchtende Strahlen zur Erde ausgingen. Doch von manchen dieser Edelsteine gingen keine Strahlen aus: «Diese Edelsteine, von denen nichts ausgeht, sind Gnadengaben, um die man mich zu bitten vergisst», sagte die Jungfrau Maria. Dann fügte sie hinzu: «Du wirst mich nicht wiedersehen, doch du wirst während der Andachten meine Stimme hören.» Schwester Catherine fühlte sich hin- und hergerissen zwischen der erneuten Bitte der Heiligen Jungfrau und dem Gehorsam ihrem Beichtvater gegenüber, der nichts mehr von diesen «Einbildungen» hören wollte. Da unsere Liebe Frau nicht gedrängt hatte, entschied sie sich für das Schweigen.

Am 30. Januar 1831 nahm sie endgültig den Schleier und wurde dem Hospiz von Enghien in einem Pariser Vorort zugeteilt. Dort war sie in ihrem Element: Es gab einen Hühnerhof, einen Garten, Tauben und später auch Kühe. Doch die innere Stimme drängte sie, die Medaille prägen zu lassen. Der erneut befragte Pater Aladel unterbreitete den «Fall» einem Mitbruder. Beide wandten sich dann an den Erzbischof von Paris, Mgr. de Quelen. Die Erscheinung Mariä im Mysterium ihrer Unbefleckten Empfängnis übte auf den Bischof eine tiefe Anziehungskraft aus: «Es spricht nichts dagegen, die Medaille zu prägen, sie entspricht in jeder Weise dem Glauben und der Frömmigkeit. Es soll weder über die Natur der Vision im voraus geurteilt werden, noch sollen ihre Umstände bekannt gemacht werden. Man möge schlicht und einfach die Medaille verbreiten. Man wird den Baum an seinen Früchten erkennen.»

Zehn Millionen Medaillen

So beruhigt, bestellte Pater Aladel bei einem Pariser Graveur die Medaillen und verbreitete die Geschichte der Erscheinungen, ohne jedoch die Seherin zu nennen. Die ersten 1500 Exemplare der Medaille wurden im Juni 1832 geliefert. Danach folgten so viele Wunder so rasch aufeinander, dass die Medaille schon vom Februar 1834 an allgemein als «wundertätig» bezeichnet wurde. 1839 waren bereits mehr als 10 Millionen Exemplare in Umlauf. Es trafen Heilungsberichte aus den Vereinigten Staaten, aus Polen, China und Russland ein...

Schwester Catherine wurde in die Danksagung einbezogen; die von Jesaja verkündete gute Nachricht wurde wieder aktuell: Blinde sehen, Lahme gehen, die Armen werden evangelisiert (Mt 11, 5). Die Medaille ist eine «Bibel» der Armen, das Zeichen einer Gegenwart, der Gegenwart Mariä im Lichte Christi, im Schatten des Kreuzes. Die Wohltaten der Beschützung durch Maria wirkten sich in ganz besonderer Weise in den vom heiligen Vinzenz von Paul gegründeten religiösen Familien aus, namentlich durch den Zustrom von Berufenen.

Die unvergleichlichen Erfolge der wundertätigen Medaille bringen die Freude unseres Herrn darüber zum Ausdruck, dass seine Mutter so geehrt wird. Am Tage der Verkündigung wurde sie vom Engel Gabriel als Begnadete begrüßt (Lk 1, 28). In dem Ausdruck ,Begnadete', der beinahe den Wert eines Namens hat, in diesem Namen, der Maria von Gott gegeben wurde, hat die Kirche das Privileg der Unbefleckten Empfängnis erkannt, das 1854 durch Papst Pius IX. feierlich als Dogma verkündet wurde: «Wir erklären, verkünden und bestimmen, dass die Lehre, die besagt, dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde, eine von Gott geoffenbarte Lehre ist, und dass aus diesem Grunde sie von allen Gläubigen fest und beständig geglaubt werden muss» (Bulle Ineffabilis Deus, 8. Dezember 1854).

Seit dem Fall Adams reißt die Sünde, das Größte aller Übel, die Menschheit wie ein Sturzbach mit sich; doch sie macht vor dem Erlöser und seiner treuen Miterlöserin Maria Halt. Dabei gibt es allerdings einen bemerkenswerten Unterschied: Christus ist kraft der Gnade, die in seiner Menschheit von seiner göttlichen Person herrührt, vollkommen heilig; Maria ist kraft der Gnade, die sie durch die Verdienste Jesu Christi empfängt, vollkommen heilig. Diejenige, die die Mutter des Erlösers und die Mutter Gottes werden sollte, musste von jedem Makel rein sein. So wurde Maria auf wunderbare Weise erlöst: nicht durch die Befreiung von der Sünde, sondern durch die Bewahrung vor der Sünde. Die Bewahrung vor der Ursünde hat die Immunität gegen die Begierde zur Folge, gegen jene zügellose Neigung, die aus der Sünde kommt und zur Sünde drängt. Maria, die der ersten Gnade treu blieb, nahm immer weiter an Heiligkeit zu, ohne jemals in irgendeine Verfehlung, selbst lässlicher Art, zu verfallen. «Aus diesem Grunde stellt Maria für die Gläubigen das leuchtende Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit und einen sicheren Führer zu den höchsten Gipfeln der evangelischen Vollkommenheit und Heiligkeit dar» (Johannes-Paul II., 19. Juni 1996).

Die Vorsicht der Demut

Will man «die hohen Gipfel der Vollkommenheit» erklimmen, so setzt das die Tugend der Demut voraus. Angesichts der durch die wundertätige Medaille erreichten, reichlich fließenden Gnadengaben benahm sich auch Schwester Catherine als wahre Tochter des heiligen Vinzenz unglaublich demütig. Erzbischof de Quelen hatte diskret die Verbreitung der Medaille autorisiert. Doch bald beschloss er, ein offizielles Verfahren zur Anerkennung der erfolgten Gnadenerweise zu eröffnen. Doch als er darum bat, Schwester Catherine zu sehen, sei es auch nur mit verschleiertem Gesicht, erhielt er eine Abeage, der er sich beugte. «Das Widerstreben der

Schwester, öffentlich aufzutreten, ist einzig und allein auf ihre Demut zurückzuführen», sagte Pater Aladel. Man begnügte sich also mit der Zeugenaussage ihres Beichtvaters, der von ihr persönlich ermächtigt wurde, die Tatsachen offenzulegen. Schwester Catherine bemühte sich ihr ganzes Leben lang, unerkannt zu bleiben, indem sie aufdringlichen Fragen mit ihrer bäuerlichen Verschmitztheit so gut sie konnte auswich.

Währenddessen arbeitete sie weiter und verwandelte den Garten des Hauses von Enghien nach und nach in einen kleinen Bauernhof. Sie machte sich auch in der Küche nützlich, dann in der Wäscherei und an der Pforte, empfing die Armen mit großem Zartgefühl und pflegte, gemäß dem Ratschlag des heiligen Vinzenz, nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Seelen. Ihre Hauptaufgabe bestand jedoch darin, sich um alte Männer zu kümmern. Sie bemühte sich vor allem darum, ihre Pensionäre zu lieben, und ließ eine gewisse Vorliebe für die Unangenehmsten unter ihnen erkennen, als hätten diese ein Anrecht auf besondere Zuwendung.

1860 wurde eine neue, junge Oberin für das Hospiz von Enghien ernannt, Schwester Dufès. Sie hatte große Pläne, die sie energisch in die Tat umsetzte, um das unermessliche Elend des Viertels zu lindern. Ihre unternehmungslustige jugendliche Art brachte die Gemeinschaft ganz außer Atem und stieß sie vor den Kopf, doch Schwester Catherine besänftigte die unzufriedenen Schwestern. Sie wurde von Schwester Dufès dennoch nicht geschont und leichtfertig mit Vorwürfen überhäuft. Diese strenge Haltung wirkte sich ansteckend aus, und mehrere Schwestern behandelten die ungebildete Mitschwester, deren Akzent und deren Schürze «nach Stall rochen», als vernachlässigenswerte Größe. Schwester Catherine schwieg demütig dazu, selbst wenn in ihrem Inneren ein harter Kampf tobte. Doch ihre Demut schloss weder Mut noch sogar Kühnheit aus.

«Böse Wespe!»

Als Schwester Catherine älter wurde, zwangen sie ihre Gebrechen, etwas kürzer zu treten. Ihr ganzes Leben lang hatte sie unter Arthritis und Rheumatismus gelitten und diese Schmerzen in großem Glauben hingenommen: «Wenn die Heilige Jungfrau uns ein Leiden schickt, so ist das eine Gnade, die sie uns gewährt», sagte sie. Doch nun, durch die harte Arbeit und das Alter verbraucht, war sie am Ende ihrer Kraft, ihr Herz wurde schwächer. Ihr blieb noch eine tiefe Sorge: Die Heilige Jungfrau hatte sie gebeten, eine Statue meißeln zu lassen, die sie mit einem Globus in der Hand darstellte. Die Beichtväter von Schwester Catherine wollten dieser Bitte nicht nachgeben; Pater Aladel bezeichnete sie sogar als «böse Wespe», als sie darauf bestand, erhört zu werden. Sie betete danach zu Maria, um zu erfahren, ob sie ihr «Geheimnis» der Oberin anvertrauen sollte; im Grunde ihres Herzens vernahm sie ein «Ja» und erzählte alles; sie drückte sich so klar und leicht aus, dass die Oberin überzeugt wurde, und bald war die Statue mit der Jungfrau und dem Globus hergestellt.

Schwester Catherine wartete von da an gefasst auf den Tod. Mehrmals hatte sie ihren Mitschwestern angekündigt, dass sie das Jahr 1877 nicht mehr erleben würde. Tatsächlich schien sie am 31. Dezember 1876 gegen sieben Uhr abends einzuschlafen, nachdem sie mit ihrer Gemeinschaft die Gebete der Sterbenden gesprochen hatte. Bald danach merkte man, dass sie still und leise, wie sie gelebt hatte, gestorben war: Ihre Seele wurde von der Jungfrau Maria eigenhändig in den Himmel getragen. «Wir haben kaum gemerkt, dass sie zu leben aufgehört hatte», sagte später Schwester Dufès. «Nie habe ich einen so ruhigen und so sanften Tod erlebt.»

«Sicherlich ist es eine der größten Bewunderung würdige Sache, wenn die erhabene Muttergottes einem bescheidenen jungen Mädchen erscheint», sagte Papst Pius XII. bei der Heiligsprechung von Catherine Labouré am 27. Juli 1947, «doch viel bewunderungswürdiger scheinen uns die Tugenden zu sein, die diese Tochter des heiligen Vinzenz schmückten.» Bitten wir die Seligste Jungfrau Maria um die Gnadengaben, deren auch wir bedürfen, denn wie schon Alphonse Ratishonne bezeugte, «gibt es keine Worte, um das zu beschreiben, was die Hände unserer Mutter umschließen, und um die unaussprechlichen Gaben aufzuzählen, die aus ihnen fließen: Güte, Barmherzigkeit, Zärtlichkeit, die Milde und der Reichtum des Himmels ergießen sich wie Sturzbäche über die Seelen, die sie beschützt.»

Wir Mönche beten zur Allerseligsten Jungfrau und zum heiligen Josef sowohl für Sie wie auch für alle Lebenden und Verstorbenen, die Ihnen teuer sind.

Dom Antoine Marie osb

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