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15. August 2007 Mariä-Himmelfahrt |
Jérôme Lejeune war 1926 in Montrouge zur Welt gekommen. Als er mit 13 Jahren die Schriftsteller Pascal und Balzac entdeckte, prägte ihn das für sein ganzes Leben. Vom Helden des Romans «Der Landarzt», Dr. Bénassis, war er so fasziniert, dass er ebenfalls Landarzt im Dienste des einfachen, armen Volkes werden wollte. Nach dem Krieg stürzte er sich mit leidenschaftlicher Begeisterung in das Medizinstudium. Bald erhielt er einen weiteren Motivationsschub: Er lernte eine junge Dänin namens Birthe kennen und verliebte sich Hals über Kopf in sie. Am 15. Juni 1951 verteidigte er erfolgreich seine Doktorarbeit. Noch am selben Tag entschied sich sein Schicksal in eine ganz andere Richtung als geplant: Einer seiner Lehrer, Professor Raymond Turpin, machte ihm den Vorschlag, an einem großen Werk über den «Mongolismus» bzw. das «Down-Syndrom» mitzuarbeiten, eine Krankheit, von der eines von 650 Kindern betroffen war. Jérôme stimmte zu. Sein Weg war nun vorgezeichnet. Am 1. Mai 1952 heiratete er im dänischen Odense Birthe Bringsted, die zum Katholizismus konvertiert war und mit der er fünf Kinder haben sollte. Das Familienleben lag ihm sehr am Herzen, vor allem in den Ferien. Während seiner Auslandsaufenthalte pflegte er jeden Tag einen Brief an seine Frau zu schreiben.
Seit den Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki war die Frage nach der Wirkung der Kernstrahlung auf die menschliche Fortpflanzung sehr aktuell. Turpin lenkte seine Mannschaft in diese Richtung; 1957 wurde Jérôme zum «Sachverständigen zur Wirkung der Atomstrahlung in der menschlichen Genetik» bei der UNO ernannt. Von da an nahm er an vielen internationalen Kongressen teil, wo er durch seine klaren Worte gegen die Vormachtbestrebungen bestimmter Delegationen auf sich aufmerksam machte.
Drei Kinder bereicherten bereits das Familienglück, als der Vater Jérôme Lejeunes ernsthaft erkrankte. Jérôme sah sich mit der Gewissheit konfrontiert, dass es sich dabei um Lungenkrebs handelte. Das Sterben seines geliebten Vaters machte ihm bewusst, wie «unerträglich es ist, das Leiden geliebter Menschen mitanzusehen». Sein Blick ging von da an tiefer: Im Antlitz eines jedes Patienten erkannte er Christus wieder.
Jérôme nutzte neue photographische Verfahren für den Nachweis, dass im Gewebe eines «mongoloiden» Kindes ein zusätzliches Chromosom im Bereich des 21. Chromosomenpaars vorhanden war (der Mensch hat 23 Chromosomenpaare, d.h. 46 Chromosomen). Das war die Ursache des «Mongolismus», der nunmehr neben «Down-Syndrom» auch «Trisomie 21» genannt wurde. Im März 1959 wurde die Entdeckung bei der Académie de Médecine gemeldet. Im Oktober 1965 bekam Jérôme den ersten Lehrstuhl für Grundlagengenetik in Paris. Er blickte voller Hoffnung in die Zukunft: Seine Entdeckung und ihre Publikation in der wissenschaftlichen Welt würden die Forschung beflügeln, so dachte er, und zur Entwicklung einer angemessenen Behandlung führen, um die Kranken zu heilen und ihren Eltern Hoffnung zu schenken. Angezogen vom internationalen Ruhm Jérômes und seiner freundlichen Aufnahme, wandten sich immer mehr Familien von Betroffenen an ihn. Er behandelte mehrere Tausend junger Patienten, die aus aller Welt angereist kamen oder deren Fälle er aus der Ferne per Briefwechsel betreute. Er half den Eltern, diese Prüfung aus christlicher Sicht zu begreifen und zu akzeptieren: Diesen nach dem Bild Gottes erschaffenen Trisomiekindern war eine ewige Zukunft verheißen, in der keine Spur ihrer Behinderung übrigbleiben würde. Er versicherte den Eltern, dass ihr Kind trotz seiner schwerwiegenden geistigen Behinderung ein überaus liebevolles und zärtliches Wesen entfalten werde.
Der Chromosomenrassismus
August 1967: Professor Lejeune wurde zum 7. Weltkongress der israelischen medizinischen Vereinigung nach Tel Aviv eingeladen. Vorträge und Exkursionen wechselten sich ab; der erste Ausflug führte zum See Genezareth. «Ich betrat eine kleine geschmacklose Kapelle», berichtete Jérôme. «Ich warf mich auf den Boden, um die imaginäre Fußspur Dessen zu küssen, der dort gegenwärtig war.» In diesem Augenblick überkam ihn ein unbekanntes Gefühl: «Als würde ein Sohn seinen geliebten Vater wiederfinden, einen endlich erkannten Vater, einen verehrten Meister, ein sakrosanktes, entblößtes Herz, es war etwas von all dem dabei und noch viel mehr «» Alles schmolz im Feuer dieser glühenden Liebe dahin: Welt, Ehren, Erfolg, die Furcht vor dem Urteil anderer. Es gab nur noch den Herrn und die Notwendigkeit, seine einnehmende Güte zu erwidern.
Als Jérôme wieder zu den anderen Kongressteilnehmern stieß, hatte sich eine Kraft seiner bemächtigt. Doch wozu? Ein Zwischenfall wies ihm den Weg. Bald erreichten sie Nazareth: Nach dem Aussteigen aus dem Bus gingen alle in Richtung Verkündigungsbasilika. Aber die einen unterhielten sich laut, die anderen machten anzügliche Witze über den Besuch des Engels und die Jungfräulichkeit Marias. Jérôme spürte, dass man ihn provozieren wollte. Was sollte er tun? Er betrat die Basilika, bekreuzigte sich und kniete aus Verehrung vor dem Mysterium der Fleischwerdung, das sich an diesem Ort vollzogen hatte, nieder. Merkwürdigerweise brachte seine demütige und zugleich mutige Haltung die höhnischen Stimmen zum Verstummen. Nach diesem öffentlichen Glaubensbekenntnis wurde Professor Lejeune von niemandem mehr provoziert, doch man hielt ihn auf Distanz von der Gruppe.
«Ich habe meinen Nobelpreis verloren»
Medienkampf
Die Frage der Abtreibung bewegte nun ganz Europa; Großbritannien schloss sich den Vereinigten Staaten an, die die Früherkennung des Down-Syndroms und seine «Behandlung» durch Abtreibung bereits legalisiert hatten. Die Medienkampagne in Frankreich wurde auf die Abtreibung aller unerwünschten Kinder ausgeweitet: «Ein Baby wird vor dem Gesetz erst nach seiner Geburt zu einer Person»; «eine Frau hat das Recht, mit ihrem Körper zu machen, was sie will». Alles Scheinargumente, für die sich auch Katholiken erwärmen konnten, manchmal sogar soweit, sie zu propagieren.
Bei einer Reise nach Virginia im Oktober 1972 wurde Jérôme ein Anwendungsprotokoll für physiologische bzw. biochemische Experimente an fünf Monate alten Föten vorgelegt, die extra zu diesem Zweck durch Kaiserschnitt «entnommen» werden sollten. Er schrieb an seine Frau: «Im Text heißt es, man solle sie behandeln wie irgendein entnommenes Gewebe oder Organ, aber es wird klargestellt, dass sie nach kurzer Zeit getötet werden müssen « Ich sagte einfach, ein Verbrechen dürfe durch keinen Text reglementiert werden.» Wie konnten seine hochqualifizierten Kollegen so tief sinken? Sie waren unter dem Vorwand wissenschaftlicher Strenge in einer Sichtweise herangebildet worden, in der Gott keinen Platz hatte: «Gut» war nicht, was dem Gesetz Gottes entsprach, sondern was effektiv war; «schlecht» war, was dem Fortschritt in der Sache im Wege stand. Für sie war der Fötus kein Mensch mehr, kein Geschöpf Gottes, dessen Bestimmung darin liegt, Ihn in alle Ewigkeit zu schauen und zu lieben. Somit war er für alle möglichen Übergriffe freigegeben: Man musste nur eine Mehrheit hinter sich bringen.
Das schwächste Glied in der Kette
Am 13. Mai 1981 waren Jérôme und seine Frau in Rom: Der Heilige Vater wollte sie in Privataudienz empfangen. Nach der Unterredung lud der Papst sie spontan zum Mittagessen ein. Noch am selben Abend erfuhren sie auf der Heimreise nach Paris von dem Attentat, das auf Johannes-Paul II. verübt wurde, kurz nachdem sie ihn verlassen hatten. Die Nachricht erschütterte Jérôme sogar gesundheitlich. Im Herbst beschloss der Papst in Sorge um die internationale Situation, zu jedem Staatschef, dessen Land über Atomwaffen verfügte, eine Delegation von Mitgliedern der päpstlichen Wissenschaftsakademie zu entsenden, die einen Bericht über die Gefahren eines Atomkrieges überreichen sollte. Für die UdSSR bestimmte er Lejeune und zwei weitere Wissenschaftler. Die Begegnung fand am 15. Dezember 1981 statt. «Wir Wissenschaftler wissen», sagte Jérôme klar und deutlich, «dass das Überleben der Menschheit zum ersten Mal von der Akzeptanz moralischer Regeln, die über jedes System und jede Spekulation erhaben sind, durch alle Nationen abhängt.» Die Schikanen seitens der Verwaltung wurden verschärft, denen Jérôme seit der Verabschiedung des Gesetzes Veil insbesondere in Form von wiederholten Steuerkontrollen ausgesetzt war. Seine Forschungsgelder wurden gestrichen; er sah sich gezwungen, sein Laboratorium zu schließen. Über dieses Vorgehen empört, gewährten ihm amerikanische und englische Laboratorien Privatkredite ohne Gegenleistung; dank dieser uneigennützigen Solidarität konnte er ein Team gleichgesinnter Forscher zusammenstellen.
Trotz allen Spottes
Jérôme fasste 1991 seine «Überlegungen zur medizinischen Deontologie» in sieben Punkten zusammen: «1. Christen, habt keine Angst!' Ihr seid im Besitz der Wahrheit, nicht weil ihr sie erfunden habt, sondern weil ihr sie vermittelt ... 2. Der Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Einzig und allein deswegen verdient er Respekt. 3. Abtreibung und Tötung eines Kindes sind verabscheuungswürdige Verbrechen' (II. Vatikanum). 4.Moral existiert objektiv; sie ist klar, sie ist universell, da sie katholisch ist. 5. Das Kind ist unantastbar, und die Ehe ist unauflöslich. 6. Du sollst Vater und Mutter ehren: Die Reproduktion eines Elternteils durch Klonen oder durch Homosexualität ist nicht möglich. 7. Das menschliche Genom, das genetische Kapital des Menschengeschlechts ist unantastbar.» Es sei noch auf folgenden mutigen Satz hingewiesen: «In den sogenannten pluralistischen Gesellschaften liegt man uns ständig in den Ohren: Ihr Christen habt nicht das Recht, eure Moral anderen aufzuzwingen!' Ich sage euch: Ihr habt nicht nur das Recht auf einen Versuch, eure Moral in die Gesetze eingehen zu lassen, sondern die demokratische Pflicht dazu!»
Im Dienst der guten Sache
Als er am Karmittwoch, dem 20. März 1994, mit über 40° Fieber zu delirieren begann, wurde er mit palliativen Mitteln behandelt. Am frühen Morgen des folgenden Tages erlangte er wieder das Bewusstsein; am Karfreitag vertraute er dem Priester, der ihm die Sterbesakramente spendete, an: «Ich habe meinen Glauben niemals verraten.» Und das ist alles, was vor Gott zählt « Von seinen Kindern gefragt, welches Vermächtnis er für seine kleinen Kranken habe, antwortete er: «Ich habe nicht viel, wisst ihr « Da habe ich ihnen mein Leben gegeben. Und mein Leben ist alles, was ich hatte.» Dann erstrahlte er und sagte zu den Seinen: «Wenn ich euch eine Botschaft zurücklassen kann, meine Kinder, so die wichtigste von allen: Wir sind in der Hand Gottes. Ich habe das mehrmals erfahren.» Der folgende Karsamstag verlief ruhig: Jérôme war gefasst. Am späten Nachmittag setzten die Atembeschwerden wieder ein, stärker als zuvor. Er wurde auf einmal ganz autoritär und befahl seiner Frau und seinen Kindern, nach Hause zu gehen. Er wollte nicht, dass sie seinen Todeskampf mitansehen. Am Sonntagmorgen gegen sieben Uhr sagte er mühsam zu dem nahezu unbekannten Kollegen, der ihm fast die ganze Nacht über die Hand gehalten hatte: «Sehen Sie « ich habe es richtig gemacht.» Mit diesen Worten verschied er. Draußen begannen die ersten Glocken zu läuten: Es war der Tag der Auferstehung, der Tag des Lebens, der Tag ohne Ende. Denn Christus ist ewiges Leben (1 Joh 5,20)!
Am folgenden Tag schrieb Papst Johannes-Paul II. über Jérôme Lejeune: «Heute verneigen wir uns vor dem Tod eines großen Christen des 20. Jahrhunderts, eines Mannes, für den der Schutz des Lebens zum Apostolat wurde. Es ist klar, dass in der heutigen Weltsituation diese Form des Laienapostolats besonders notwendig ist «» Am 28. Juni 2007 wurde der Seligsprechungsprozess von Jérôme Lejeune in Paris eröffnet.