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22. Juli 2004 Hl. Maria Magdalena |
Während der Revolution von 1848 führte ein Offizier seine Soldaten in Paris beim Sturm auf eine Barrikade an, doch, von seinem eigenen Eifer fortgerissen, stand er auf der anderen Seite plötzlich allein da. Er stürzte in ein Haus der Schwestern der christlichen Liebe, dessen Tür offen stand. Die Aufständischen jagten hinter ihm her. Da trat ihnen die Oberin, Schwester Rosalie, unerschrocken in den Weg: Bei uns wird nicht getötet!« - Geben Sie ihn uns, wir werden ihn auf die Straße führen.« Sämtliche Schwestern liefen herbei und scharten sich um ihre Mutter, doch die Horde schrie und drohte weiter. Über eine Stunde lang rangen Nächstenliebe und Rachsucht um das Leben dieses Menschen miteinander. Die Gewehrläufe zielten bereits auf das Opfer. Da warf sich Schwester Rosalie auf die Knie: Ich habe euch fünfzig Jahre meines Lebens geweiht; für alles, was ich für euch, eure Frauen und Kinder habe tun können, schenkt mir das Leben dieses Mannes!« Die Truppe ließ die Waffen sinken, wich zurück und wandte sich schließlich zum Gehen. Der Offizier war gerettet; er fragte: Wer sind Sie denn, gnädige Frau?« - Oh! Niemand. Eine Tochter der christlichen Liebe.«
Jeanne-Marie Rendu, die künftige Schwester Rosalie, wurde am 9. September 1786 in Confort, einem Dorf im französischen Jura, geboren. Ihre Familie erfreute sich eines gewissen Wohlstands, doch der Vater starb, bevor Jeanne-Marie zehn Jahre alt wurde. 1789 brach die Französische Revolution aus. Die Nachrichten über die Ereignisse drangen bis in die entlegensten Dörfer vor. Als glühende Christin nahm Frau Rendu bereitwillig Flüchtlinge bei sich auf, die wegen ihrer Glaubenstreue fliehen und auf dem Wege in die Schweiz die Gegend durchqueren mussten. Obwohl das Gesetz die papsttreuen Priester und alle, die ihnen zur Flucht verhalfen oder sie versteckten, mit dem Tode bestrafte, öffnete Jeanne-Maries Mutter ihnen ihr Haus. Im Dorf wussten alle Bescheid, doch das Geheimnis blieb gewahrt.
Die heilige Bescheidenheit zum Schleier
In diesem Krankenhaus freundete sich Jeanne-Marie mit einer etwa dreißigjährigen Frau namens Fräulein Jacquinot an, die ihr ihren Plan anvertraute, sich in Paris der Gemeinschaft der Töchter des heiligen Vinzenz von Paul anzuschließen. Jeanne-Marie bat ihre Mutter um Erlaubnis, mit ihr gehen zu dürfen. Frau Rendu stimmte schließlich zu, denn sie war überzeugt, die Zeit würde die Illusionen zerstreuen und ihr die Tochter zurückbringen. Am Tag der Abfahrt litt Jeanne-Marie zwar darunter, die Ihren zu verlassen, doch sie war sich sicher, Gottes Willen zu gehorchen. Ende Mai 1802 begab sie sich direkt nach ihrer Ankunft in Paris zum Noviziat der Töchter der christlichen Liebe (Vinzenterinnen); dort traf sie Pfarrer Émery wieder, den mit ihrer Familie befreundeten Direktor des Seminars von Saint-Sulpice. Der berühmte Geistliche mochte die junge Frau gern und bestärkte sie in ihrer Berufung. Er besuchte sie in der Folge recht oft und erzählte ihr von seinen eigenen Angelegenheiten.
Von zarter Konstitution und großer Empfindlichkeit, litt Jeanne-Marie sehr während der ersten Zeit ihres Noviziats. Nach einigen Monaten vertrug sie das abgeschottete Leben der Novizinnen nicht mehr und wurde krank. Sie wurde in ein anderes Haus der Kongregation in Paris versetzt. Gleich nach ihrer Ankunft in der neuen Umgebung genas Jeanne-Marie wieder und war nun in vollem Umfang einsatzfähig. Sie schloss ihr Noviziat zur vollen Zufriedenheit aller Schwestern ab; diese baten die Generaloberin, sie bei ihnen zu belassen. Jeanne-Marie war nun Schwester Rosalie geworden und setzte sich voll im Dienste der Armen ein, ganz im Geiste des heiligen Vinzenz von Paul, der geschrieben hatte: Die Töchter der christlichen Liebe werden das Krankenhaus zum Kloster haben, ein gemietetes Zimmer zur Zelle, die Pfarrkirche zur Kapelle, die Stadtmauern und die Krankensäle zum Kreuzgang, die Gottesfurcht zu Gittern und die heilige Bescheidenheit zum Schleier.«
Die Vorstadt, in der Schwester Rosalie tätig war, gehörte damals zu den ärmsten in Paris. Die Häuser waren baufällig und feucht, die Straßen eng, verdreckt und von Rinnsalen voller Unrat durchzogen. Ganze Familien lebten zusammengepfercht in Scheunen, die nur über eine Leiter zugänglich waren, oder in immer dunklen Kellerräumen. Das Viertel war ein Seuchen- und Rebellionsherd. Im Alter von 28 Jahren zur Oberin des Hauses ernannt - das zwei Jahre später in die Rue de l'Épée-de-Bois 5 (im Mouffetard-Viertel, dem heutigen 5. Arrondissement) verlegt wurde -, führte Schwester Rosalie einen beherzten Feldzug gegen Elend und Laster. Bei den Schwestern wurden eine Apotheke, eine Kleiderstube und eine kostenlose Schule eingerichtet. Intelligent und äußerst aufmerksam für die Bedürfnisse eines jeden, arbeitete Schwester Rosalie überaus harmonisch mit dem von der napoleonischen Regierung eingesetzten Wohlfahrtsbüro zusammen: Sie lieferte dem Büro genaue Akten und erhielt im Gegenzug Kohle- und Nahrungsmittelkarten.
Sie sind mehr wert, als es scheint
Auch sie bekam mitunter Flüche als Antwort auf ihre Fürsorge zu hören. Manchmal passierte es ihr, dass sie ungeduldig wurde, auf eine aufdringliche Forderung hitzig reagierte, doch dann war sie darüber so betrübt, dass sie es auf der Stelle wieder gutmachen musste, indem sie den geforderten Beistand verdoppelte. Doch für gewöhnlich legte sie großes Zartgefühl den Armen gegenüber an den Tag, denn sie ahnte, dass sie für die Art, wie man ihnen zu Hilfe kam, noch empfänglicher waren als für die Hilfe selbst. Eines der besten Mittel, einem Armen Gutes zu tun«, behauptete sie, besteht darin, ihm Respekt und Hochachtung zu erweisen. Selbst wenn man ihm einen schweren Vorwurf machen muss, sollte man jedes beleidigende und verächtliche Wort aufs Sorgsamste vermeiden.« Das Herz des Armen ist empfindlich, naiv, stolz und zugleich bereit, seine Liebe dem zu schenken, der ihn versteht. Schwester Rosalie vertraute auf das Gebet der Armen und legte ihnen den Erfolg ihrer Unternehmungen ans Herz.
In den eisigen Elendsquartieren gab es viele Kranke. Schwester Rosalie ging ohne Berührungsängste zu diesen Unglücklichen in ihren übelriechenden Lumpen, untersuchte ihre Wunden, pflegte sie und leistete auch seelischen Beistand. Manchmal stieß sie auf verzweifelte Sterbende, die sie auf den Tod vorbereitete. Jeden Morgen holte sie sich neue Kraft in der Eucharistie und in der Besinnung und schöpfte ihre Barmherzigkeit aus der höchsten und reinsten Quelle: dem Heiligen Herzen Jesu. Diese Barmherzigkeit war himmlisch und menschlich zugleich: Schwester Rosalie liebte die Armen als leidende Glieder des Heilands, aber auch so, wie eine Mutter ihr Kind liebt, mit ihrem Herzblut, mit ihrem Gefühl und ihren Tränen. Obwohl sie mit allen Schmerzen vertraut war, verhärtete sich ihr Herz in keiner Weise, sie blieb bis an ihr Lebensende ebenso empfänglich für den Anblick von Leid wie am ersten Tag.
Lasst sie passieren!
Zwei Freunde, die von einem ungläubigen Kameraden mit dem Vorwurf geärgert wurden, das soziale Wirken der Katholiken des 19. Jahrhunderts sei nicht der Rede wert, standen 1833 vor der Frage: Was muss man denn machen, um wahrhaft katholisch zu sein? Sprechen wir nicht länger von christlicher Liebe, üben wir sie.« Noch am selben Abend brachten sie das Holz, das ihnen für den Rest des Winters geblieben war, zu einem Armen. Die Freunde hießen Ozanam und Le Tallandier. Einer ihrer Professoren verwies sie an Schwester Rosalie. Diese lehrte die jungen Männer, in den Armen unseren Herrn Jesus Christus zu sehen und auf ihrer Stirn die Spuren seiner Dornenkrone.« Sie nannte ihnen Familien, die besucht werden mussten, und gab ihnen Hinweise für den richtigen Umgang mit armen Leuten. Die Konferenzen des heiligen Vinzenz von Paul« waren geboren. Die Frage, die die Menschen unserer Tage entzweit«, schrieb Ozanam am 24. Februar 1836, ist die Frage danach, wer obsiegen wird, der Geist des Egoismus oder der Opfergeist; ob die Gesellschaft nur eine große Ausbeutung zugunsten der Starken wird oder die Hingabe eines Jeden zum Wohle Aller, vor allem aber zum Schutz der Schwachen.« Aus den zu Beginn des Werkes sieben Mitbrüdern waren zwölf Jahre später neuntausend geworden.
Doch Schwester Rosalie baute trotz zahlreicher Schwierigkeiten auch ihre eigenen Wohltätigkeitseinrichtungen weiter aus. 1844 gründete sie eine Krippe zur Betreuung der Kleinsten. Dieser Vorstoß brachte ihr viel Widerspruch ein: Man warf ihr vor, sie würde den Müttern die Kinder wegnehmen. Nichtsdestotrotz wurde die Krippe zu einem großen Erfolg: Die Kinder dort waren sauber, gepflegt und luftiger untergebracht als in den Elendsbehausungen ihrer Familien. Die Mütter, die als Arbeiterinnen bzw. fliegende Händlerinnen das Haus verlassen mussten, waren hinsichtlich des Wohlergehens ihrer Kleinen beruhigt. Die Krippe wurde von Schwester Rosalie bald durch Schulen ergänzt. In Schwester Rosalies Schulen«, schrieb ein Zeuge, stieß man bei den Schülern überraschenderweise auf eine Bescheidenheit, eine Zurückhaltung, auf anständige und höfliche Manieren, die den höchsten Kreisen zur Ehre gereicht hätten.«
Sich auf den großen Übergang vorbereiten
1848 brach eine weitere Revolution aus. Vom 24. bis zum 26. Juni erreichte der Bürgerkrieg seinen Höhepunkt. Der Erzbischof von Paris, Affre, der versucht hatte, zwischen Armee und Aufständischen zu vermitteln, wurde auf einer Barrikade getötet. Schwester Rosalie stürzte sich unter Lebensgefahr ins Getümmel, um die Kämpfenden zu beruhigen. Gehen Sie weg, Schwester«, rief man ihr zu. Sie werden noch getötet!« - Glauben Sie, ich möchte noch leben, wenn man meine Kinder ermordet? Stellen Sie sofort das Feuer ein; habe ich nicht so schon genug Witwen und Waisen zu ernähren?« Nach diesen blutigen Tagen kam der von der Regierung mit der Wiederherstellung der Ordnung betraute General Cavaignac bei der Schwester vorbei und beglückwünschte sie zu ihrem Mut. Stets überaus bescheiden, fiel dieser plötzlich ein fünfjähriges Mädchen ein, dessen Vater, ein armer, braver Arbeiter, der vom Aufruhr mitgerissen worden war, erschossen werden sollte. Sie rief das Kind herbei und sagte: Hier ist ein Herr, der dir deinen Papa wiedergeben kann. Du musst ihn nur darum bitten.« Am ganzen Körper zitternd bat das Kind auf Knien um Gnade für seinen Vater. Der General zögerte. Geben Sie ihn mir wieder«, flehte das kleine Mädchen, und ich werde Sie so sehr lieben, gnädiger Herr!« Überwältigt gewährte der Offizier die Begnadigung.
Das Empfangszimmer eines Ministers?
Ihr Feingefühl den verschämten Armen gegenüber war bemerkenswert. Eines Tages bemerkte sie einen von ihnen in der Schar der Besucher und sagte zu ihm: Ich habe hier ein Paket für jemanden, der in Ihrer Nähe wohnt. Könnten Sie mir den Gefallen tun und es bei ihm vorbeibringen?« Der Mann lief sofort los; erst auf der Straße warf er einen Blick auf den Namen und die Adresse: Es waren seine eigenen. Wenn man Schwester Rosalie vorhielt, sie würde sich von ihren Bittstellern ausnutzen lassen, antwortete sie: Wenn wir ihre Heimsuchungen durchgemacht hätten, wären wir vielleicht schlimmer als sie. Ihre bösen Neigungen sind vor allem aus der Not geboren.«
Während der abendlichen Freizeit widmeten sich die Schwestern dem umfangreichen Briefwechsel Schwester Rosalies. Erst wenn das ganze Haus schlief, griff diese selbst zur Feder und schrieb in ihrer geneigten Handschrift an ihre zahlreichen Freunde: Bischöfe, Obere von religiösen Orden, Generäle, Anwälte, Direktoren von Unternehmen und Eisenbahnen. Sie machte die christliche Liebe für alle erreichbar, indem sie jeden nur um einige Minuten zur Verteilung von Hilfsgütern bat. Diese Wohltäter aller Art lernten dabei von den Armen, wie man Unglück ertrug, und sahen sich mit dem Geheimnis konfrontiert, welches Gott in der ungleichen Verteilung von Leid und menschlichen Lebensbedingungen verborgen hatte. Weil alle Menschen nach dem Bilde des einzigen Gottes geschaffen und mit der gleichen vernunftbegabten Seele ausgestattet sind, haben sie die gleiche Natur und den gleichen Ursprung«, lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche. Da sie durch das Opfer Christi erlöst wurden, sind alle berufen, an der gleichen göttlichen Seligkeit teilzuhaben. Alle Menschen erfreuen sich somit der gleichen Würde.« Unter den Menschen treten allerdings Unterschiede zutage, die mit dem Alter, den körperlichen Fähigkeiten, den geistigen und sittlichen Anlagen, den im Umgang mit anderen gewonnenen Vorteilen oder mit der Verteilung der Reichtümer zusammenhängen ... Diese Unterschiede entsprechen dem Plane Gottes. Gott will, dass jeder Mensch vom anderen erhält, was er benötigt. Wer über besondere 'Talente' verfügt, soll sie zum Vorteil derer anwenden, die ihrer bedürfen. Die Unterschiede ermutigen und verpflichten die Menschen oft zu Großmut, Wohlwollen und zum Teilen« (Katechismus, 1934; 1936-1937).
Ein Grenzstein zum Ablegen von Lasten
Bei allen Tätigkeiten achtete Schwester Rosalie darauf, sich nicht zu beeilen. Sie hatte es sich angewöhnt, stets der Gegenwart Gottes zu gedenken. Wenn sie losging, um Arme zu besuchen, sagte sie zu ihrer Begleiterin: Beginnen wir mit unserer Anbetung!« Unterwegs hielt sie sowohl Einkehr als auch Zwiesprache mit Gott. Auch schlaflose Nächte schenkten ihr Zeit, nach Herzenslust zu beten. Überzeugt, sie sei nur ein recht erbärmliches, armes Geschöpf, schöpfte sie aus dem Gefühl ihrer Schwäche die begründete Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes. Oft wurde Schwester Rosalie von Krankheiten heimgesucht; am Ende ihres Lebens erblindete sie. Unter diesem Schicksalsschlag litt sie grausam. Als ihr eine junge Schwester berichtete, ein heiliger Priester betrachtete ihre Blindheit als eine große Gnade und als einen Beweis der göttlichen Barmherzigkeit, antwortete sie offen, Gott hätte ihr seine Güte auch anders zeigen können! Sie ließ sich von dieser Prüfung jedoch nicht entmutigen. Ich habe meine Armen so gerne angesehen«, erklärte sie. Gott straft mich, wenn er mir ihren Anblick nimmt. Er wollte wohl einen Halt zwischen meinem Leben und meinem Tod einlegen, damit ich Zeit habe, mich darauf vorzubereiten.« Da sie allerdings Angst vor dem Tod hatte, bat sie oft darum, man möge ihr etwas über das Gottvertrauen vorlesen. In der Nacht zum 4. Februar 1856 bekam sie eine Lungenentzündung. Am 6. spendete ihr ein Priester die Letzte Ölung, und am 7. ging Schwester Rosalie still in die ewige Ruhe ein.
Diese mit herausragenden intellektuellen und organisatorischen Fähigkeiten begabte Tochter der christlichen Liebe hat ein sehr einfaches Leben geführt, das dem Versuch geweiht war, die alltäglichen Handlungen des Lebens bestmöglich zu erledigen. Bei ihrer Seligsprechung am 9. November 2003 sagte der Papst: In einer durch soziale Konflikte getrübten Zeit hat sich Rosalie Rendu freudig dem Dienst der Ärmsten verschrieben, um jedem einzelnen seine Würde wiederzugeben ... Ihre Nächstenliebe war erfinderisch. Woher schöpfte sie die Kraft, so viele Dinge zu verwirklichen? Aus ihrem intensiven Gebetsleben und dem ununterbrochenen Beten des Rosenkranzes, der sie nie verließ. Ihr Geheimnis war einfach: In jedem Menschen das Antlitz Christi sehen.«
Bitten wir die selige Schwester Rosalie, sie möge uns in unserem Gebet leiten und uns lehren, die Barmherzigkeit Gottes bei allen Nöten zu bezeugen, die die Vorsehung auf unseren Weg legt.