Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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3. September 2008
Hl. Gregor der Große


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

«Unsere Seelen müssen vor den Füßen unseres Herrn wie jene bescheidenen und schlichten Blumen sein, die am Fuße von Bergen wachsen ... Ich bete zu Gott, dass wir nie etwas aus Angeberei tun, sondern lieber im Stillen Gutes bewirken und uns dabei immer als die Geringsten in der Kirche Gottes betrachten.» Diese Worte der hl. Thérèse Couderc, der Gründerin der Kongregation der Schwestern vom Coenaculum, zeigen uns bereits, wie ihr eigenes Leben verlief: im Verborgenen und in bemerkenswerter Demut.

Jesus selbst hat uns durch sein Vorbild und seine Worte Demut gelehrt. Die ersten dreißig Jahre seines Lebens spielten sich im Verborgenen, nicht vor den Augen der Menschen, in Nazareth ab. Danach legte er die Demut seinen Aposteln wiederholt ans Herz, so auch am Abend vor seiner Passion, als er seinen Jüngern die Füße wusch und zu ihnen sagte: Versteht ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr, und mit Recht sagt ihr so; denn ich bin es. Wenn nun ich eure Füße gewaschen habe, als der Herr und als der Meister, seid auch ihr verpflichtet, einander die Füße zu waschen. Denn ein Beispiel gab ich euch, damit so, wie ich euch tat, auch ihr tut. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr, und ein Gesandter ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat. Wenn ihr das wisst, so seid ihr selig, wenn ihr euch danach richtet (Joh 13,12-17).

Marie-Victoire Couderc wurde am 1. Februar 1805 in einem Weiler bei Sablières, einem Dorf im Département Ardèche (Südfrankreich), geboren; ihre Familie zählte weder ganz zum Adel noch zum Bürgertum und führte auf ihrem weitläufigen Landsitz ein friedliches, aber arbeitsames Leben. Die Eltern legten großen Wert auf eine gute menschliche und religiöse Erziehung ihrer zehn Kinder. Frau Couderc stand zweimal pro Woche in aller Frühe auf, um zur Messe zu gehen. Die beiden ältesten Kinder, Jean und Marie-Victoire, begannen bereits in sehr jungem Alter die ersten Vorboten ihrer späteren Berufung zu spüren.

Ende März 1825 fand in Sablières eine Missionierung statt. Marie-Victoire lernte dabei den Missionar Jean-Pierre-Étienne Terme kennen. Sie vertraute ihm ihren Wunsch an, ins Kloster zu gehen. Einige Monate später wurde sie von Abbé Terme in das Noviziat von Aps aufgenommen, das von ihm gegründet worden war, um Schulschwestern für den Unterricht auf dem Lande auszubilden. Marie-Victoire nahm den Namen «Schwester Thérèse» an. Abbé Terme betreute damals die Wallfahrtsstätte des hl. François Régis in La Louvesc. Eines Tages kam ihm die Idee, er könnte, um vielfachen Ärger zu vermeiden, ein Haus speziell für die Beherbergung von Pilgerinnen gründen. Denn bis dahin wurden von den örtlichen Gastwirten Pilger beiderlei Geschlechts in einem Schlafraum untergebracht. Abbé Terme ließ ein Gebäude errichten, das von drei Nonnen aus dem Noviziat von Aps bezogen wurde. Trotz ihres jungen Alters (23 Jahre) wurde Schwester Thérèse zur Oberin ernannt. Die Schwestern von La Louvesc sollten zwei Aufgaben erfüllen: Im Winter in den umliegenden Dörfern Unterricht erteilen und im Sommer Pilgerinnen beherbergen. Schon bald brachte jedoch der große Andrang von Frauen das Haus ganz durcheinander. Da hatte die junge Oberin eine Erleuchtung: Unterkunft wurde hinfort nur denen gewährt, die bereit waren, zu Ehren des hl. Régis eine Novene oder ein Triduum zu machen.

Ein tiefer Eindruck

1828 nahm Abbé Terme an einem Exerzitienkurs nach der Methode des hl. Ignatius teil, der ihn tief beeindruckte. Gleich nach seiner Heimkehr nach La Louvesc hielt er selbst Exerzitien für die Schwestern ab und kündigte an, dass fortan auch den in ihrem Hause weilenden Pilgerinnen die geistlichen Übungen des hl. Ignatius angeboten würden. In kurzer Zeit wuchs die Anzahl der Teilnehmerinnen an den Exerzitien beträchtlich an; Mutter Thérèse schrieb: «Wir waren ganz verwundert, als wir sahen, mit welcher Inbrunst an den Exerzitien teilgenommen wurde.»

Nach dem Tode von Abbé Terme im Dezember 1834 wurde das Exerzitienwerk der Leitung von Jesuitenpatres unterstellt. Die Töchter des Abbés teilten sich in zwei Kongregationen auf: die Schulschwestern nannten sich «Schwestern des heiligen Régis», die mit den Exerzitien befassten Schwestern hießen «Schwestern vom Coenaculum». Bei der Heiligsprechung von Thérèse Couderc sagte Papst Paul VI.: «Das Coenaculum ist ein Ordensinstitut, das Unserer Lieben Frau, der Mutter Christi, geweiht ist, die inmitten der ersten christlichen Gemeinschaft die Ausgießung des Heiligen Geistes in neuer Fülle erwartet, erfleht und empfängt ... Es ist eine Schule des Lebens und der christlichen Lehre, ein Zufluchtsort der Stille und der Besinnung, eine Heilstätte, in der man seine sittlichen und spirituellen Kräfte regeneriert ... Das Bedürfnis, in persönlicher und religiöser Intensität das tägliche Leben auszugleichen, das sich im Zauber des Lasters (Weish 4,12), im Reiz des Frivolen bzw. der weltlichen Interessen verliert, steht den Menschen von heute gut an, die Christen bleiben und den letzten und höchsten Zweck unserer Existenz nicht aus den Augen verlieren wollen» (10. Mai 1970).

Damit wir sicher zu unserer höchsten Bestimmung gelangen, zeigt uns der hl. Ignatius die Taktik unseres Feindes, des Teufels, auf: Dieser haucht uns erst den Wunsch nach Reichtum sowie die Liebe zum eitlen Ruhm der Welt ein und will uns dadurch zu einem grenzenlosen Hochmut und dann zu allen übrigen Lastern verführen. Unser Herr Christus hingegen will uns zu höchster Armut im Geiste bewegen, zum Verlangen nach Schmähungen und Verachtung, um die Demut in uns zu wecken, die uns zu den anderen Tugenden hinführt (vgl. Geistliche Übungen, Nr. 142; 146). Mutter Thérèse bekam bald Gelegenheit, diese geistliche Lehre praktisch umzusetzen.

Barmherzige Absichten

Ein von einer intriganten Schwester erstellter fehlerhafter Finanzbericht vom 23. Oktober 1838 ließ bei Bischof von Viviers Zweifel an den Fähigkeiten von Mutter Thérèse aufkommen. Er berief sie von ihrem Amt ab, setzte eine Novizin an ihre Stelle, in die er große Hoffnungen setzte, und verlieh dieser den Titel «Gründerin und Oberin»! - Eine tiefe Demütigung für Mutter Thérèse, die jedoch immer mehr zu der Überzeugung kam, dass sich Gottes Wille in Bezug auf ihr Leben über die Auslöschung ihrer eigenen Person erfüllen werde; sie nahm ihre Absetzung hin und lebte fortan zurückgezogen. Demut war für sie kein Selbstzweck, sondern das beste Mittel, sich ganz und gar mit Gott zu vereinen und ein folgsames Werkzeug seines heiligen Willens zu werden. Diese Haltung beruhte auf einer großen Glaubensgewissheit: «Wir müssen bekennen und glauben, dass alles, was Gott tut, wohlgetan ist und dass Er zudem in allem, was Er befiehlt bzw. zulässt, stets auch barmherzige Absichten hat», schrieb Mutter Thérèse. «Alles, was von unserem guten Herrn kommt, ist gut wie Er.» Zwar könne es für die Natur mitunter schwierig sein, in bestimmten Prüfungen die Güte Gottes zu erkennen, es sei aber immer möglich, das Licht eines noch kostbareren Gutes, nämlich des Kreuzes, darin zu sehen: «Nehmen wir das Kreuz an, wie es uns gegeben wird», forderte Mutter Thérèse. «Ihr wisst, dass es alles, was es berührt, heiligt, seit es selbst von Dem geheiligt wurde, der die Quelle aller Heiligkeit ist: Lieben wir das Kreuz, wenn es uns möglich ist, denn je mehr wir es lieben, desto mehr wird es uns nützen.»

Die neue Oberin, die keine Ahnung vom Klosterleben hatte, blieb nur wenige Monate im Amt, da der Bischof angesichts des Durcheinanders, das sie in dem Haus anrichtete, bald einsah, dass sie abgelöst werden musste. Von Mutter Thérèse beeinflusst, wählte der Konvent Mutter Contenet zur Oberin. Diese war der Ansicht, sie müsse die erst 35-jährige wahre Gründerin in der Rangordnung möglichst weit zurücksetzen. Sie demütigte sie oft, selbst vor den Novizinnen. Die Schwestern, die Zeuginnen dieser Demütigungen wurden, wunderten sich über die Langmut von Mutter Thérèse. Schwester Régis sagte später: «Sie war lange für Keller und Garten verantwortlich; sie jätete und schleppte Wasser wie eine einfache Magd.» Man hielt sie aus allem heraus und überhäufte sie pausenlos mit Aufgaben, die sie selbst von den gemeinsamen Freizeiten fernhielten.

Ein umso heftigerer Schmerz

«In bestimmten Fällen», erklärte Papst Paul VI. später, «wird die Mission einer Gründerin zu einem schmerzlichen Drama, insbesondere, wenn die Schwierigkeiten von kirchlichen Hoheitsträgern oder von Mitgliedern des eigenen Konvents ausgehen, d.h. wenn die Menschen, die das Leiden verursachen, verehrte und gute Menschen sind. Es handelt sich dabei um Schmerzen, die man a priori für undenkbar gehalten hätte; sie treten in Beziehungen auf, die im Bereich der kirchlichen Nächstenliebe verankert sind, die ihrerseits das Zwingendste und Schönste ist, das der Herr uns hinterlassen hat; und genau deshalb verursacht jede Wunde, die in solchen Beziehungen zugefügt wird, einen umso heftigeren Schmerz. Die Liebe steigert die Empfindlichkeit und verlagert sie von der Haut ins Herz ... Das ist, kann man sagen, die Geschichte von Thérèse Couderc» (ibid.).

Inmitten der schweren Prüfungen passte Mutter Thérèse auf, dass sie sich nicht ärgerte; manchmal sagte sie einfach «Ist ja gut» vor sich hin und arbeitete mit gesenktem Blick weiter oder ging mit ihrer gewohnten Ruhe fort. Einmal erteilte sie einer Schwester einen Rat, der uns ihre seelische Grundeinstellung zeigt: «Um unseren Herrn zu trösten, sagen Sie oft zu Ihm: ‚Schenk mir die Gnade, dass ich gern verachtet werde, um Dir ein bisschen ähnlich zu werden ...'» Mutter Thérèse hatte in der Schule des hl. Ignatius den Wunsch nach einer sehr umfassenden Demut gefasst; er hatte gesagt, die Ähnlichkeit mit Christus wachse, «je mehr [ich] mit dem armen Christus Armut wünsche und erwähle als Reichtum, je mehr mit dem schmacherfüllten Christus Schmach als Ehrenerweise, und je mehr darnach verlange, als ein Tor und Narr angesehen zu werden um Christi willen, der zuerst als ein solcher angesehen wurde, denn für weise und klug in dieser Welt» (Exercitia spiritualia, Nr. 167).

In den folgenden Zeilen scheinen allerdings auch die inneren Kämpfe von Mutter Thérèse durch: «Man muss sich immer bereit halten, von vornherein alles anzunehmen, was Gott zulässt oder befiehlt. Nur in dieser Verfassung findet man Ruhe und Frieden ... Ich schäme mich meiner Schwäche und vor allem meiner mangelnden Tugend, denn ich empfange das Kreuz ungern, wenn es kommt. Aber nein, ich will es ja nehmen, wie auch immer es ist, und ich werde immer gern rufen: Fiat! Fiat!... Das Kreuz trägt immer Früchte, wenn wir es mit Ergebung und Liebe tragen.» Ohne es zu wissen, handelt sie hier nach der Lehre, die der hl. Benedikt in seiner Regel gibt: «Die sechste Stufe der Demut: Der Mönch ist zufrieden mit dem Allergeringsten und Letzten und hält sich bei allem, was ihm aufgetragen wird, für einen schlechten und unwürdigen Arbeiter ...» (Kap. 7).

Die Frucht der Demut

1842 wurde Mutter Thérèse in eine Neugründung nach Lyon entsandt. Achtzehn Monate lang verrichtete sie allein mit einer Schwester die niedrigsten Arbeiten in einem völlig verwahrlosten Haus. Es folgten mehrere Jahre zurückgezogenen Lebens, zumeist in Lyon. Nach dem Tode von Mutter Contenet 1852 brach in dem in Paris gegründeten Haus eine schwere Krise aus. Mutter Thérèse wurde dorthin entsandt und konnte kraft ihrer Geduld und ihrer Gebete die Situation retten. Im November 1856 wurde sie vorübergehend zur Oberin in Tournon ernannt, wo sie den Verkauf des dortigen Hauses der Kongregation in die Wege zu leiten sollte. Ihre wenige Monate währende Führung lässt sich mit einem Wort beschreiben: Güte. Diese war Ausdruck der Nächstenliebe und war offenbar direkt auf die Praxis der Demut zurückzuführen. In seiner Regel (Kap. 7) versichert der hl. Benedikt, dass man über die verschiedenen Stufen der Demut zur vollendeten Liebe gelangt. Der hl. Paulus riet den Philippern: Macht meine Freude dadurch voll, dass ihr gleichen Sinnes seid, die gleiche Liebe habt, aus gleichgestimmter Seele auf das eine bedacht seid; nicht geschehe aus Eigensucht oder eitlem Begehren, sondern in Demut achte der eine den andern höher als sich selbst, und nicht auf das Seine nur blicke ein jeder, sondern auch auf das Wohl der anderen (Phil 2,2-4).

Nach ihrem Aufenthalt in Tournon kehrte Mutter Thérèse erst nach La Louvesc, dann nach Lyon zurück. Am 20. Oktober 1859 hielt ein Jesuitenpater einen Vortrag vor den Schwestern, der die Mutter zutiefst anrührte. «Er sagte, unser göttlicher Meister bitte um ihm ergebene und der Erfüllung seines Willens geweihte Seelen, d.h. um Opfer, die ihm zu Ehren und für das Heil der Seelen dargebracht werden ...», berichtete sie. «Ich betete, ich bot mich so vollkommen, wie ich nur konnte, dem Herrn dar. Ich sagte ihm, ich wagte es nicht, mich als Opfer darzubieten, denn Opfer müssten rein sein, um ihm zu gefallen, und ich hätte ihn so oft beleidigt. Da gab er mir zu verstehen, dass er mich trotzdem wollte, dass er mich als Opfer akzeptierte, und ich hörte deutlich die Worte: ‚Du wirst Opfer der Auslöschung.' In mir gab es kein Widerstreben, ich stimmte voll und ganz zu, aber ich zitterte und war sprachlos.» Der Herr erklärte ihr, dass bei einer Auslöschung das Opfer ganz vernichtet werde; er wollte also, dass alles in ihr nur für ihn da sei. Es geht dabei nicht zwangsläufig darum, von physischem oder moralischem Leiden verzehrt zu werden, sondern einzig von dem Willen, ihm ganz zu gehören. So den Willen Gottes erfüllen zu wollen, bedeutet nicht, sich in die Knechtschaft eines äußeren und fernen Herrn zu begeben, sondern die Stimme des im Innersten unserer Seele gegenwärtigen Herrn zu hören.

Sich ausliefern

Ende August 1860 wurde Mutter Thérèse nach Montpellier, in das dortige Haus, versetzt. Am Morgen des 26. Juni 1864 wurde ihr eine eindrückliche Erleuchtung des Herrn zuteil: «Ich sah das ganze katholische Universum in einem Gesamtüberblick und zugleich eine Vielzahl von Altären, auf denen sich das anbetungswürdige Lamm gerade als Opfer darbrachte. Das Blut des unbefleckten Lamms floss in Strömen über jeden dieser Altäre ... Ich war in großer Verwunderung darüber, dass dadurch nicht die ganze Welt geheiligt war ... Ich glaubte folgende Worte zu vernehmen: Das Opfer an sich ist ohne jeden Zweifel ausreichend, doch in den Seelen mangelt es an Widerhall und Großmut; diese Großmut muss uns dazu führen, uns Gott auszuliefern. Was aber bedeutet ‚sich ausliefern'?... Sich ausliefern heißt sterben für alles, auch für sich selbst, sich nicht mehr um das Ich kümmern, damit es immer Gott zugewandt bleibt. Sich ausliefern heißt auch, nicht mehr nach der eigenen Befriedigung zu streben, sondern einzig nach der des göttlichen Willens.» Die an diesem Tag empfangene Gnade vollendete in ihrer Seele ihre eigene Hingabe als Opfer der völligen Auslöschung.

In den folgenden Jahren wurden Mutter Thérèse von Gott viele Gebetsgnaden und erleuchtende Einsichten zu ihrem eigenen Elend und zur göttlichen Heiligkeit gewährt, darunter auch folgende: «Plötzlich erblickte ich - wie in goldenen Lettern geschrieben – überall das Wort ‚Güte' ... Ich sah es auf allen beseelten und unbeseelten, vernunftbegabten oder vernunftlosen Geschöpfen prangen ... Da verstand ich, dass alle diese Geschöpfe etwas Gutes haben und dass alle Dienste und jede Unterstützung, die wir von jedem von ihnen bekommen, eine Wohltat sind, die wir der einen Güte zu verdanken haben, die ihnen etwas von ihrer eigenen unendlichen Güte abgegeben hat, damit wir ihr in allem und überall begegnen.»

Diese Einsicht illustriert eine der vom hl. Ignatius vorgelegten Betrachtungen: «Schauen, wie alles Gut und alle Gabe absteigt von oben, so wie auch meine beschränkte Kraft von der höchsten und unendlichen oben herab; und so auch unsere Gerechtigkeit, Güte, Frömmigkeit, Barmherzigkeit usf., wie von der Sonne absteigen die Strahlen, vom Quell die Wasser usf.» (Exercitia spiritualia, Nr. 237). Die Übungen haben ja das Ziel, uns in allen Dingen nahe bei Gott leben zu lassen, in einem Glauben, der uns selbst in den schmerzlichsten Ereignissen unseres Lebens das Wirken Gottes offenbart.

«Ich werde Dir auch ohnedem folgen!»

1867 wurde das Coenaculum von Montpellier geschlossen, und die Mutter Gründerin kehrte nach Lyon zurück. Bereits seit mehreren Jahren wurde sie von Gott an die Teilhabe an den Ängsten Jesu in Gethsemani herangeführt. Sie gestand später im Vertrauen: «Viele Jahre lang habe ich nicht begriffen, wie man Gott kennen kann, ohne Ihn zu lieben. Ich sah überall seine unendliche Güte und fühlte mich mit Trost überhäuft. In seinem Dienst fiel mir nichts schwer ... Doch eines Tages sagte ich zum lieben Gott: ‚Ich werde Dir auch ohnedem folgen!' Er nahm mich beim Wort und nahm mir alles weg... Ich sah bald, dass meine Bitte erhört worden war, und erfuhr nun, was Verzweiflung bedeutet.» Bereits ihre nachlassende Gesundheit ließ sie Christus in seiner Passion näherrücken: Alle ihre Glieder schmerzten, vor allem die Beine; ihr Gehör wurde so schwach, dass sie in der Freizeit keiner Unterhaltung mehr folgen konnte. Doch vor allem setzte die Agonie ihrer Seele ein. Sie sah und spürte den Kampf, der sich im Herzen Jesu in Gethsemani abgespielt hatte, in sich selbst; sie konnte seinen Abscheu vor der Sünde, seinen grenzenlosen Kummer über die Undankbarkeit und die Verblendung der Sünder nachfühlen. Das ständig wiederholte Stoßgebet von Mutter Thérèse lautete: «Mein Gott, hab Erbarmen mit mir!»

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Mutter Thérèse in einem Strohsessel mit verschiedenen Handarbeiten und in stillem Gebet. Trotz ihres anhaltenden Agoniezustands schien ihre Seele Frieden gefunden zu haben. «Mein inneres Gebet ist sehr einfach», bekannte sie eines Tages. «Ich suche die Gegenwart unseres Herrn auf und sage Ihm alles, was ich auf dem Herzen habe. Ich beglückwünsche Ihn zu seinen göttlichen Attributen, ich wünsche, dass alle Geschöpfe Ihn lieben und anbeten ..., ich bitte um die Beharrlichkeit und die Heiligung der Gerechten sowie um die Bekehrung der Sünder; mit einem Wort, ich breite meine Seele vor Seiner göttlichen Majestät aus. Ich teile Ihm meine Freuden mit, vertraue Ihm meine Schmerzen an; ich bleibe ganz ausgelöscht in Seiner Gegenwart.»

Anfang 1885 erlitt Mutter Thérèse einen Ohnmachtsanfall und blieb mehrere Stunden lang bewusstlos. Am folgenden Tag berichtete sie der Generaloberin, sie erlebe seither eine erstaunliche Wahrnehmung des Fegefeuers: «Seit gestern bin ich von Menschenmassen umgeben, die ununterbrochen mit einem penetranten Akzent beten ... Sie flehen, sie stöhnen, sie beten die Majestät Gottes an, sie loben sie, mit einer Einmütigkeit, einer Harmonie, einem Glauben, einer Hoffnung und einer Liebe, die unbeschreiblich sind ... Es gibt Männerstimmen, Frauenstimmen, Kinderstimmen ... Wie sie beten, wie sie singen! Oh! Wenn wir nur so beten könnten wie sie!»

Nach einem schweren Todeskampf gab Mutter Thérèse am 26. September 1885 im Alter von 84 Jahren ihre Seele sanft an Gott zurück. Pilger, die nach La Louvesc reisen, können dort ihren unversehrt gebliebenen Körper sehen; ihr Gesicht strahlt so viel Ruhe und Gelassenheit aus, als schliefe sie einfach.

Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden (Lk 14,11). Dieses mehrfach im Evangelium zitierte Gotteswort hat sich zunächst in unserem Herrn Jesus Christus bewahrheitet, von dem der hl. Paulus sagt: Er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis in den Tod, den Tod am Kreuz. Und darum erhöhte ihn Gott so hoch und verlieh ihm den Namen, der jeden Namen überragt (Phil 2,7-9). In ähnlicher Weise wurde die heilige Thérèse Couderc «praktisch von ihrem Amt als Oberin abgesetzt, ihr wurde der Titel ‚Gründerin' aberkannt, man wies ihr Posten und Ämter zu, die unter ihren Fähigkeiten und Verdiensten lagen. Und gerade da, in dieser Demut, in dieser Selbsthingabe (sie sagte ‚sich ausliefern') erscheint sie groß», erklärte Paul VI. bei ihrer Heiligsprechung. Die Fruchtbarkeit dieses erniedrigten Lebens zeigte sich in reichen geistlichen Früchten, vor allem innerhalb der von ihr gegründeten religiösen Kongregation.

Bitten wir die heilige Thérèse Couderc, sie möge uns das demütige Leben lehren, das uns zur vollkommenen Gottes- und Nächstenliebe führt.

Dom Antoine Marie osb

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