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2. Juli 2003 Mariä Heimsuchung |
Der Junge Israel aus der Familie Zoller war am 17. September 1881 in Brody in Galizien (im damals zu Österreich gehörenden Südosten Polens) als das jüngste von fünf Kindern geboren worden. Die Familie war jüdischen Glaubens und lebte in einem gewissen Wohlstand, denn der Vater besaß eine Seidenweberei im damals auf russischen Territorium befindlichen Lodz. 1888 beschoss der Zar, alle Unternehmen zu verstaatlichen, deren Eigentümer Ausländer waren; die Fabrik von Herrn Zoller in Lodz wurde ohne finanzielle Entschädigung enteignet. Der Lebensstandard der Familie sank so beträchtlich, dass die älteren Söhne in der Ferne Arbeit suchen mussten.
Mit sieben Jahren kam Israel in die hebräische Grundschule, in der die Kinder Bibelverse auswendig lernen mussten. Doch seine Freude am religiösen Wissen ging in erster Linie auf seinen Vater zurück. Die Mutter ihrerseits lehrte Israel den Beistand für die Bedürftigen; vom Elend ihres Nächsten bewegt, widmete sie sich vielfältigen wohltätigen Werken und appellierte bei Bedarf auch an andere Damen in ihrem Viertel, Jüdinnen wie Katholikinnen. In der Gegend von Brody gab es zwischen Juden und Christen weder Verachtung noch Misstrauen.
1904 verließ Israel seine Familie, die er nie wiedersehen sollte. Seine Mutter, die sich immer gewünscht hatte, er möge Rabbiner werden, war kurz zuvor gestorben. Er gab Unterrichtsstunden, um die Seinen finanziell zu unterstützen, und studierte daneben Philosophie an der Universität Wien, später in Florenz, wo er die Doktorwürde erlangte; parallel dazu ließ er sich zum Rabbiner ausbilden. 1913 wurde er zum Vizerabbiner der damals österreichischen Hafenstadt Triest ernannt und heiratete Adele Litwak, ein jüdisches Mädchen aus Galizien; aus dieser Verbindung ging eine Tochter, Dora, hervor. Während des Ersten Weltkrieges wurde Israel von der österreichischen Polizei als italienischer Untergrundkämpfer verfolgt, weil er in Italien studiert hatte. Bei Kriegsende wurde Israel Zoller zum Großrabbiner der Stadt Triest (fortan italienisch) ernannt.
War Jesus etwa nicht ein Sohn meines Volkes?
Zoller heiratete 1920 wieder, diesmal Emma Majonica, die ihm eine zweite Tochter, Miriam, schenkte. Von 1918 bis 1938 unterrichtete er von seinem Wohnort Triest aus Hebräisch und alte semitische Sprachen an der Universität von Padua. Überraschenderweise zog er dabei das Neue Testament ebenso häufig zu Rate wie das Alte. So wurde er mit der Person Jesu Christi und seiner Lehre vertraut. Er konnte dabei nicht umhin, das Alte und das Neue Testament miteinander zu vergleichen: «Gerechtigkeit wird im Alten Testament von Mensch zu Mensch geübt ... Wir tun Gutes für das empfangene Gut; wir tun Böses für das Böse, das wir von anderen erlitten haben. Vergilt man das Böse nicht mit Bösem, bedeutet das in gewisser Weise, gegen die Gerechtigkeit zu verstoßen.» Welcher Gegensatz zum Evangelium: Liebt eure Feinde ... betet für sie, oder mit dem letzten Wort Jesu am Kreuz: Vergib ihnen, Vater, denn sie wissen nicht, was sie tun! «All das überrascht mich», schrieb Zoller. «Das Neue Testament ist wirklich ein neues Testament.» Und er führte weiter aus: «Hier beginnt eine neue Erde, ein neuer Himmel ... Die an der Erde hängenden Reichen sind arm, und die Armen, die sich davon haben frei machen können, sind in Wirklichkeit reich, weil sie ein Reich besitzen, das den Heimgesuchten, den Schweigenden und den Verfolgten gehört, die selbst nie jemanden verfolgt, sondern nur geliebt haben.» Nach und nach entdeckte Zoller das Band, welches die beiden Testamente vereint. Denn «Gott, der die Bücher beider Bünde inspiriert hat und ihr Urheber ist, wollte in Weisheit, dass der Neue im Alten verborgen und der Alte im Neuen erschlossen sei ... Die Bücher des Alten Bundes erhalten und offenbaren erst im Neuen Bund ihren vollen Sinn» (II. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum, 16).
Der Nazaräer
Die augenfällige Übereinstimmung zwischen dem Bericht über die Passion Christi im Evangelium und dem vom Propheten Jesaja achthundert Jahre zuvor beschriebenen leidenden Knecht ließ in Zoller keinen Zweifel darüber, dass sich die Prophetie in Jesus erfüllt hat: Verachtet war er, von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen ... so dass wir ihn nicht schätzten. Jedoch, unsere Krankheiten trug er, unsere Schmerzen lud er sich auf ...Und doch wurde er durchbohrt für unsere Frevel, zerschlagen wegen unserer Missetaten... Durch seine Wunden sind wir geheilt (Jes 53,3-5). Darüber hinaus brachte ihn die Untersuchung der Aussagen Jesu über seine Gottheit zu dem Schluss: «Christus ist der Messias; der Messias ist Gott; Christus ist also Gott.» Zoller war zwar vom Verstand her überzeugt, doch er besaß noch nicht den Glauben; diese Gnade wurde ihm erst sieben Jahre später zuteil.
Die Annäherung zwischen Mussolini und Hitlerdeutschland führte Ende der dreißiger Jahre zu antisemitischen Kampagnen in Italien, vor allem in der Nähe der Grenzen zum Dritten Reich. In Triest, wo es viele Juden gab, wurde von einem katholischen Historiker eine antisemitische Vortragsreihe organisiert. Dazu wurde ein großes Publikum erwartet. Zoller beschloss, bei einem mit dem Vortragenden befreundeten Jesuiten zu intervenieren. Dieser führte eine Begegnung zwischen dem Rabbiner und dem Redner herbei. Sanft und gütig rief Zoller im Namen der christlichen Grundsätze und insbesondere der von Jesus Christus am Kreuze gewährten Vergebung seinen Gesprächspartner auf, die Vorträge abzusagen. Der Professor verwies auf seine schwierige Situation: Es sei alles vorbereitet. Der Rabbiner zuckte mit den Achseln und empfahl ihm, das Evangelium zu lesen, wie er selbst es oft tue; er prophezeite ihm: «Die Zeit ist nahe, in der wir beide gute Freunde werden.» Am folgenden Sonntag erklärte der Redner vor einem überfüllten Saal, ein hochrangiger Jude hätte sein Gewissen erleuchtet; er wolle auf dem bisher eingeschlagenen Irrweg nicht weitergehen und sage die vorgesehenen Vorträge ab.
Allerdings waren bereits diskriminierende Gesetze gegen die Juden erlassen worden; Israel Zoller «italienisierte» seinen Namen in Zolli; bald wurde ihm nichtsdestotrotz die italienische Staatsangehörigkeit aberkannt, doch ansonsten blieb er unbehelligt. 1940 bot ihm die israelitische Gemeinde von Rom den vakanten Posten des Großrabbiners der Hauptstadt an. Er sagte zu, um seine Brüder in der sich abzeichnenden Verfolgung zu beschützen und die Zwistigkeiten innerhalb der jüdischen Gemeinde zu schlichten, deren Mitglieder er ermahnte, die Politik beiseite zu lassen und sich vielmehr um das Gebet, die Lehre und die gegenseitige Hilfe zu kümmern; doch dieser Aufruf verhallte ungehört.
Eine rettende Solidarität
Das bedeutete jedoch lediglich einen Aufschub. Der Großrabbiner versuchte die Juden Roms zu überreden, sich zu zerstreuen, um der Deportation zu entgehen. Bald ließ der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, von Weizsäcker, der insgeheim die Politik der Nazis missbilligte, den Papst wissen, dass Himmler die Deportation aller italienischen Juden angeordnet hätte. Pius XII. befahl dem römischen Klerus die sofortige Öffnung der heiligen Stätten für die Aufnahme der Juden, die sich dorthin wenden würden, um sich zu verstecken. Zolli, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt war, lebte in den folgenden neun Monaten im Untergrund, zuletzt bei christlichen Freunden seiner Tochter Dora; es gelang ihm auf diese Weise, der Gestapo zu entkommen. Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wurden in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober etwa tausend römische Juden (von insgesamt 8000) verhaftet und deportiert; die meisten kamen nie zurück.
«Von nun an folgst du mir»
Einige Tage später trat der Großrabbiner von seinem Amt zurück und suchte einen Priester auf, um seine Kenntnisse über die Glaubenswahrheiten zu vervollständigen. Am 13. Februar 1945 spendete Monsignore Traglia Israel Zolli das Sakrament der Taufe, wobei dieser den christlichen Vornamen Eugenio für sich auswählte zum Zeichen der Dankbarkeit Papst Pius XII. gegenüber für dessen entscheidendes Handeln zu Gunsten der Juden während des Krieges. Die Frau Zollis, Emma, wurde zusammen mit ihrem Mann getauft und fügte ihrem Vornamen den Namen Maria an. Die Tochter Miriam folgte ihren Eltern nach einem Jahr persönlicher Bedenkzeit nach. Die Taufe Eugenio Zollis war der Endpunkt einer langen geistigen Entwicklung: «Dieses Ereignis war wie die Ankunft eines heißgeliebten Gastes in meiner Seele. Ich begann lediglich auf die in den Evangelien klarer und lauter erklingende Stimme Christi zu hören. In meiner Seele offenbarte sich Gott weder durch das Mittel des Sturms noch das des Feuers, sondern durch ein sanftes Murmeln ... Ich wurde mir eines Gottes bewusst, den ich liebte, eines Gottes, der geliebt werden will und der selbst liebt.»
Alle Menschen sind seine Kinder
Am Abend seiner Taufe hatte Zolli noch nicht einmal etwas zu essen; Mgr. Traglia musste ihm fünfzig Lire schenken. Mit fünfundsechzig Jahren sah sich Zolli plötzlich mit schweren finanziellen Problemen konfrontiert, zuallererst mit der Frage, wie er für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen sollte. Bis dahin hatte er stets von seinen Honoraren als Rabbiner und als Professor gelebt. Er nahm die neue Situation mit größtem Gleichmut hin: «Ich bitte nur um das Wasser der Taufe und um nichts weiter. Ich bin arm und werde arm leben. Ich habe Vertrauen auf die Vorsehung.» Die Nachricht von der Taufe des Großrabbiners von Rom löste eine Flut von Verleumdungen aus. Man warf ihm unter anderem vor, aus purem Eigennutz abtrünnig geworden zu sein. Es fiel ihm leicht, darauf zu antworten: «Die Juden, die heute konvertieren, haben ebenso wie in der Zeit des heiligen Paulus alles zu verlieren, was das materielle Leben anbetrifft, und alles zu gewinnen an Leben in der Gnade.» Auf den Vorwurf des Verrats erwiderte er empört: «Ist der Gott Jesu Christi und von Paulus etwa nicht der gleiche Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs?»
Heute halten es bestimmte Katholiken für überflüssig, dass sich ein Jude bekehrt, um Christ zu werden. Die Lehre des Kirchenväter und des II. Vatikanischen Konzils widerspricht dieser Ansicht: «Christus allein ist Mittler und Weg zum Heil, der in seinem Leib, der Kirche, uns gegenwärtig wird; indem er aber selbst mit ausdrücklichen Worten die Notwendigkeit des Glaubens und der Taufe betont hat (vgl. Mk 16,16 ...), hat er zugleich die Notwendigkeit der Kirche, in die die Menschen durch die Taufe wie durch eine Türe eintreten, bekräftigt. Darum könnten jene Menschen nicht gerettet werden, die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollten» (Lumen gentium, 14).
Um fünfzehn Uhr, wie Jesus
Durch seinen spirituellen Werdegang macht Eugenio Zolli die Kontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Bund deutlich: Denkt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen aufzuheben, sondern zu erfüllen, hat Jesus gesagt (Mt 5,17). «Gott hat sein Volk besucht; er hat die Verheißungen erfüllt, die er Abraham und seinen Nachkommen gegeben hatte; er hat weit mehr getan, als man je erwarten durfte: er hat seinen geliebten Sohn gesandt ... Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn (Hebr 1,1-2). Christus, der menschgewordene Sohn Gottes, ist das vollkommene, unübertreffbare, eingeborene Wort des Vaters. In ihm sagt der Vater alles, und es wird kein anderes Wort geben als dieses ... 'Seitdem er uns seinen Sohn geschenkt hat, der sein Wort ist', schreibt der heilige Johannes vom Kreuz, 'hat Gott uns kein anderes Wort zu geben ... Wer demnach jetzt noch ihn befragen oder von ihm Visionen oder Offenbarungen haben wollte, der würde nicht bloß unvernünftig handeln, sondern Gott geradezu beleidigen, weil er seine Augen nicht einzig auf Christus richten würde, ohne jegliches Verlangen nach anderen oder neuen Dingen'» (Katechismus der Katholischen Kirche, Nrn. 422 und 65). Für Zolli waren die Erfordernisse, die diese Wahrheit nach sich zog, nicht leicht zu erfüllen; am Ende seines Lebens sagte er: «Ihr, die ihr im katholischen Glauben geboren seid, seid euch eures Glücks gar nicht bewusst, dass ihr die Gnade Christi von Kindheit an empfangen habt; doch derjenige, der wie ich nach einer langen, jahrelang geleisteten Arbeit an die Schwelle des Glaubens gelangt, weiß die Größe der Gabe des Glaubens zu schätzen und empfindet alle Freude, die es nur gibt, darüber, Christ zu sein.»
Danken wir Gott für das Geschenk des Glaubens, das er uns ohne unser Verdienst gewährt hat. Bewahren wir diesen Schatz durch ein heiliges Leben und beten wir dafür, dass alle Menschen den Messias kennenlernen, an Ihn glauben und das ewige Leben erlangen mögen.