Brief

25. November 1998

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25. November 1998
Hl. Katharina v. Alexandrien


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

In einer christlichen Familie aus der Pariser Region kam am 20. November 1970 ein Kind auf die Welt, das bei der heiligen Taufe den Vornamen Emmanuel erhielt. Es hatte zwei Geschwister, Vincent und Anne. Die Geburt wurde in der ganzen Familie mit überschwenglicher Freude begrüßt. Der Vater, Herr D., begab sich unfehlbar jeden Abend auf die Entbindungsstation, wo seine beiden Schätze, die Mutter und Emmanuel, lagen; und jedesmal empfand er das gleiche, immer noch neue Glück.

,,Er kann nicht saugen"

Drei Tage später eilte Herr D. mit einem Blumenstrauß wieder in die Klinik. Er betrat die Schwelle des Zimmers. Doch da blieb er wie festgenagelt stehen: Vom Bett aus wandte ihm seine Frau ein in Tränen aufgelöstes Antlitz zu. Sie sieht ihn fest an, streckt ihm die Arme entgegen und sagt schluchzend, mit erstickter Stimme: ,,Unser Kind ist nicht normal!" Instinktiv richtet sich der Blick des Vaters auf die Wiege, wo der Neugeborene mit geballten Fäustchen schläft. ,,Ich sehe nichts Unnormales; hat dir das jemand gesagt?" fragt er seine Frau. - ,,Nein, niemand; aber ich weiß es, ich fühle es, er bewegt sich nicht, er weint nicht, er kann nicht saugen."

Die beiden Ehegatten blieben den ganzen Nachmittag über zusammen bei ihrem Kind. Am nächsten Tag beschloß Frau D., das Kind von einem Kinderarzt untersuchen zu lassen. Der Spezialist befragte zunächst behutsam die Frau, dann den Mann und begann dann überaus ruhig, das Baby ausführlich und methodisch zu untersuchen. Schließlich wandte sich der Mediziner mit einem Blick voller Freundschaft und Liebe an sie. Zartfühlend kommentierte er erst seine Diagnose, bevor er sie abschließend mitteilte: ,,Ihr Kind wird nicht so sein wie die anderen." Mit größtem Mitgefühl brachte er ihnen bei, daß Emmanuel von Trisomie 21 betroffen, d.h. ,,mongoloid" war.

Wir werden es lieben wie die anderen!

Herr D. mußte nun die Familie informieren. Als er heimkam, fand er die Großeltern, Onkel und Tanten Emmanuels vor, die sich nach den Neuigkeiten erkundigen wollten. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten und stammelte: ,,Mongoloid". Allgemeine Betroffenheit. Dann gewinnt man die Fassung wieder, und von allen Lippen kommt spontan derselbe Satz: ,,Wir werden es lieben... wie die anderen." ,,Die anderen", Vincent und Anne, sind auch da und stimmen dem voll zu: ,,Ja, wir werden es lieben!"

,,Wir werden es lieben!" Eine wundervolle Antwort, die ein Licht für unsere Welt darstellt. Die christliche Haltung der Familie Emmanuels steht in Gegensatz zu der in unseren Gesellschaften ach so häufigen Ablehnung des behinderten Kindes, das - wie man denkt - unfähig ist, glücklich zu sein und andere glücklich zu machen. Papst Johannes-Paul II. stellt zu diesem Thema fest: Wir stehen einer Wirklichkeit gegenüber, die gekennzeichnet ist ,,von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen Fällen als wahre ,Kultur des Todes` herausstellt... Wer durch seine Krankheit, durch seine Behinderung oder, noch viel einfacher, durch sein bloßes Dasein den Wohlstand oder die Lebensgewohnheiten derer in Frage stellt, die günstiger dastehen, wird zunehmend als Feind angesehen, gegen den man sich verteidigen bzw. den man ausschalten muß. Auf diese Weise wird eine Art ,Verschwörung gegen das Leben` entfesselt" (Enzyklika Evangelium vitae, 12).

Warum hat jedes menschliche Leben einen unendlichen Wert? Die Heilige Schrift gibt bereits auf den ersten Seiten eine starke und bewundernswerte Antwort auf diese Frage. Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, unterscheidet sich deutlich von dem Leben jedes anderen lebendigen Geschöpfs. Nur die Schöpfung des Menschen wird als die Frucht eines speziellen Entschlusses von Gott dargestellt: Am Ende der Erschaffung der Welt beschließt Gott feierlich: Lasset uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich (Gen 1, 26). Dem Menschen wird eine sehr hohe Würde verliehen, die ihre Wurzeln in der innigen Verbindung hat, die ihn mit seinem Schöpfer vereint: Im Menschen erstrahlt ein Widerschein der Wirklichkeit Gottes selbst (vgl. Evangelium vitae, 34). Dieser Widerschein wird durch geistige Behinderung nicht ausgelöscht.

Ich werde dich nie vergessen!

Weil er nach dem Abbild Gottes ist, weil er als das einzige der sichtbaren Geschöpfe mit einem Verstand und einem freien Willen begabt ist, ist der Mensch fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und ihn zu lieben. Er ist aufgerufen, eine persönliche Liebesbeziehung mit Ihm einzugehen, selbst wenn diese Beziehung für einige Zeit, d.h. während des ganzen irdischen Lebens, erschwert oder geheimnisvoll ist. ,,Versuchen wir zu begreifen, wie zärtlich die Liebe Gottes ist", sagte Mutter Teresa aus Kalkutta. ,,Denn Er selbst sagt in der Schrift: Vergißt eine Mutter den Sohn ihres Schoßes? Mögen selbst diese vergessen, ich aber vergesse dich nicht! Siehe, auf meine Hände habe ich dich gezeichnet (Jes 49, 15-16). Wenn du dich alleine, wenn du dich zurückgestoßen fühlst, wenn du dich krank und vergessen fühlst, dann besinne dich darauf, daß du Ihm kostbar bist. Er liebt dich. Du bist von großer Bedeutung in seinen Augen."

Die Wichtigkeit jeder Person in den Augen Gottes wird uns durch das Werk der Erlösung, des Loskaufs von der Sünde, noch klarer demonstriert. Darin besteht diese Liebe: Nicht daß wir Gott liebten, sondern daß er uns liebte und seinen Sohn sandte zur Sühne für unsere Sünden (1 Joh 4, 10). ,,Beim Betrachten des kostbaren Blutes Christi..., lernt der Gläubige die gleichsam göttliche Würde jedes Menschen kennen und schätzen und kann mit immer neuem und dankbarem Staunen ausrufen: Welchen Wert muß der Mensch in den Augen des Schöpfers haben, wenn ,er verdient hat, einen solchen und so großen Erlöser zu haben` (Exultet der Osternacht), wenn Gott seinen Sohn hingegeben hat, damit er, der Mensch, nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat (vgl. Joh 3, 16)!" (Evangelium vitae, 25).

,,Gottes Kind, ganz und gar"

Das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat, ist nicht auf die bloße zeitliche Existenz beschränkt. Es soll die ganze Ewigkeit über währen. Der heilige Apostel Johannes schreibt: Seht, welch große Liebe uns der Vater geschenkt hat: Kinder Gottes heißen wir und sind es... Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes; aber noch ist es nicht offenbar, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn er sich offenbaren wird, werden wir ihm ähnlich sein; denn wir werden ihn schauen, wie er ist (1 Joh 3, 1-2).

Diese Wahrheit hob der Großvater Emmanuels hervor, als er schrieb: ,,Die Taufe meiner Kinder (und Enkelkinder) war jedesmal ein großer Augenblick für mich. Heute scheint man die Betonung auf den ,Eintritt in die Kirche` zu legen. Das ist gut. Aber ich meinerseits, ich sehe darin vor allem die wirkliche Geburt dieses Kindes aus unserem Fleische zum Leben Gottes selbst. Emmanuel wird weder die intellektuelle Entwicklung noch die körperlichen Fähigkeiten der anderen Kinder erreichen. Doch darin liegt, ich weiß es, ich spüre es, keine Minderwertigkeit; er ist Gottes Kind, ganz und gar, die Krankheit kommt gegen diese wesentliche Würde nicht an."

,,So erreicht die christliche Wahrheit über das Leben ihren Höhepunkt. Die Würde dieses Lebens hängt nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm" (Evangelium vitae, 38). Diese Gemeinschaft der Liebe ist nicht nur einer Elite von vollkommen beschaffenen Menschen vorbehalten. Sie erstreckt sich auch auf alle ,,Armen" im Leibe und im Geiste.

Bis an seine Grenzen gehen

Geliebte, wenn Gott uns so liebte, müssen auch wir einander lieben (1 Joh 4, 11). Die geduldige Erziehung Emmanuels ist ganz von dieser Liebe durchdrungen, zu der uns der heilige Johannes ermahnt. Sie setzt eine genaue Information über die Art der Behinderung des Kindes voraus. Professor Jérôme Lejeune, der 1959 den Grund der Trisomie 21 entdeckt hat, erklärt, daß diese Krankheit ein Chromosomenunfall ist. Das ,,mongoloide" Kind besitzt alle Organe, die ganze dem Menschen eigene genetische Maschinerie ohne ,,Irrtum in den Konstruktionsplänen"; es zeigt lediglich einen Überschuß an genetischer Information, da seine Zellen zufällig ein Chromosom zuviel haben. Es handelt sich um eine Krankheit, die die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten behindert, ohne das Gedächtnis oder das Gefühlsleben des Betroffenen zu beeinträchtigen. Die Medizin gibt die Hoffnung nicht auf, eines Tages die Opfer dieses Übels heilen zu können.

Wie bei der Mehrzahl der Trisomiekranken, fiel bei Emmanuel seine besondere Bewegungsarmut auf. Doch Frau D. fand sich mit dieser Schicksalsfügung nicht ab: Hartnäckig trieb sie ihn an, bis an seine Grenzen zu gehen. Wenn er nach vorne fiel, kam es ihm gar nicht in den Sinn, seinen Kopf mit den Händen zu schützen. Seine Mutter brachte ihm auf einer Matratze bei, wie man beim Hinfallen die Arme nach vorne streckt, bis er es automatisch tat. Um ihn das Gehen zu lehren, nahm sie einen seiner Füße und drückte ihn auf den Boden, dann den anderen; und das Tag für Tag, bis zu dem Augenblick, in dem er ganz allein lief: ein Wunder der Geduld! Dieselben Handgriffe, bis er lernte, eine Treppe hinauf- und herabzusteigen...

Es kostete ihn viel Kraft, bis er seine Zunge, seine Lippen und seine Zähne an den Gebrauch der Vokale und Konsonanten gewöhnte. Er sprach gern, doch seine Aussprache war oft undeutlich. Verstand man ihn nicht, so ließ man ihn einmal, zweimal, dreimal wiederholen: Schließlich wurde er es müde, nahm den Kopf ein oder zwei Minuten lang in die Hände, blickte auf und sprach dann deutlich das Wort oder ein Synonym dafür aus. Er war sich des Guten und des Bösen, des Erlaubten und des Verbotenen klar bewußt. Er beschäftigte sich, zerstreute sich und verbreitete Fröhlichkeit. Dann war da sein neckischer Geist, seine Ausgelassenheit, der es nie an Phantasie mangelte. Das Lachen war charakteristisch für seine Art. Er liebte den Sport: Beim Fußball konnte er hervorragend schießen, beim Judo war er gefürchtet. Gleichgewichtsübungen am Seil jagten ihm keine Angst ein: Er bewältigte sie immer.

Wie eine Wasserschicht

Im allgemeinen waren alle, die Emmanuel näherkamen, von verschiedenen Zügen seines Charakters bezaubert. Zunächst schenkte er allen rückhaltlos sein Vertrauen. Dann war sein Blick, den er auf einen richtete, von grenzenloser Sanftmut, und er dehnte diese auf alle aus wie eine Wasserschicht, die sich in alle Hohlräume ergießt, denen sie begegnet. Er überschwemmte einen mit seiner Zärtlichkeit. Schließlich konnte er sich selbst vergessen, um sich mit anderen zu beschäftigen. Er liebte es, auf kleinere Kinder aufzupassen, ihnen zu helfen. Oft hatte er ein nettes Wort, einen netten Spruch für seine Umgebung. Freude zu machen, war ihm zur zweiten Natur geworden. Seine Behinderung war nicht behoben, doch sie war abgemildert, überwunden.

Der Fall von Emmanuel bestätigt das Zeugnis von Jean Vanier, dem Begründer der Arche: Die wohlwollende Aufmerksamkeit für die Behinderten ,,wird nach und nach zu einer Gemeinschaft der Herzen, denn die betreffende Person, selbst mit einer schweren Behinderung, antwortet auf Liebe mit Liebe... Das ist ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens, das das verletzte und depressive Bild dieser Person in ein positives Bild wendet, indem es sie ihren Wert, ihre Würde entdecken läßt und ihr Hoffnung und Lebensmotiv schenkt... Schwache Menschen haben eine geheimnisvolle Macht, die zur Gemeinschaft ruft und diejenigen verändert, die sie annehmen, indem sie sie dem Herzen Gottes näherbringt. Sie sind eine Quelle der Einheit."

Im Leiden... mit Jesus

Am 30. Januar 1976 bekam Emmanuel heftiges Nasenbluten, gefolgt von Fieberattacken. Am 17. März kam er ins Salpétrière-Krankenhaus nach Paris, wo ihm das Knochenmark punktiert wurde. Die Untersuchungen ergaben, daß Emmanuel an Leukämie erkrankt war. Während der zahlreichen Krankenhausaufenthalte in den kommenden sieben Jahren wechselten sich seine Eltern mit anderen ab, damit er nie allein war. In den Zeiten des Stillstands durfte er sich zu Hause aufhalten, doch zum Schluß häuften sich die Rückfälle: Juli 82, April 83, Juli 83.

Sehr früh hatte Emmanuel den Wunsch verspürt, Jesus zu empfangen. ,,Und ich?" fragte er jedes Mal, wenn er seine Mutter zur Kommunion gehen sah. Während der sonntäglichen Messen sah man ihn selten zerstreut, und bei den Dingen, die Gott angingen, war er stets ,,ganz bei der Sache". Es kam sogar vor, daß er Kinder schalt, die in der Kirche Krach machten, oder daß er ihnen ein Zeichen machte, sie sollten schweigen. Sein Glaube reifte von Tag zu Tag. Er fühlte sich immer mehr zur ,,Jesus-Hostie" hingezogen. Am Gründonnerstag des Jahres 1978 empfing er Ihn zum ersten Mal. Von diesem Tage an ging er bei jeder Messe mit tiefer Sammlung und großem Verlangen zur Kommunion. Eines Tages kehrte er nach der Kommunion in einer Gemeinde in Auxerre nicht mit den Eltern an seinen Platz zurück, sondern blieb in einem Chorstuhl sitzen, den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt. Sein Vater bückte sich zu ihm hinunter und fragte: ,,Was machst du da, Emmanuel? - Ich bete zu Maria, damit Mama nicht mehr weint." Am 24. April 1983 empfing er die heilige Firmung.

Diese Sensibilität, diese Öffnung zum Göttlichen hin werden von den meisten Trisomiekranken geteilt. Jesus, der an die Tür aller Herzen klopt, sieht, wie eilig diese Kleinen Ihm aufmachen. Jean Vanier behauptet in einem Kommentar zu einer Ansprache von Papst Paul VI., in der dieser die Behinderten zum Streben nach Heiligkeit aufrief: ,,Ja, manche geistig behinderte Menschen sind Heilige. Durch ihre Schlichtheit, durch ihren Durst nach Liebe und ihre Öffnung für Jesus, beschämen sie die Großen dieser Welt, die, die nicht im Geiste des Dienens und der Gemeinschaft der Herzen nach Effizienz und Macht suchen. Sie sind sehr arm und beschränkt, doch sie sind reich an Glauben, wie der heilige Apostel Jakobus uns in Erinnerung ruft: Hört, meine geliebten Brüder! Hat nicht Gott die vor der Welt Armen auserwählt zu Reichen im Glauben und zu Erben des Reiches, das er denen verhieß, die ihn lieben? (Jak 2, 5).

Ein abscheuliches Verbrechen

Dennoch gehören die Behinderten zu den am meisten Unterdrückten unserer Welt, trotz der Fortschritte, die in bestimmten Ländern erzielt worden sind. Viele, und es werden immer mehr, werden bereits im Schoße ihrer Mutter umgebracht. Eines Tages wurde Professor Lejeune in seiner Sprechstunde von einem zehnjährigen Trisomiekranken aufgesucht, der sich ihm in die Arme warf und rief: ,,Man will uns umbringen; du mußt uns beschützen, weil wir viel zu schwach sind, wir werden uns nicht verteidigen können!" Am Abend vorher hatte er mit seinen Eltern eine der ersten Fernsehsendungen über die Abtreibung gesehen, in der erklärt wurde, daß dank der pränatalen Diagnostik es nun möglich sei, die Trisomie 21 zu entdecken und diese unerwünschten Kinder zu beseitigen. Von diesem Tage an verteidigte der Professor unermüdlich das ungeborene Kind. ,,Die vorgeburtlichen Diagnosen, gegen die es keine moralischen Bedenken gibt, sofern sie vorgenommen werden, um eventuell notwendige Behandlungen an dem noch ungeborenen Kind festzustellen, werden allzu oft zum Anlaß, die Abtreibung anzuraten oder vorzunehmen" (Johannes-Paul II., Evangelium vitae, 14).

Nun ist die Abtreibung an sich stets eine sehr schwere Sünde. Papst Johannes-Paul II. schreibt: ,,Das Gebot ,du sollst nicht töten` hat absoluten Wert, wenn es sich auf den unschuldigen Menschen bezieht. Und das umso mehr, wenn es sich um ein schwaches und schutzloses menschliches Lebewesen handelt, das einzig in der absoluten Kraft des Gebotes Gottes seinen radikalen Schutz gegenüber der Willkür und Gewalttätigkeit der anderen findet... Die willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich und kann niemals, weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden... Niemand und nichts kann in irgendeiner Weise zulassen, daß ein unschuldiges menschliches Lebewesen getötet wird, sei es ein Fötus oder ein Embryo, ein Kind oder ein Erwachsener, ein Greis, ein von einer unheilbaren Krankheit Befallener oder ein im Todeskampf Befindlicher. Außerdem ist es niemandem erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder für einen anderen, der seiner Verantwortung anvertraut ist, zu erbitten, ja man darf in eine solche [Handlung] nicht einmal explizit oder implizit einwilligen. Auch kann sie keine Autorität rechtmäßig auferlegen oder erlauben" (ibid. 57).

Die Dinge beim Namen nennen

Heute hat sich im Bewußtsein vieler Personen die Wahrnehmung der Schwere der Abtreibung nach und nach verdunkelt. ,,Die Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise des sittlichen Bewußtseins, das immer weniger imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, selbst dann, wenn das Grundrecht auf Leben auf dem Spiel steht. Angesichts einer so ernsten Situation bedarf es mehr denn je des Mutes, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne bequemen Kompromissen oder der Versuchung zur Selbsttäuschung nachzugeben. In diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen (Jes 5, 20)" (Evangelium vitae, 58).

Manche versuchen die Abtreibung mit der Behauptung zu rechtfertigen, die Frucht der Empfängnis könne bis zu einer bestimmten Anzahl von Tagen noch nicht als persönliches menschliches Leben betrachtet werden. In Wirklichkeit hat die moderne Genetik gezeigt, daß vom ersten Augenblick an das Programm dessen feststeht, was aus diesem lebendigen Etwas wird: Eine Person, diese bestimmte Einzelperson mit ihren schon festgelegten charakteristischen Merkmalen" (Kongregation für die Glaubenslehre, 18. November 1974). Kraft seiner durch die Wissenschaft erworbenen ähnlichen Überzeugung pflegte Professor Lejeune gerne zu sagen: ,,Der materialistischste Medizinstudent muß zugeben, daß das menschliche Dasein mit der Empfängnis beginnt, sonst fällt er durch!"

Du bist zu müde!

Am 7. September 1983 eröffnete der Spezialist den Eltern Emmanuels, daß man nun nichts mehr tun könne. Auch an den letzten Sonntagen wollte Emmanuel zur Messe gehen und behilflich sein, obwohl er am Ende seiner Kräfte war. Sein Bruder versuchte ihn davon abzubringen: ,,Du bist zu müde und wirst dich dann nicht hinknien können." Daraufhin legte Emmanuel einen außerordentlichen Mut an den Tag, um zu zeigen, daß er hingehen kann und will: Er stützte sich auf seine Beine, erhob sich vom Boden, machte aufrecht, ohne Unterstützung, eine Kniebeuge, und richtete sich dann gerade wieder auf. Er würde hingehen, um Jesus zu dienen.

Am 27. September ging aber nichts mehr. Emmanuel konnte nur noch in seinem Bett stöhnen. Sein Vater und seine Mutter beugten sich gemeinsam über ihn. Das Kind sagte leise, aber klar: ,,Ich liebe dich sehr, weißt du, Papa. - Ich liebe dich sehr, weißt du, Mama." Das waren seine letzten Worte an seine Eltern. Er hatte ihnen ,,Auf Wiedersehen, im Himmel" gesagt.

,,Emmanuel, Gott mit uns, wird ein Symbol voller Hoffnung bleiben. Denn die Christen sind Leute, für die die Geburt, das Leben und der Tod eines behinderten Kindes mehr bedeuten als aller Beifall, der Idolen gespendet wird, als alle Reiche und als alles Gold der Welt" (Predigt bei Emmanuels Trauerfeier). Mögen die seligste Jungfrau Maria und der heilige Josef uns lehren, in all unseren Brüdern und Schwestern, insbesondere den Ärmsten, Jesus zu sehen und ihm zu dienen! Wir Mönche beten für Sie, für Ihre Verstorbenen und für all Ihre Anliegen.

Dom Antoine Marie osb

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