Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


Herunterladen als pdf
[Cette lettre en français]
[This letter in English]
[Deze brief in het Nederlands]
[Esta carta en español]
[Questa lettera in italiano]
19. Juni 2020
Herz-Jesu-Fest


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Am 6. März 1998 entfernte der Schweizer Landwirt Norbert Baudois in Begleitung von vier seiner Enkelkinder die Schneeabsperrungen, die er auf seinem Familienanwesen errichtet hatte. Die 22-Monate-alte Virginie und ihre ältere, 8-jährige Schwester saßen auf dem Traktor, als die Kleine hinunterfiel. Der Großvater konnte nicht rechtzeitig bremsen: Das Rad überrollte Virginie ihrer ganzen Länge nach, auch ihren Kopf. Baudois hob ihren leblosen Körper auf … Aber einige Sekunden später begann die Kleine, in seinen Armen zu weinen. Der Grossvater dachte gleich an Marguerite Bays und dankte ihr laut. „Sie hätte zerquetscht und tot sein müssen. Es konnte nur ein Wunder geschehen sein“, sagte er mit Tränen in den Augen. Er und seine Frau Yvonne pflegten jeden Abend um Schutz für ihre Enkel zu der Seligen zu beten, die 3 Jahre zuvor von Johannes-Paul II. zur Ehre der Altäre erhoben worden war; sie taten das seit dem Tag, an dem sie ein Bild von Marguerite Bays gesehen hatten, „wo sie von vielen Kindern umgeben“ war. Virginie wurde im Krankenhaus gründlich untersucht: Es waren weder innere Verletzungen noch Knochenbrüche festzustellen, nur einige blaue Flecken, die vom Sturz herrührten. Das war umso unbegreiflicher, als an den Kleidern der Kleinen ganz klar die Radspuren des Traktors zu sehen waren. Aufgrund dieses von der Kirche anerkannten Wunders wurde Marguerite Bays am 13. Oktober 2019 im Beisein der durch das Wunder geheilten Virginie heiliggesprochen.

Marguerite (Margarete) wurde am 8. September 1815 im Dörfchen La Pierraz (Kanton Freiburg) in der französischen Schweiz geboren. Sie war das zweite der sieben Kinder des armen Bauernehepaars Antoine und Joséphine Bays und wurde einen Tag nach ihrer Geburt in der Pfarrkirche von Siviriez getauft. Von klein auf ging Marguerite ihren Eltern im Haushalt und bei der Gartenarbeit zur Hand. 1823 empfing sie die Erstkommunion, 1826 das Sakrament der Firmung. Sie lernte in der Dorfschule lesen und schreiben. Obwohl lebhaften und sonnigen Gemüts, fühlte sie sich zum Gebet und zur Einsamkeit hingezogen; ihre Familie dachte, dass sie ins Kloster gehen würde. Sie selbst fühlte sich jedoch vorerst nicht dazu berufen. Zwar weihte sie ihre Jungfräulichkeit Gott, arbeitete jedoch weiterhin als Näherin in dem elterlichen Holzhaus, das Menschen und Vieh zusammen beherbergte.

Marguerite stand morgens vor 3 Uhr auf. Bald begann in ihrem Zimmer das Spinnrad fleißig zu schnurren, bis sie zur Messe in die 1,5 km entfernten Kirche von Siviriez aufbrach. Anschließend arbeitete sie bei verschiedenen Familien als Hilfskraft zur Unterstützung der Mütter. Sie wurde häufig gebeten, bei Kranken und Sterbenden zu wachen, die sie sorgfältig auf die Begegnung mit dem Herrn vorzubereiten wusste. Eine besondere Verehrung brachte sie dem Heiligsten Herzen Jesu entgegen, dem perfekten Sinnbild für die Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Sündern. In ihrem von Kirchenfeindlichkeit geprägten Jahrhundert betete sie eifrig für die verfolgte Kirche, insbesondere für Papst Pius IX., der 1870 seiner weltlichen Souveränität beraubt und in seiner Freiheit bedroht wurde. Über Marguerites Bett hing ein Bild mit der Darstellung der kämpfenden Kirche unter der Leitung des Nachfolgers Petri sowie unter dem Schutz Mariens.

Schwierige Familienverhältnisse

Marguerite trat im Alter von 20 Jahren dem Dritten Orden des hl. Franziskus bei. Durch gute geistliche Bücher angeleitet, die sie von den Kapuzinern von Fribourg erhielt, gewöhnte sie sich an, täglich über die Evangelien sowie die entsprechenden Kommentare zu meditieren. Sie blieb mit dreien ihrer Brüder zu Hause und kümmerte sich um den Haushalt, wobei sie allerdings von ihrer Schwägerin Josette, einer strengen und taktlosen Frau, oft gedemütigt und als Müßiggängerin beschimpft wurde. Marguerite trug es ihr nicht nach: Als Josette vorzeitig schwer erkrankte, pflegte sie sie und bereitete sie auf den Tod vor, da sie die einzige Person war, die die Kranke an sich heranließ. Die Familie hatte noch weitere harte Prüfungen zu bestehen: Marie-Marguerites Schwester verließ ihren Mann und kehrte nach Hause zurück; ihr unverheirater Bruder Joseph, ein Mann von aufbrausendem Charakter und losen Sitten, musste eine – wenn auch kurze – Gefängnisstrafe verbüßen; ihr ältester Bruder, Claude, zeugte ein uneheliches Kind, den kleinen François. Marguerite drängte darauf, dass er das Kind offiziell anerkennt, und bot ihm an, den Jungen zu großzuziehen. Lediglich ein einziger Bruder, Jean, hatte Verständnis für die spirituellen Bedürfnisse und das mystische Leben seiner Schwester. Marguerite vermied es, das verwerfliche Handeln ihrer Geschwister zu verurteilen, denn sie wusste: „Wenn wir auch beurteilen können, dass eine Handlung in sich ein schweres Vergehen darstellt, müssen wir das Urteil über die Menschen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes überlassen“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1861). Eingedenk des Jesus-Wortes „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Umkehr (Lk 5,32)“, wollte sie ihre Geschwister durch das Zeugnis eines heiligen Lebens und ihre geduldige Nächstenliebe für Christus gewinnen; und tatsächlich beendeten alle ihr Leben als gute Christen.

Marguerites Weihnacht

Marguerite Bays war aktives Mitglied der Rosenkranz- sowie der Sakramentsbruderschaft. Auf ihren Vorschlag hin gründete ihr Pfarrer eine Bewegung zur Unterstützung katholischer Missions-werke; sie selbst etablierte in ihrer Pfarrgemeinde das von der seligen Pauline Jaricot in Lyon gegründete Kindermissionswerk zur materiellen und spirituellen Unterstützung armer Kinder in fernen Ländern. Sie zeigte sich Kindern gegenüber sehr zugewandt, auch wenn sie laut und lärmend waren, und diese wussten das zu würdigen. „Marguerite war nie ärgerlich, wenn sie mit uns sprach, sie lachte gern und war immer gut gelaunt“, bezeugte einer ihrer Schützlinge. Zu Weihnachten baute Marguerite zur Freude der Kinder der Umgebung immer eine Krippe auf und präsentierte ihre aus der Abtei La Fille-Dieu stammenden Figuren kunstvoll in einer aus Moos und Zweigen hergestellten Szenerie. Sie bat alle, die zu ihr kamen, um „Marguerites Weihnacht“ zu sehen, ein Rosenkranzgesätz, gefolgt von einem Gedenke, gütige Jungfrau, dem Gebet des hl. Bernhard, mit ihr zu beten. Sie ermunterte ihre Mitmenschen, in ihren Häusern ebenfalls Krippen aufzustellen, was damals noch nicht üblich war. Sonntagnachmittags führte sie die Dorfkinder zum nahegelegenen Heiligtum Notre-Dame du Bois, einer einsamen, von Stille umgebenen Kapelle. Zunächst betete und sang sie mit ihnen; danach folgte stets ein gemeinsames Spiel im Wald. Im Mai pflegte sie den kleinen Altar in ihrem Haus mit Blumen zu schmücken: Als Mitglied des Dritten Ordens der Franziskaner wusste sie, dass uns die Schönheit der Schöpfung den Weg zu Gott weist.

Marguerite Bays nahm sich besonders der Armen und Kranken an, versorgte sie bei ihren Hausbesuchen mit neuen Kleidern und Lebensmitteln und half ihnen durch geistliche Gespräche, sich dem Herrn zu nähern. Bedürftige schieden nie mit leeren Händen von ihr. Im Gedenken an den Herrn, der um euretwillen arm wurde, da er reich war, damit ihr durch seine Armut reich würdet (2 Kor 8,9) versuchte sie ihm in seiner Demut und seiner Armut zu folgen und sich mit dem strikt Lebensnotwendigen zu begnügen.

„Blicken Sie nach vorne!“

Spirituell fühlte sich Marguerite mit einem jungen Priester aus Fribourg verbunden, dem Kanoniker Joseph Schorderet, der seine Berufung während eines Besuchs in der Kapelle Notre-Dame du Bois empfangen hatte. Schorderet engagierte sich in der Evangelisierungsarbeit und gründete 1873 die Ordenskongregation der Paulusschwestern, deren Apostolat in der Veröffentlichung katholischer Zeitschriften und Bücher bestand. Der Fribourger Bischof Marilley stand der Initiative anfänglich skeptisch gegenüber, da er Zeitungen misstraute und bischöfliche Hirtenbriefe lieber traditionell während der Sonntagsmesse von der Kanzel verlesen ließ. Doch dieses Mittel erreichte nur die regelmäßigen Kirchgänger, nicht aber die Leser kirchenfeindlicher Zeitungen. Marguerite ermutigte Joseph Schorderet daher zur Fortsetzung seiner Aktion: „Fürchten Sie nichts, blicken Sie nach vorne, dieses Werk wird bei uns viel Gutes bewirken und von Gott besonders gesegnet sein, da es seinem Willen entspricht.“ Der Priester reiste daraufhin nach Rom, wo Papst Pius IX. bei einer Audienz sein Projekt segnete. Bischof Marilley war verärgert und demütigte Marguerite anlässlich einer Pastoralvisite öffentlich, indem er unter Anspielung auf die große Anzahl ihrer Besucher Zweifel an der Reinheit ihrer Absichten durchblicken ließ; Marguerite fühlte sich tief gekränkt. Bischof Marilley erkannte erst später, wie heilig diese demütige Frau in Wirklichkeit war.

Marguerite suchte oft die 6 km von ihrem Haus entfernte Zisterzienserinnenabtei Fille-Dieu zu Fuß auf. Ihre Patentochter, Alphonsine Menétrey, war 1865 in das Kloster eingetreten; Marguerite hatte bei Alphonsines Taufe gelobt, jeden Tag dafür zu beten, dass ihre Patentochter dereinst zur Nachfolge Christi im Ordensleben berufen werde. Sie hat das dem jungen Mädchen nie verraten, doch an dem Tag, an dem Alphonsine ihr ihre Entscheidung, ins Kloster zu gehen, mitteilte, rief sie laut: „Endlich halte ich dich fest, Patentochter!“ Alphonsine wurde unter dem Namen Schwester Ludgarde Novizin; eines Tages vertraute sie ihrer Patentante an, wie schmerzhaft es für sie sei, dass sie das ewige Schicksal ihrer fünf Jahre zuvor ohne den Beistand der Sakramente verstorbenen Mutter nicht kenne. An einem Novembertag des Jahres 1867 erschien Marguerite an der Pforte des Klosters und bat um die Erlaubnis, die Klausur zu betreten; sie wolle mit Schwester Ludgarde im Kapitelsaal den Kreuzweg beten, da dort eine bildliche Darstellung der einzelnen Stationen vorhanden sei. Man antwortete ihr, dazu sei eine Erlaubnis des Bischofs erforderlich. Marguerite wandte sich an den Bischof und bekam ihren Wunsch genehmigt. Eines Abends, als die Schwestern bereits zu Bett gegangen waren, wurde sie in den Kapitelsaal geführt; zwei Stunden lang ging sie mit ihrer Patentochter betend die 14 Stationen des Kreuzwegs nach. Am Ende verkündete sie Schwester Ludgarde freudig, ihre Mutter sei nunmehr im Himmel. Marguerite war nämlich offenbart worden, dass Ludgardes Mutter so lange im Fegefeuer bleiben müsse, bis Ludgarde zusammen mit ihr den Kreuzweg für sie bete. Fortan durfte Marguerite mit Bischof Marilleys Erlaubnis die Schwestern auch länger besuchen und wurde von ihnen zuweilen sogar um Rat gefragt. 1883 hatte die inzwischen zur Äbtissin gewählte Mutter Ludgarde die Freude, dass ihr Kloster der Rechtshoheit des Abtes des Trappistenklosters von Oelenberg im Elsass unterstellt und somit fester im Zisterzienserorden verankert wurde … Zu dem Zeitpunkt befand sich Marguerite Bays jedoch schon im Himmel.

„Nehmen Sie Ihren Rosenkranz!“

Den Menschen, die sich mit ihren Schwierigkeiten an sie wandten, antwortete Marguerite: „Machen Sie es wie ich, nehmen Sie Ihren Rosenkranz, danach geht es besser.“ Sie selbst betete unablässig den Rosenkranz, insbesondere auf ihren Wallfahrten nach Einsiedeln. Das große Marien-Heiligtum lag 200 km von Siviriez entfernt und wurde jedes Jahr von vielen Gläubigen aus dem Kanton Fribourg im Rahmen einer dreitägigen Fußwallfahrt aufgesucht, bei der 60 bis 70 km pro Tag zurückgelegt wurden. Marguerite nahm ungeachtet ihres zarten Körperbaus elfmal an dieser Wallfahrt teil, selbst zu den Zeiten, als ihre Füße von Stigmata gezeichnet waren. An den Haltepunkten vergaß sie ihre Schmerzen und kümmerte sich um die geschundenen Füße der anderen Pilger. Vor der in Einsiedeln verehrten Schwarzen Madonna legte sie Maria alle Anliegen vor, die ihr aufgetragenen worden waren, und verbrachte die ganze Nacht im Gebet.

Marguerites außerordentliche Verehrung für Maria erklärt sich zum Teil aus einem besonderen Gunsterweis, der ihr am 8. Dezember 1854 zuteil geworden ist. An jenem Tag verkündete der selige Papst Pius IX. in Rom das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis: „Die seligste Jungfrau Maria wurde im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt“ (vgl. Katechismus, Nr. 491). Marguerite konnte nicht an den Dankesfeiern in der Kirche teilnehmen, da sie sterbenskrank im Bett lag; sie litt seit Monaten an Darmkrebs, den der Arzt für unheilbar erklärt hatte. Sie bat nun die Unbefleckte Gottesmutter, sie entweder zu heilen oder ihr sofort den Weg in den Himmel zu eröffnen. Mit einem Schlag fühlte sie sich geheilt und stand auf: Ihre Familie fand sie bei ihrer Rückkehr von der Messe zu ihrem Erstaunen freudestrahlend am Kamin vor.

Ein verunsicherter Arzt

Marguerites körperliche Gesundung war das äußere Zeichen einer inneren Wandlung, einer innigeren Verbundenheit mit Jesus Christus. Diese äußerte sich etwas später (das genaue Datum ist unbekannt) durch das Auftreten von Stigmata: An Marguerites Händen und Füßen wurden die Wundmale des Gekreuzigten sichtbar – am deutlichsten an Donnerstagabenden und Freitagen. Obwohl sie ihre Hände in fingerlosen Handschuhen versteckte, entdeckten Zeugen in einem Augenblick der Unachtsamkeit je einen kreuzförmigen roten Fleck auf ihren Handflächen und Handrücken. Ungeachtet der Tatsache, dass ihr das Gehen Schmerzen bereitete, ging sie genauso oft in die Kirche wie zuvor. An Donnerstagnachmittagen zog sie sich mit fieberglänzenden Augen und bewegter Miene in ihr Zimmer zurück; sie betete laut, beklagte, eine Sünderin zu sein, sowie Gott, der die Liebe selbst ist, nicht genügend zu lieben, und bot sich als Sühnopfer für die Sünden der ganzen Welt dar. Freitags gegen 15 Uhr fiel sie in einen Fieberschlaf, der anfangs rund 20 Minuten dauerte, aber immer länger wurde – am Ende ihres Lebens bis zu einer Stunde lang. Der Schweiß auf ihrem Gesicht ließ ihre innige Anteilnahme an der Passion des Erlösers erkennen. 1873 beauftragte der Bischof von Fribourg eine Kommission (bestehend aus einem Rechtsvertreter, einem Arzt und zwei Priestern), Marguerite während ihrer freitagnachmittäglichen Ekstasen gründlich zu untersuchen. Um jedem Verdacht der Parteilichkeit zuvorzukommen, wurde der Arzt aus den Reihen der Rationalisten ausgewählt, die dem Übernatürlichen skeptisch gegenüberstanden; er konnte lediglich feststellen, dass Marguerite auf die Nadelstiche, die man ihr versetzte, überhaupt keine Reaktion zeigte und sichtbare Stigmata – auch in der Herzgegend – aufwies. Als die Patientin eine halbe Stunde später wieder zu sich kam, versicherte sie fröhlich: „Mir geht es sehr gut“; sie stand auf, nahm ein Glas Wein und prostete den Anwesenden zu. „Was halten Sie davon?“, fragte einer von ihnen den Arzt. Dieser antwortete verunsichert: „Das ist ganz außerordentlich, man muss es zwangsläufig glauben.“

Obwohl Marguerite die Stille liebte, war sie nicht schweigsam. Sie sprach gern und konnte immer wieder eine spirituelle Bemerkung, eine Ermunterung zur Frömmigkeit in ihre Worte einflechten, so dass sie mitunter als „Predigerin“ bezeichnet wurde. Ihre gewohnte Sanftmut schwand jedoch, wenn sie jemanden fluchen hörte, und ihre Reaktion fiel mitunter überaus heftig aus. Vor allem konnte sie es nicht leiden, wenn man Priester schmähte. Als einmal jemand die letzte Predigt des Pfarrers vor ihr kritisierte, versetzte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: „Was Sie sagen, ist nicht gut. Priester sind Vertreter Gottes für unsere Seelen. Was sie sagen, was sie in der Kirche tun, geschieht einzig und allein in der Absicht, uns Gutes zu tun, und es kommt uns in keiner Weise zu, sie zu kritisieren oder ihr Vorgehen zu beanstanden.“

Verleumdung ist eine häufige Verfehlung. In seinen Geistlichen Übungen bemerkt der hl. Ignatius dazu: „Wenn ich einen Fehler offenbare, so bekunde ich dadurch den eigenen Fehler … Ist hingegen die Absicht gut, so kann man auf zweierlei Weise von der Sünde oder dem Fehler des Nächsten reden: Erstens, wenn die Sünde öffentlich ist, etwa über eine öffentliche Dirne oder über einen richterlichen Urteilsspruch oder über einen allgemein bekannten Irrtum, der die Seelen ansteckt, mit denen man umgeht. Zweitens, wenn eine verborgene Sünde jemandem aufgedeckt wird, damit dieser dem Gefallenen helfe und ihn wieder aufrichte, vorausgesetzt, dass man Vermutungen oder gute Gründe hat anzunehmen, er werde ihm behilflich sein können“ (Nr. 41).

Marguerite betonte immer wieder, wie notwendig es sei, viel zu beten. Wurde ihr Gebet einmal nicht erhört, sagte sie sich: „Der liebe Gott hat es nicht erlaubt. Er sieht die Dinge anders als wir.“ Oder auch: „Wenn ich nicht bekomme, worum ich bitte, dann werde ich eben etwas Besseres bekommen.“ Einmal machte sie sich sogar Vorwürfe: „Hätte ich mehr gebetet, wäre alles besser.“ Besorgt über den mangelnden Glauben ihrer Zeitgenossen, verfasste sie ein Gebet an Jesus. Dieses Gebet, das sie jeden Tag betete, offenbart den Kern ihrer von den Heiligen Schrift inspirierten Spiritualität:

Oh heiliges Opfer, 

zieh mich zu Dir hinan,

wir werden denselben Weg gehen.

Dass ich mit Dir leide, ist gerecht.

Achte nicht auf meine Abneigungen;

in meinem Leib möchte ich vollenden, 

was an Deinen Leiden fehlt.

Ich umarme das Kreuz, mit Dir will ich sterben.

Es ist in der Wunde Deines Heiligen Herzens,

dass ich meinen letzten Atemzug machen möchte.

Marguerite bezeichnete Jesus als „Opfer“, weil Christus die Sühne (ist) für unsere Sünden, nicht nur für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt (1 Joh 2,2). Durch seine Passion und seinen Tod, die er aus Liebe zu seinem Vater und zu den Sündern auf sich genommen hat, lernte er, obgleich Sohn Gottes, „an dem, was er litt, den Gehorsam, und zur Vollendung gelangt, wurde er allen, die ihm gehorchen, Urheber ewigen Heils (Hebr 5,8-9). Die Verbundenheit mit Jesus in seiner Passion führte Marguerite zu seinem Heiligsten Herzen. Dort kam sie zur Ruhe, wie der Erlöser es versprochen hatte: Kommt zu mir alle, die ihr müde seid und beladen, und ich will euch ausruhen lassen (Mt 11,28).

Die Macht des einfachen Gebets

1879 wurde Marguerite so krank, dass sie weder aufstehen noch essen konnte, doch sie hatte keine Angst vor dem Tod. Sie konnte mit dem hl. Paulus sagen: Ich habe Verlangen, aufzubrechen und mit Christus zu sein (Phil 1,23). Am 27. Juni 1879 kam für sie nach wochenlangem Leiden bald nach dem Herz-Jesu-Fest die so lange herbeigesehnte Begegnung mit dem Erlöser. In seiner Heiligsprechungspredigt sagte Papst Franziskus: „Die heilige Marguerite Bays war eine Schneiderin und legt uns offen, wie mächtig das schlichte Gebet, das geduldige Ertragen, die stille Hingabe sind … Es ist die Heiligkeit des Alltags, von der der heilige Kardinal Newman spricht: ‚Der Christ besitzt einen tiefen, stillen, verborgenen Frieden, den die Welt nicht sieht. Der Christ ist heiter, zugänglich, freundlich, sanft, zuvorkommend, lauter, anspruchslos; er kennt keine Verstellung, er ist dabei aber so wenig ungewöhnlich oder auffallend in seinem Benehmen, dass er auf den ersten Blick leicht als ein gewöhnlicher Mensch angesehen werden mag.’“

Wir können der hl. Marguerite Bays hinsichtlich der außergewöhnlichen mystischen Phänomene, die Gott ihr gnädigerweise zuteilwerden ließ, nicht nacheifern; aber wir können ihrem Vorbild folgen und unsere täglichen Handlungen, selbst die gewöhnlichsten, in ebensoviele Akte der Liebe verwandeln, die wir in Verbundenheit mit dem vollkommenen Opfer Christi dem Vater im Heiligen Geist darbringen.

Dom Antoine Marie osb

Die Veröffentlichung des Rundbriefes der Abtei St.-Joseph de Clairval in einer Zeitschrift, oder das Einsetzen desselben auf einem ,,web site" oder einer ,,home page" sind genehmigungspflichtig. Bitte wenden Sie sich dafür an uns per E-Mail oder durch https://www.clairval.com.