Carta

Blason   Abadia de São José de ​​Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

France


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8 Dezembro 2004
Unbefleckte Empfängnis Mariä


Caro amigo da Abadia de São José

Eines Morgens im Jahre 1847 verteilte der heilige Johannes Bosco Medaillen an die Kinder, die ihm über den Weg liefen. Ein etwa zehnjähriger Junge von schüchternem Aussehen stellte sich mit aufgehaltener Hand vor ihn hin. «Ach, du bist es, Michael! Was willst du?» – «Eine Medaille!» – «Eine Medaille? Nein. Du bekommst was Besseres.» – «Was denn?» – «Hier, nimm!» Mit diesen Worten hielt ihm Don Bosco seine leere Linke offen hin und tat so, als würde er mit der rechten Hand etwas darauf senkrecht in zwei Teile schneiden, um ihm die Hälfte anzubieten. «Da! Nimm doch! Nimm doch!» Was sollte er denn nehmen? Die Hand war leer. «Was will er damit sagen?», fragte sich das Kind. Einige Jahre später klärte Don Bosco das Rätsel auf: «Mein lieber Michael, du und ich, wir werden immer alles im Leben miteinander teilen: Schmerzen, Sorgen, Verantwortung, Freuden und alles andere.»

Michael Rua wurde am 9. Juni 1837 als letztes von neun Geschwistern geboren. Sein Vater, Giovanni-Battista Rua, war Kontrolleur in der Turiner Waffenmanufaktur; er starb am 2. August 1845. Seine Witwe durfte die innerhalb der Manufaktur gelegene Wohnung behalten. An einem Sonntag im Herbst 1845 betrat Michael zum ersten Mal das berühmte Jugendheim Don Boscos. Dieser kam zu ihm, legte ihm einige Sekunden die Hand auf den Kopf und betrachtete ihn mit seltsamem Blick. Michael war bald von der Güte des jungen Priesters eingenommen, der ihn zwei Monate nach dem Tode seines Vaters in dem Heim begrüßt hatte. Dieses Jugendwerk war etwas ungewöhnlich; da kein Eigentümer die zu lauten Kinder um sich haben wollte, musste es ständig seinen Sitz wechseln. Don Bosco wurde vielfach kritisiert, sogar als verrückt angesehen.

Am 13. April 1846 ließ sich das Jugendwerk endgültig in Valdocco, einem Turiner Vorort, nieder. Angesichts des Aufschwungs seiner Einrichtung entwickelte Don Bosco eine Methode, an der er auch späterhin festhielt: Er ließ aus den einzelnen Gruppen Anführer hervorgehen, die sie unterweisen und ihnen befehlen konnten. Eines Tages im Jahre 1850 fragte er Michael: «Würdest du nicht gerne weiterstudieren, um Priester zu werden? Was denkst du?» – «Ich würde Ja sagen, sofort. Aber Mama? Wer weiß!» – «Versuch doch mal, mit ihr darüber zu sprechen: Sag mir dann, was sie dazu meint.» Die Antwort der Mutter ist eindeutig: «Dich als Priester zu sehen, wäre das größte Glück meines Lebens.» Das Kind lief sofort zum Priester, um ihm die gute Nachricht zu überbringen. Don Bosco legte seine Hand auf Michaels Schulter. In seinem Blick glänzte größte Hoffnung; in den Augen des Kindes war unaussprechliche Freude zu lesen.

Die Entzifferung der Hieroglyphen

Michael begann sein Studium unter der Aufsicht Don Boscos. Am Anfang war er etwas nachlässig, doch bald nahm er sich zusammen und war sehr erfolgreich. 1851 verlor er seinen Bruder Luigi, 1853 den Bruder Giovanni-Battista. «Ich bin als Nächster dran», sagte er zu Don Bosco. Doch der Heilige sagte ihm noch fünfzig weitere Lebensjahre voraus. Seine Freizeit, die ihm neben dem Studium blieb, verbrachte Michael im Jugendwerk mit tausenderlei Beschäftigungen, um die auf den Schultern seines Lehrers ruhende Last zu erleichtern. Er war auch sehr geschickt darin, neue Kinder anzuwerben. Manchmal verfasste Don Bosco Flugblätter zur religiösen Erbauung. Er verwandte lange Stunden in der Nacht auf die Verbesserung des Textes und fügte jede Menge Anmerkungen, Einschübe und Zeichen an. Am nächsten Morgen ließ er gerne das eine oder andere Blatt unter den entsetzten Augen seiner kleinen Schüler kursieren, die seine unleserliche Schrift nicht entziffern konnten. «Das ist eine Arbeit für Rua», pflegte Don Bosco zu sagen. Und wirklich, nachdem er seine Lernarbeit erledigt hatte, nahm sich Michael abends die Hieroglyphen seines Lehrers vor und rekonstruierte den Text in seiner makellosen Handschrift.

Am 24. September 1853 nahm Don Bosco Michael bei sich auf und ließ ihn zusammen mit einem weiteren Schüler namens Roccheti die Soutane überziehen. Bald gesellten sich mehrere neue Gefährten zu ihnen. Am 26. Januar 1854 rief Don Bosco alle in sein Zimmer und schlug ihnen eine Art Noviziat vor, nach welchem sie ein bindendes Gelübde ablegen könnten. Sie nahmen an diesem Tag im Gedenken an den hl. Franz von Sales, der die Kunst der Bekehrung durch Güte und Überzeugung beherrscht hatte, den Namen «Salesianer» an. Diese ersten Salesianer standen ganz im Dienste der Jugendlichen mit aufreibenden Tagen im Jugendheim, mit Abendkursen, Unterricht, Aufsichtspflichten, Theaterproben, Turn- und Musikunterricht, stürmischen Pausen, eigenen Studien und dem Empfang der Sakramente. Stets hatten sie das leuchtende Beispiel Don Boscos vor Augen. «Ich hatte viel mehr davon, Don Bosco selbst bei den einfachsten Tätigkeiten zuzuschauen, als eine asketische Abhandlung zu lesen und darüber zu meditieren», schrieb Don Rua später.

Im folgenden Jahr legte Michael sein erstes einjähriges Gelübde ab. Er bekam immer mehr Aufgaben übertragen: Er wurde zum Mathematiklehrer, zum Hausaufgabenbetreuer, zur Aufsichtsperson über den Schlafsaal, den Hof und die Kapelle ernannt. Da er stets unmittelbar in die Unterhaltungen der Kinder einbezogen war, schenkte er jedem Einzelnen von ihnen Beachtung und war bemüht, ihn auf seinem Bildungsweg zu unterstützen, zu ermutigen und zu fördern. Er erteilte auch Religionsunterricht, und nach dem Abendessen diktierte ihm Don Bosco eine Geschichte Italiens, die das in der Schule benutzte tendenziöse Lehrbuch ersetzen sollte. Die tägliche Arbeit hinderte Don Rua nicht daran, von 1853 bis 1860 zunächst Philosophie-, dann Theologiekurse am Großen Seminar zu belegen. Seine Aufzeichnungen darüber waren präzise und klar. 1858 begleitete er Don Bosco nach Rom, um dem seligen Papst Pius IX. die Ordensregeln der Salesianer vorzustellen. Die offizielle Gründung der Kongregation der Salesianer erfolgte am 18. Dezember 1859. Der Ordensgründer wurde Generaloberer, Don Michael Rua Seelsorger der Gesellschaft.

Ansteckende Heiligkeit

Am 28. Juli 1860 wurde Don Rua zum Priester geweiht. Don Bosco gab ihm einige schriftliche Ratschläge: «Du wirst viel zu arbeiten und zu leiden haben. Es gibt keine Rosen ohne Dornen, und du weißt wohl, dass man erst das Rote Meer und die Wüste überqueren muss, bevor man ins Gelobte Land kommt. Nimm die Prüfung mutig hin, selbst inmitten deiner Leiden wirst du den Trost und die Hilfe des Herrn spüren. Um dein Werk auf Erden zu vollbringen, höre, was ich dir anrate: ein vorbildliches Leben, große Umsicht, Beharrlichkeit in den Mühen der Seelsorge, Folgsamkeit den Eingebungen von Oben gegenüber, unaufhörlicher Krieg gegen die Hölle und unermüdliches Vertrauen auf Gott.» Vom Schulbeginn im Oktober 1860 an wurde Don Rua mit der Gesamtleitung des Unterrichts betraut. Der Beginn seiner Amtszeit war von einem großen Andrang von Schülern, einer übernatürlichen Atmosphäre, die die Seelen umgab, sowie von einer ansteckenden Heiligkeit geprägt, die alle erfasste. Ein Zeuge dieser Zeit schrieb fünfundzwanzig Jahre später: «Eine große Anzahl unserer Gefährten war nicht nur gut, sondern hervorragend; sie waren echte Vorbilder an Frömmigkeit, Arbeitsgeist, Sanftmut und Bußfertigkeit, lebendige und strahlende Beispiele. Es waren junge Leute, die um keinen Preis der Welt auch nur eine einzige Todsünde begangen hätten.»

Das alles war dem häufigen Empfang der Sakramente zu verdanken. Für Don Bosco ging einer guten Kommunion die wöchentliche Beichte voraus, in der festen Absicht, nicht mehr zu sündigen: «Will man zur Sittlichkeit gelangen, kommt es zweifellos auf die häufige und richtige Beichte und Kommunion an.» Ein andermal schrieb er: «Die häufige Kommunion ist die große Säule, die die sittliche und materielle Welt stützt, damit sie nicht in sich zusammenfällt. Glauben Sie mir - ich übertreibe nicht -, die häufige Kommunion ist die Säule, auf der der eine Pol der Welt ruht; der andere Pol ruht auf der Verehrung der seligsten Gottesmutter.» Don Rua bezeugte: «Unser heiliger Gründer versäumte keine Gelegenheit, die häufige Kommunion zu empfehlen; das war die Grundlage seines Erziehungssystems. Wer das nicht begriffen hatte, musste letztlich immer zu rigorosen Zwangsmaßnahmen greifen.»

Die rasch wachsende Anzahl von Salesianern erlaubte Don Bosco die Gründung eines Kleinen Seminars in Mirabello. Am 20. Oktober 1863 wurde Don Rua zu dessen Direktor ernannt. Hinter den wertvollen Ratschlägen, die ihm von Don Bosco mitgegeben wurden, merkt man die Sorge, dem erst 26-jährigen Direktor die Fehler des Aktivismus sowie der mangelnden Aufmerksamkeit für die physischen und seelischen Nöte der ihm Anvertrauten zu ersparen. Die Chronik der Salesianer berichtete: «Don Rua verhält sich in Mirabello genauso wie Don Bosco hier. Er ist ständig von Schülern umgeben, die von seiner Liebenswürdigkeit eingenommen sind und ihn über tausenderlei interessante Dinge befragen wollen. Zu Jahresbeginn hat er seinen Mitarbeitern empfohlen, sie möchten sich nicht übertrieben anspruchsvoll zeigen, nicht bei jedem Anlass mit den Schülern schimpfen und mitunter die Augen verschließen können. Nach dem Mittagessen sieht man ihn oft zusammen mit den jungen Leuten spielen oder singen.»

Die Medizin des hl. Bernhard

Doch mochte die Erziehermannschaft der Salesianer auch noch so aufopfernd gewesen sein, sie war nicht vollkommen. Wiederholt wurden Fehler begangen; trotzdem ließ der Erfolg der Neugründung nicht lange auf sich warten. Bald war das Große Seminar der Diözese voll von Neuberufenen, die vom Kleinen Seminar herkamen. Don Rua war sich dessen bewusst und sah sich einer heftigen Versuchung von Selbstgefälligkeit ausgesetzt. Er konnte noch so dagegen ankämpfen, sie setzte ihm immer wieder machtvoll zu. Schließlich vertraute er sich seinem Lehrer an; dieser schrieb ihm: «Um das Übel des Stolzes zu heilen, empfehle ich dir die Medizin des hl. Bernhard. Denke oft an seine berühmten Fragen: Woher kommst du? Was ist deine Aufgabe hier? Wohin gehst du? Die Besinnung auf diese wesentlichen Wahrheiten kann nach wie vor Heilige hervorbringen.»

1865 musste Don Rua die Gründung in Mirabello verlassen und zu Don Bosco nach Turin zurückkehren, der erkrankt und völlig überlastet war. Im großen Haus von Valdocco, das mittlerweile auch ein Internat beherbergte, lebten über 700 Schüler, unter denen sich eine gewisse Nachlässigkeit breitgemacht hatte. Mit bemerkenswertem Fingerspitzengefühl stellte Don Rua nach und nach die schlechten Angewohnheiten ab, bis im Haus wieder Disziplin einkehrte. Im Juli 1868 forderte die pausenlose Aktivität Don Ruas ihren Tribut: Er musste wegen einer heftigen Bauchfellentzündung das Bett hüten. Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Stunden zu leben. Als Don Bosco auf einem Tisch das heilige Öl für die Krankensalbung erblickte, sagte er: «Hör mir gut zu, Don Rua, ich sage dir, selbst wenn man dich, so wie du bist, aus dem Fenster werfen würde, würdest du nicht sterben.» Und tatsächlich befand sich der Kranke wenige Tage danach trotz aller wissenschaftlichen Prognosen außer Gefahr.

Ein unermüdlicher Arbeiter

Nach seiner Genesung übernahm Don Rua über die Hälfte der Aufgaben Don Boscos. 1869 vertraute ihm dieser auch die Ausbildung der Novizen an. Doch dieses zusätzliche Amt, das er sechs Jahre lang ausübte, entband Don Rua nicht von seinen anderen Aufgaben. Seinen unzähligen Arbeiten kam er mit seinem ebenso geordneten wie methodischen Geist nach, mit seiner Nervenstärke, seinem hervorragenden Gedächtnis, seinem Arbeitseifer, seiner Fähigkeit, sich helfen zu lassen, vor allem aber deshalb, weil er Don Bosco liebte und ihn entlasten wollte. Er versuchte, seinen ganzen Tagesablauf zu einem ununterbrochenen Gebet zu machen. Seine täglichen Werke, Sorgen und Mühen wollte er in ein Gebet verwandeln. Sein ganzes Handeln fand unter den Augen Jesu und Marias statt.

Der Eifer, mit dem Don Rua für die Einhaltung der Regeln und für Disziplin sorgte, entfremdete ihm jedoch allmählich die Herzen der Kinder. Er war mehr gefürchtet denn geliebt. Im Haus kursierte der Spruch: «Besser ein 'Nein' von Don Bosco als ein 'Ja' von Don Rua.» Daraufhin entzog ihm Don Bosco die Verantwortung als Präfekt und nahm ihn ganz zu sich; er sollte sich um die allgemeinen Interessen der Kongregation kümmern und ihn auf seinen Reisen durch Europa begleiten. Sie teilten nun alles miteinander, mitunter sogar die Fähigkeit, Wunder zu tun. Eines Tages brachte eine in Tränen aufgelöste Mutter einen von den Ärzten aufgegebenen Jungen, der nur noch wenige Tage zu leben hatte, zu Don Bosco. Der völlig überlastete Heilige bat Don Rua, dem Kleinen den Segen der Hilfreichen Gottesmutter zu spenden. Von Stund an war das Kind geheilt.

So eng die beiden Priester auch zusammenarbeiteten, jeder von ihnen blieb seiner Persönlichkeit treu. In geschäftlichen Dingen hatten sie manchmal heftige Auseinandersetzungen: Don Bosco, mehr auf sein Tagewerk konzentriert, war extrem waghalsig; der vorausschauende und berechnende Don Rua wollte das Unvorhersehbare soweit wie möglich eingrenzen.

1884 wurde der Gesundheitszustand Don Boscos besorgniserregend. Papst Leo XIII. ließ ihn diskret bitten, seine Nachfolge zu regeln. Am 24. September 1885 ernannte der Ordensgründer Don Rua zu seinem Nachfolger. Gestern noch ein Mann der Disziplin von sprichwörtlicher äußerer Strenge, benahm sich der neue Obere freundlicher, seine Stimme wurde sanft, auf seinem Gesicht leuchtete ein gütiges Lächeln auf. Don Bosco gab seine Seele am 31. Januar 1888 an Gott zurück. Don Rua schrieb: «Unsere Seele kann sich nur mit dem Gedanken trösten, dass unser unendlich gütiger Gott nur Gerechtes und Weises tut.» Am Abend dieses Tages, als jedermann die kleine Kirche verlassen hatte, in der der Verstorbene in einem Sessel ruhend aufgebahrt war, verbrachte Don Rua zwei Stunden in Gebet vor ihm. Als er sich erhob, war seine Seele von einer neuen Kraft für die vor ihm liegende schwere Aufgabe erfüllt. Bald danach sagte er anlässlich einer Audienz bei Papst Leo XIII.: «Ich höre Don Bosco noch einige Stunden vor seinem Tod zu uns sagen: 'Der Papst, der Papst, die Salesianer sind für die Verteidigung der Autorität des Papstes, überall und immer'.» Bei dieser Unterredung riet der Heilige Vater Don Rua, die weitere Ausbreitung der Kongregation zu unterbrechen, um das bereits Vorhandene zu festigen. Zwei Jahre lang konnten dank der Unterbrechung die erhoffte Konsolidierung und die Begleichung der dringendsten Schulden vorangetrieben werden. Doch ab Ende 1889 gab es wieder mehr Gründungen, die sich über die ganze Welt ausbreiteten.

Die Ziele des Jugendwerks

Als eifriger Befürworter der Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu schrieb Don Rua an seine Söhne: «Sie ist alles, was das spezifisch Salesianische ausmacht, denn als Erzieher werden wir aus dem Heiligsten Herzen unseres Meisters die reine Liebe zur Jugend, die Milde und die Sanftmut schöpfen, die unsere Worte und Taten begleiten müssen, die Geduld bei Auseinandersetzungen und Ärgernissen während unserer Arbeit, den Opfergeist und die Inbrunst.» In seinen Rundbriefen legte Don Rua den Salesianern vor allem die Erziehungsheime ans Herz, damit diese ihren ursprünglichen Zielen treu blieben: «Musik, Theater und Sport sind Mittel, nichts anderes. Wo sie nützlich sind, und nur dort, darf man sich ihrer bedienen; doch immer mit Bedacht, um die Jugend anzuziehen und die Ausdauer zu fördern. Das Ziel sind der Religionsunterricht und die Seelenbildung.» Damit die Jugendlichen, die aus den Internaten der Salesianer hervorgingen, bei der Stange blieben, förderte er Vereinigungen ehemaliger Schüler. Schließlich sorgte er für ein Milieu, welches dem Aufblühen und Gedeihen jeglicher in den Einrichtungen seiner Kongregation gekeimten Berufung förderlich war.

Sein Einsatz für die Jugend machte ihn so kühn, dass man ihn gar nicht wiedererkannte. Um seine Werke zu finanzieren, mahnte er wohlhabende Leute an ihre Pflicht, den Ärmsten zu helfen, sowie an die geistliche und zeitliche Wirkung von Almosen. Im Frühling eines jeden Jahres zwischen 1889 und 1909 brach er zu einer etwa dreimonatigen Reise auf. Er legte über 100 000 km zurück, um jede seiner Gemeinschaften zu besuchen, obwohl das Reisen ihm sehr schwerfiel: Er konnte sich nie an Schiffsreisen gewöhnen, litt unter nächtlichen Eisenbahnfahrten und passte sich nur schwer der Ernährung und den Gebräuchen in den verschiedenen Ländern an. Mit dem Alter nahmen auch seine Beschwerden zu: Seine Beine waren vor Krampfadern angeschwollen und mit Wunden übersät, seine Augenlider stets entzündet und nässend.

Diese Jahre waren auch von leidvollen Ereignissen geprägt. 1895 wurde ein Salesianerpater von einem halbverrückten Schüler ermordet. Fünf Monate später fielen Bischof Lasagna, eine der großen Hoffnungen der Salesianischen Gesellschaft, sein Sekretär und vier Don-Bosco-Schwestern einem Eisenbahnunglück in Südamerika zum Opfer. Vier Jahre danach wurden in Argentinien die Früchte von zehn Jahren Missionsarbeit durch eine Überschwemmung zunichte gemacht. In Frankreich verlangte die Regierung durch das sogenannte Vereinsgesetz vom 2. Juni 1901 die Schließung und den Verkauf der Salesianischen Einrichtungen. 1907 wurde in einem Heim ein falsches Sittenskandal inszeniert und damit in ganz Italien ein heftiger Sturm gegen die Salesianer entfacht. Don Rua hatte noch nie einen so traurigen Eindruck gemacht wie in diesen Tagen. Zu bestimmten Zeiten man sah man ihn mit dem Kopf zwischen den Händen lange in Nachdenken und Gebet versunken. Schließlich gelobte er, eine Pilgerreise ins Heilige Land zu unternehmen, wenn die Ehre seiner Ordensfamilie vollständig wiederhergestellt würde. Er wurde erhört und erfüllte 1908 sein Gelübde.

Don Rua war von empfindlichem Gemüt und bat eines Tages: «Teilt mir abends keine schlechten Nachrichten mit, ich kann dann die ganze Nacht nicht schlafen.» Es wurde ihm in diesen Jahren mehrfach auch große Freude zuteil. Seine Ordensfamilie gedieh wunderbar: Er hatte von Don Bosco die Führung über 700 Ordensleute in 64 auf sechs Länder verteilten Häusern übernommen und hinterließ selbst seinem Nachfolger 4000 Ordensleute und 341 auf dreißig Länder verteilte Häuser. Drei seiner Zöglinge wurden vom Papst zu Bischöfen ernannt, zwei davon für die Mission. Am 24. Juli 1907 wurde Don Bosco für verehrungswürdig erklärt: Das war der erste Schritt zur Heiligsprechung. Eine der letzten großen Freuden Don Ruas Ende 1908 war die Fertigstellung der Kirche Santa Maria Liberatrice in Rom, um deren Errichtung ihn der Papst gebeten hatte. Das durch den damals vorherrschenden Antiklerikalismus verunsicherte Volk sah sich in seinem Glauben bestärkt und strömte in die neue Kirche.

«Seine Seele retten, das ist alles, das ist alles!»

Im Herbst 1909 war Don Rua völlig erschöpft und wurde bettlägerig. Im folgenden April waren seine Schmerzen so stark, dass ihm einmal sogar eine Klage über die Lippen kam: «Muss man zum Sterben noch mehr leiden als ich jetzt?» Am 6. April 1910 murmelte er zum letzten Mal das Stoßgebet, das er noch im Kindesalter von Don Bosco gelernt hatte: «Heilige Jungfrau, meine liebe Mutter, mach, dass ich meine Seele rette!» Er setzte noch hinzu: «Ja, seine Seele retten, seine Seele retten, das ist alles, das ist alles!» Um 9 Uhr 30 gab er ohne zu klagen und reglos seine Seele in die Hand Gottes zurück.

Don Rua, der am 29. Oktober 1972 von Papst Paul VI. seliggesprochen wurde, stellt eine der schönsten von Don Bosco angeregten Früchte der Heiligkeit dar. «In der Kirche und in der Welt ist die von Johannes Bosco verkörperte ganzheitliche Erziehungsvision eine realistische Schule der Heiligkeit», schreibt Papst Johannes-Paul II. «Wir müssen dringend zum wahren Begriff der Heiligkeit als Bestandteil des Lebens eines jeden Gläubigen zurückfinden.» Das Geheimnis Don Boscos, der die Jugend Spiritualität lehrte, «bestand darin, die Grundbedürfnisse der Jugendlichen nicht zu enttäuschen (das Bedürfnis nach Leben, Liebe, Entfaltung, Freude, Freiheit, Zukunft), sondern sie nach und nach auf realistische Art und Weise an die Erfahrung heranzuführen, dass nur im 'Leben der Gnade', d.h. in der Freundschaft mit Christus, sich die echtesten Ideale voll verwirklichen» (31. Januar 1988).

Bitten wir den seligen Don Rua, er möge uns lehren, durch die alltäglichsten Handlungen unseres Lebens in der Freundschaft mit Christus, d.h. in wachsendem Gnadenzustand zu leben.

Dom Antoine Marie osb