Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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22. Juli 2004
Hl. Maria Magdalena


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Während der Revolution von 1848 führte ein Offizier seine Soldaten in Paris beim Sturm auf eine Barrikade an, doch, von seinem eigenen Eifer fortgerissen, stand er auf der anderen Seite plötzlich allein da. Er stürzte in ein Haus der Schwestern der christlichen Liebe, dessen Tür offen stand. Die Aufständischen jagten hinter ihm her. Da trat ihnen die Oberin, Schwester Rosalie, unerschrocken in den Weg: „Bei uns wird nicht getötet!« - „Geben Sie ihn uns, wir werden ihn auf die Straße führen.« Sämtliche Schwestern liefen herbei und scharten sich um ihre Mutter, doch die Horde schrie und drohte weiter. Über eine Stunde lang rangen Nächstenliebe und Rachsucht um das Leben dieses Menschen miteinander. Die Gewehrläufe zielten bereits auf das Opfer. Da warf sich Schwester Rosalie auf die Knie: „Ich habe euch fünfzig Jahre meines Lebens geweiht; für alles, was ich für euch, eure Frauen und Kinder habe tun können, schenkt mir das Leben dieses Mannes!« Die Truppe ließ die Waffen sinken, wich zurück und wandte sich schließlich zum Gehen. Der Offizier war gerettet; er fragte: „Wer sind Sie denn, gnädige Frau?« - „Oh! Niemand. Eine Tochter der christlichen Liebe.«

Jeanne-Marie Rendu, die künftige Schwester Rosalie, wurde am 9. September 1786 in Confort, einem Dorf im französischen Jura, geboren. Ihre Familie erfreute sich eines gewissen Wohlstands, doch der Vater starb, bevor Jeanne-Marie zehn Jahre alt wurde. 1789 brach die Französische Revolution aus. Die Nachrichten über die Ereignisse drangen bis in die entlegensten Dörfer vor. Als glühende Christin nahm Frau Rendu bereitwillig Flüchtlinge bei sich auf, die wegen ihrer Glaubenstreue fliehen und auf dem Wege in die Schweiz die Gegend durchqueren mussten. Obwohl das Gesetz die papsttreuen Priester und alle, die ihnen zur Flucht verhalfen oder sie versteckten, mit dem Tode bestrafte, öffnete Jeanne-Maries Mutter ihnen ihr Haus. Im Dorf wussten alle Bescheid, doch das Geheimnis blieb gewahrt.

Die heilige Bescheidenheit zum Schleier

Der Pfarrer der Gemeinde zog als Hirte verkleidet durch die Gegend, um sein Amt im Verborgenen auszuüben. Er unterwies Jeanne-Marie im Katechismus. Eines Nachts ließ er sie in der Tiefe eines Kellers zur Erstkommunion zu. Jeanne-Marie war ein anmutiges, lebhaftes und übermütiges Mädchen, stets in Bewegung, mit einem geistreichen Blick sowie einem feinen, schelmischen, launischen und eigensinnigen Gesichtsausdruck. Nach und nach legte sich der Sturm der Revolution. Jeanne-Marie kam auf die Schule der Ursulinen in Gex; sie wollte sich Gott weihen und fühlte sich zur Armenpflege hingezogen. Ein Besuch im Krankenhaus von Gex bestärkte sie in ihrem Wunsch. Sie erhielt die Erlaubnis, einige Zeit im Krankenhaus zubringen zu dürfen und eine Lehre in Krankenpflege zu machen.

In diesem Krankenhaus freundete sich Jeanne-Marie mit einer etwa dreißigjährigen Frau namens Fräulein Jacquinot an, die ihr ihren Plan anvertraute, sich in Paris der Gemeinschaft der Töchter des heiligen Vinzenz von Paul anzuschließen. Jeanne-Marie bat ihre Mutter um Erlaubnis, mit ihr gehen zu dürfen. Frau Rendu stimmte schließlich zu, denn sie war überzeugt, die Zeit würde die Illusionen zerstreuen und ihr die Tochter zurückbringen. Am Tag der Abfahrt litt Jeanne-Marie zwar darunter, die Ihren zu verlassen, doch sie war sich sicher, Gottes Willen zu gehorchen. Ende Mai 1802 begab sie sich direkt nach ihrer Ankunft in Paris zum Noviziat der Töchter der christlichen Liebe (Vinzenterinnen); dort traf sie Pfarrer Émery wieder, den mit ihrer Familie befreundeten Direktor des Seminars von Saint-Sulpice. Der berühmte Geistliche mochte die junge Frau gern und bestärkte sie in ihrer Berufung. Er besuchte sie in der Folge recht oft und erzählte ihr von seinen eigenen Angelegenheiten.

Von zarter Konstitution und großer Empfindlichkeit, litt Jeanne-Marie sehr während der ersten Zeit ihres Noviziats. Nach einigen Monaten vertrug sie das abgeschottete Leben der Novizinnen nicht mehr und wurde krank. Sie wurde in ein anderes Haus der Kongregation in Paris versetzt. Gleich nach ihrer Ankunft in der neuen Umgebung genas Jeanne-Marie wieder und war nun in vollem Umfang einsatzfähig. Sie schloss ihr Noviziat zur vollen Zufriedenheit aller Schwestern ab; diese baten die Generaloberin, sie bei ihnen zu belassen. Jeanne-Marie war nun Schwester Rosalie geworden und setzte sich voll im Dienste der Armen ein, ganz im Geiste des heiligen Vinzenz von Paul, der geschrieben hatte: „Die Töchter der christlichen Liebe werden das Krankenhaus zum Kloster haben, ein gemietetes Zimmer zur Zelle, die Pfarrkirche zur Kapelle, die Stadtmauern und die Krankensäle zum Kreuzgang, die Gottesfurcht zu Gittern und die heilige Bescheidenheit zum Schleier.«

Die Vorstadt, in der Schwester Rosalie tätig war, gehörte damals zu den ärmsten in Paris. Die Häuser waren baufällig und feucht, die Straßen eng, verdreckt und von Rinnsalen voller Unrat durchzogen. Ganze Familien lebten zusammengepfercht in Scheunen, die nur über eine Leiter zugänglich waren, oder in immer dunklen Kellerräumen. Das Viertel war ein Seuchen- und Rebellionsherd. Im Alter von 28 Jahren zur Oberin des Hauses ernannt - das zwei Jahre später in die Rue de l'Épée-de-Bois 5 (im Mouffetard-Viertel, dem heutigen 5. Arrondissement) verlegt wurde -, führte Schwester Rosalie einen beherzten Feldzug gegen Elend und Laster. Bei den Schwestern wurden eine Apotheke, eine Kleiderstube und eine kostenlose Schule eingerichtet. Intelligent und äußerst aufmerksam für die Bedürfnisse eines jeden, arbeitete Schwester Rosalie überaus harmonisch mit dem von der napoleonischen Regierung eingesetzten Wohlfahrtsbüro zusammen: Sie lieferte dem Büro genaue Akten und erhielt im Gegenzug Kohle- und Nahrungsmittelkarten.

Sie sind mehr wert, als es scheint

Von Schwester Rosalies Mitgefühl und Geduld gerührt, wandten sich die Armen immer häufiger an sie. Welcher Art ihre vorgetragene Not auch war, sie war ihnen behilflich und konnte ihre Seelen für die übernatürlichen Realitäten, das Gebet und den Empfang der Sakramente aufgeschlossener machen. Sie war aufrichtig und sagte jedermann die ihn betreffenden Wahrheiten, selbst wenn sie nur schwer zu schlucken waren. Doch in ihrer Strenge lag so viel Zuneigung, dass selbst die Schuldigsten sich davon angesprochen fühlten und versprachen, sich zu bessern. Unter den von ihr betreuten Bedürftigen war die Trunksucht weit verbreitet, und die ihr Verfallenen waren nicht immer freundlich zu den Schwestern. Als eine Schwester ihr von einem völlig maßlosen Zornausbruch berichtete, erwiderte Schwester Rosalie: „Meine arme Schwester, wer Hunger hat, der hat doch wohl etwas anderes im Kopf als die Befolgung der Höflichkeitsregeln; man darf sich nicht über ein harsch gesprochenes Wort aufregen und auch nicht an die rauhe äußere Schale glauben. Diese armen Leute sind mehr wert, als es scheint.«

Auch sie bekam mitunter Flüche als Antwort auf ihre Fürsorge zu hören. Manchmal passierte es ihr, dass sie ungeduldig wurde, auf eine aufdringliche Forderung hitzig reagierte, doch dann war sie darüber so betrübt, dass sie es auf der Stelle wieder gutmachen musste, indem sie den geforderten Beistand verdoppelte. Doch für gewöhnlich legte sie großes Zartgefühl den Armen gegenüber an den Tag, denn sie ahnte, dass sie für die Art, wie man ihnen zu Hilfe kam, noch empfänglicher waren als für die Hilfe selbst. „Eines der besten Mittel, einem Armen Gutes zu tun«, behauptete sie, „besteht darin, ihm Respekt und Hochachtung zu erweisen. Selbst wenn man ihm einen schweren Vorwurf machen muss, sollte man jedes beleidigende und verächtliche Wort aufs Sorgsamste vermeiden.« Das Herz des Armen ist empfindlich, naiv, stolz und zugleich bereit, seine Liebe dem zu schenken, der ihn versteht. Schwester Rosalie vertraute auf das Gebet der Armen und legte ihnen den Erfolg ihrer Unternehmungen ans Herz.

In den eisigen Elendsquartieren gab es viele Kranke. Schwester Rosalie ging ohne Berührungsängste zu diesen Unglücklichen in ihren übelriechenden Lumpen, untersuchte ihre Wunden, pflegte sie und leistete auch seelischen Beistand. Manchmal stieß sie auf verzweifelte Sterbende, die sie auf den Tod vorbereitete. Jeden Morgen holte sie sich neue Kraft in der Eucharistie und in der Besinnung und schöpfte ihre Barmherzigkeit aus der höchsten und reinsten Quelle: dem Heiligen Herzen Jesu. Diese Barmherzigkeit war himmlisch und menschlich zugleich: Schwester Rosalie liebte die Armen als leidende Glieder des Heilands, aber auch so, wie eine Mutter ihr Kind liebt, mit ihrem Herzblut, mit ihrem Gefühl und ihren Tränen. Obwohl sie mit allen Schmerzen vertraut war, verhärtete sich ihr Herz in keiner Weise, sie blieb bis an ihr Lebensende ebenso empfänglich für den Anblick von Leid wie am ersten Tag.

Lasst sie passieren!

Während der Revolution von 1830 wurden von den Aufständischen Barrikaden errichtet. Schwester Rosalie lief durch die Straßen und verhandelte mit den Rebellen. Eine verbreitete Losung lautete: „Lasst Schwester Rosalie passieren!« Sie ließ in ihrem Hause all diejenigen aufnehmen, die von der Menge gejagt wurden: Priester, Nonnen und Soldaten. Einem benachbarten, von Ordensschwestern betriebenen Waisenhaus wurde gedroht, es würde niedergebrannt. Auf Intervention von Schwester Rosalie hin wurden die Männer, die das Haus bedrohten, plötzlich dessen Verteidiger; ihr Anführer gab sogar den Befehl aus: „Und vor allem, keinen Lärm! Lasst die kleinen Mädchen und ihre Betreuerinnen weiterschlafen!« Nach Beendigung des Bürgerkrieges brach in Paris die Cholera aus. Der Seuche fielen täglich mehrere hundert Leute zum Opfer. Schwester Rosalie reagierte zunächst mit Entsetzen, doch bald gewann sie ihre Fassung wieder und organisierte die Hilfsleistungen aufs Beste, wobei sie weder Zeit noch Mühe scheute.

Zwei Freunde, die von einem ungläubigen Kameraden mit dem Vorwurf geärgert wurden, das soziale Wirken der Katholiken des 19. Jahrhunderts sei nicht der Rede wert, standen 1833 vor der Frage: „Was muss man denn machen, um wahrhaft katholisch zu sein? Sprechen wir nicht länger von christlicher Liebe, üben wir sie.« Noch am selben Abend brachten sie das Holz, das ihnen für den Rest des Winters geblieben war, zu einem Armen. Die Freunde hießen Ozanam und Le Tallandier. Einer ihrer Professoren verwies sie an Schwester Rosalie. Diese lehrte die jungen Männer, „in den Armen unseren Herrn Jesus Christus zu sehen und auf ihrer Stirn die Spuren seiner Dornenkrone.« Sie nannte ihnen Familien, die besucht werden mussten, und gab ihnen Hinweise für den richtigen Umgang mit armen Leuten. Die „Konferenzen des heiligen Vinzenz von Paul« waren geboren. „Die Frage, die die Menschen unserer Tage entzweit«, schrieb Ozanam am 24. Februar 1836, „ist die Frage danach, wer obsiegen wird, der Geist des Egoismus oder der Opfergeist; ob die Gesellschaft nur eine große Ausbeutung zugunsten der Starken wird oder die Hingabe eines Jeden zum Wohle Aller, vor allem aber zum Schutz der Schwachen.« Aus den zu Beginn des Werkes sieben Mitbrüdern waren zwölf Jahre später neuntausend geworden.

Doch Schwester Rosalie baute trotz zahlreicher Schwierigkeiten auch ihre eigenen Wohltätigkeitseinrichtungen weiter aus. 1844 gründete sie eine Krippe zur Betreuung der Kleinsten. Dieser Vorstoß brachte ihr viel Widerspruch ein: Man warf ihr vor, sie würde den Müttern die Kinder wegnehmen. Nichtsdestotrotz wurde die Krippe zu einem großen Erfolg: Die Kinder dort waren sauber, gepflegt und luftiger untergebracht als in den Elendsbehausungen ihrer Familien. Die Mütter, die als Arbeiterinnen bzw. fliegende Händlerinnen das Haus verlassen mussten, waren hinsichtlich des Wohlergehens ihrer Kleinen beruhigt. Die Krippe wurde von Schwester Rosalie bald durch Schulen ergänzt. „In Schwester Rosalies Schulen«, schrieb ein Zeuge, „stieß man bei den Schülern überraschenderweise auf eine Bescheidenheit, eine Zurückhaltung, auf anständige und höfliche Manieren, die den höchsten Kreisen zur Ehre gereicht hätten.«

Sich auf den großen Übergang vorbereiten

Für Lehrmädchen gründete Schwester Rosalie das Werk der Sonntagspatronate, und für diejenigen, die im Berufsleben standen, die Vereinigung Unserer Lieben Frau vom guten Rat, wo der Besuch bei Armen an die Stelle der sonntäglichen Zusammenkünfte trat. Schwester Rosalies Fürsorge galt auch den Älteren. Da nicht alle in den Hospizen unterkommen konnten, eröffnete sie ein Heim für sie. So war für einen Lebensabschnitt zwischen ihrem oft bewegten Leben und dem Tod gesorgt, in dem sie sich auf den großen Übergang in die Ewigkeit vorbereiten konnten; die, die am schlechtesten gelebt hatten, wogen das durch ein erbauliches Ende auf.

1848 brach eine weitere Revolution aus. Vom 24. bis zum 26. Juni erreichte der Bürgerkrieg seinen Höhepunkt. Der Erzbischof von Paris, Affre, der versucht hatte, zwischen Armee und Aufständischen zu vermitteln, wurde auf einer Barrikade getötet. Schwester Rosalie stürzte sich unter Lebensgefahr ins Getümmel, um die Kämpfenden zu beruhigen. „Gehen Sie weg, Schwester«, rief man ihr zu. „Sie werden noch getötet!« - „Glauben Sie, ich möchte noch leben, wenn man meine Kinder ermordet? Stellen Sie sofort das Feuer ein; habe ich nicht so schon genug Witwen und Waisen zu ernähren?« Nach diesen blutigen Tagen kam der von der Regierung mit der Wiederherstellung der Ordnung betraute General Cavaignac bei der Schwester vorbei und beglückwünschte sie zu ihrem Mut. Stets überaus bescheiden, fiel dieser plötzlich ein fünfjähriges Mädchen ein, dessen Vater, ein armer, braver Arbeiter, der vom Aufruhr mitgerissen worden war, erschossen werden sollte. Sie rief das Kind herbei und sagte: „Hier ist ein Herr, der dir deinen Papa wiedergeben kann. Du musst ihn nur darum bitten.« Am ganzen Körper zitternd bat das Kind auf Knien um Gnade für seinen Vater. Der General zögerte. „Geben Sie ihn mir wieder«, flehte das kleine Mädchen, „und ich werde Sie so sehr lieben, gnädiger Herr!« Überwältigt gewährte der Offizier die Begnadigung.

Das Empfangszimmer eines Ministers?

Schwester Rosalie war so berühmt, dass sie zahlreiche Besucher anzog. Ihr „Salon«, ein armseliges kleines Sprechzimmer mit düsteren Wänden, war besser besucht als das Empfangszimmer eines Ministers. Die Schwester empfing dort mitunter bis zu fünfhundert Personen an einem einzigen Tag. Ein Zeuge berichtete: „Es gab nichts Bewegenderes, als manchmal den Botschafter zusammen mit dem verlegenen Armen eintreten zu sehen, den einfachen Arbeiter zusammen mit dem Kardinal, die Lumpensammlerin mit dem Feldmarschall; alle wurden mit derselben Güte empfangen, denn alle waren gekommen, um ihre geheimen Sorgen im Herzen von Schwester Rosalie abzuladen, um sich zu edleren Gedanken aufzuschwingen und um Mut zu schöpfen, damit sie die Bürde des Lebens weitertragen konnten!« Als eines Tages ein Mann Stunden benötigte, um ihr seine Nöte darzulegen, erwiderte Schwester Rosalie den darüber empörten Schwestern: „Möchtet ihr nicht getröstet werden, wenn ihr unglücklich seid? Nicht dass ich ihn getröstet hätte; aber ich habe mir die Schilderung seines Unglücks angehört, und das ist viel für den, der betrübt ist.«

Ihr Feingefühl den verschämten Armen gegenüber war bemerkenswert. Eines Tages bemerkte sie einen von ihnen in der Schar der Besucher und sagte zu ihm: „Ich habe hier ein Paket für jemanden, der in Ihrer Nähe wohnt. Könnten Sie mir den Gefallen tun und es bei ihm vorbeibringen?« Der Mann lief sofort los; erst auf der Straße warf er einen Blick auf den Namen und die Adresse: Es waren seine eigenen. Wenn man Schwester Rosalie vorhielt, sie würde sich von ihren Bittstellern ausnutzen lassen, antwortete sie: „Wenn wir ihre Heimsuchungen durchgemacht hätten, wären wir vielleicht schlimmer als sie. Ihre bösen Neigungen sind vor allem aus der Not geboren.«

Während der abendlichen Freizeit widmeten sich die Schwestern dem umfangreichen Briefwechsel Schwester Rosalies. Erst wenn das ganze Haus schlief, griff diese selbst zur Feder und schrieb in ihrer geneigten Handschrift an ihre zahlreichen Freunde: Bischöfe, Obere von religiösen Orden, Generäle, Anwälte, Direktoren von Unternehmen und Eisenbahnen. Sie machte die christliche Liebe für alle erreichbar, indem sie jeden nur um einige Minuten zur Verteilung von Hilfsgütern bat. Diese Wohltäter aller Art lernten dabei von den Armen, wie man Unglück ertrug, und sahen sich mit dem Geheimnis konfrontiert, welches Gott in der ungleichen Verteilung von Leid und menschlichen Lebensbedingungen verborgen hatte. „Weil alle Menschen nach dem Bilde des einzigen Gottes geschaffen und mit der gleichen vernunftbegabten Seele ausgestattet sind, haben sie die gleiche Natur und den gleichen Ursprung«, lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche. „Da sie durch das Opfer Christi erlöst wurden, sind alle berufen, an der gleichen göttlichen Seligkeit teilzuhaben. Alle Menschen erfreuen sich somit der gleichen Würde.« Unter den Menschen treten allerdings „Unterschiede zutage, die mit dem Alter, den körperlichen Fähigkeiten, den geistigen und sittlichen Anlagen, den im Umgang mit anderen gewonnenen Vorteilen oder mit der Verteilung der Reichtümer zusammenhängen ... Diese Unterschiede entsprechen dem Plane Gottes. Gott will, dass jeder Mensch vom anderen erhält, was er benötigt. Wer über besondere 'Talente' verfügt, soll sie zum Vorteil derer anwenden, die ihrer bedürfen. Die Unterschiede ermutigen und verpflichten die Menschen oft zu Großmut, Wohlwollen und zum Teilen« (Katechismus, 1934; 1936-1937).

Ein Grenzstein zum Ablegen von Lasten

Die intensive Tätigkeit Schwester Rosalies hinderte sie weder daran, oft an ihre alte Mutter zu schreiben, noch daran, sich um ihre Nonnen zu kümmern. Sie förderte ihre Tugenden, insbesondere die Liebe zu den Armen. „Eine Tochter der christlichen Liebe«, sagte sie wiederholt, „ist wie ein Grenzstein, auf dem alle, die ermüdet sind, ihre Last ablegen dürfen.« Zwar wurde die kleinste Nachlässigkeit von ihr sogleich getadelt, doch mit einer Milde, die alles erreichte. Wurde eine ihrer Töchter krank, zeigte sich Schwester Rosalie sehr besorgt; starb eine, war sie menschlich untröstlich. „Sie war mit einer sehr lebhaften Natur auf die Welt gekommen«, berichtete eine der Schwestern. „Sie konnte sich über die geringste Unannehmlichkeit ereifern, brauste vor dem kleinsten Hindernis auf und neigte zur Übertreibung; ein unangenehmes Wort, eine unfreundliche Geste genügten bereits, um sie aus der Fassung zu bringen. Doch als der Hauch der Gnade über diesen Vulkan hinwegstrich, weckte er ihre Kraft und gab ihrem Ungestüm andere Ziele.«

Bei allen Tätigkeiten achtete Schwester Rosalie darauf, sich nicht zu beeilen. Sie hatte es sich angewöhnt, stets der Gegenwart Gottes zu gedenken. Wenn sie losging, um Arme zu besuchen, sagte sie zu ihrer Begleiterin: „Beginnen wir mit unserer Anbetung!« Unterwegs hielt sie sowohl Einkehr als auch Zwiesprache mit Gott. Auch schlaflose Nächte schenkten ihr Zeit, nach Herzenslust zu beten. Überzeugt, sie sei nur ein recht erbärmliches, armes Geschöpf, schöpfte sie aus dem Gefühl ihrer Schwäche die begründete Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes. Oft wurde Schwester Rosalie von Krankheiten heimgesucht; am Ende ihres Lebens erblindete sie. Unter diesem Schicksalsschlag litt sie grausam. Als ihr eine junge Schwester berichtete, ein heiliger Priester betrachtete ihre Blindheit als eine große Gnade und als einen Beweis der göttlichen Barmherzigkeit, antwortete sie offen, Gott hätte ihr seine Güte auch anders zeigen können! Sie ließ sich von dieser Prüfung jedoch nicht entmutigen. „Ich habe meine Armen so gerne angesehen«, erklärte sie. „Gott straft mich, wenn er mir ihren Anblick nimmt. Er wollte wohl einen Halt zwischen meinem Leben und meinem Tod einlegen, damit ich Zeit habe, mich darauf vorzubereiten.« Da sie allerdings Angst vor dem Tod hatte, bat sie oft darum, man möge ihr etwas über das Gottvertrauen vorlesen. In der Nacht zum 4. Februar 1856 bekam sie eine Lungenentzündung. Am 6. spendete ihr ein Priester die Letzte Ölung, und am 7. ging Schwester Rosalie still in die ewige Ruhe ein.

Diese mit herausragenden intellektuellen und organisatorischen Fähigkeiten begabte Tochter der christlichen Liebe hat ein sehr einfaches Leben geführt, das dem Versuch geweiht war, die alltäglichen Handlungen des Lebens bestmöglich zu erledigen. Bei ihrer Seligsprechung am 9. November 2003 sagte der Papst: „In einer durch soziale Konflikte getrübten Zeit hat sich Rosalie Rendu freudig dem Dienst der Ärmsten verschrieben, um jedem einzelnen seine Würde wiederzugeben ... Ihre Nächstenliebe war erfinderisch. Woher schöpfte sie die Kraft, so viele Dinge zu verwirklichen? Aus ihrem intensiven Gebetsleben und dem ununterbrochenen Beten des Rosenkranzes, der sie nie verließ. Ihr Geheimnis war einfach: In jedem Menschen das Antlitz Christi sehen.«

Bitten wir die selige Schwester Rosalie, sie möge uns in unserem Gebet leiten und uns lehren, die Barmherzigkeit Gottes bei allen Nöten zu bezeugen, die die Vorsehung auf unseren Weg legt.

Dom Antoine Marie osb

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