Brief

11. Juni 1998

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11. Juni 1998
Fronleichnam


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Während der Weltjugendtage im letzten August sagte Papst Johannes-Paul II.: ,,Geliebte, laßt uns einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe (1 Joh 4, 7-8). Dieses Wort des Apostels ist in Wirklichkeit das Herz der Offenbarung". Um allen ein greifbares Vorbild in der Liebe zu Gott und zu unserem Nächsten zu geben, sprach der Heilige Vater anschließend in der Kathedrale Notre-Dame de Paris Frédéric Ozanam selig.

In den Augen einer Mutter...

Obwohl sie Franzosen waren, lebten Jean-Antoine Ozanam und seine Frau Marie in Mailand, als ihr Sohn Frédéric 1813 geboren wurde. Sie kehrten erst 1816 nach Lyon zurück. Frédéric war zutiefst durch die Erziehung seiner Eltern geprägt, die sich unermüdlich Gott und den Armen widmeten: ,,Auf den Knien meiner Mutter habe ich die Furcht vor dir gelernt, Herr, und in ihren Augen die Liebe zu dir". Doch das Kind war von Geburt an schwächlich. Mit sechs Jahren wurde es von einem typhösen Fieber niedergestreckt, und genas von dieser schweren Krankheit nur dank der wunderbaren Intervention des heiligen Jean-Francois Régis, zu dem seine Angehörigen inbrünstig gebetet hatten.

Trotz seiner engelhaften Reinheit, seiner ungekünstelten Aufrichtigkeit und seines zarten Mitgefühls für jedes Leid hatte Frédéric einen durchaus schwierigen Charakter. In einem Brief an einen ehemaligen Klassenkameraden beschrieb er sich folgendermaßen: ,,Nie war ich boshafter als im Alter von acht Jahren. Ich war eigensinnig, jähzornig und ungehorsam. Wurde ich bestraft, so sträubte ich mich gegen die Strafe... Ich war in höchstem Grade faul. Es gab keine Streiche, die mir nicht in den Sinn gekommen wären". Mit neun Jahren wurde er von seinem Vater zum Besuch der fünften Klasse ins königliche Kollegium von Lyon eingeschrieben. Dort wurde sein Charakter dank der Güte seiner Lehrer fügsamer.

Echte Wissenschaft widerspricht dem Glauben nicht

Mit fünfzehn Jahren machte Frédéric eine Zeit der Glaubenszweifel durch. Unter dem Einfluß des herrschenden, von Unglauben geprägten Klimas fragte er sich schließlich, warum er glaubte. Widersprachen die neueren Entdeckungen der Wissenschaft nicht dem Glauben? Konnte die Vernunft überhaupt mit Sicherheit die Existenz Gottes erkennen?... Diese Fragen bewegten ihn. Mitten in der schlimmsten Anfechtung versprach er dem Herrn, sein ganzes Leben der Verteidigung der Wahrheit zu widmen, wenn er diese vor seinen Augen gnädig aufleuchten lasse. Gott erhörte ihn und führte ihn zu Abbé Noirot. Dieser Priester und Professor der Philosophie lehrte ihn, den Glauben durch den rechten Gebrauch seiner Vernunft zu untermauern. Bisweilen denkt man, daß man sich zwischen Glauben und Vernunft entscheiden muß; doch das stimmt nicht. ,,Auch wenn der Glaube über der Vernunft steht", lehrt das 1. Vatikanische Konzil, ,,so kann es dennoch niemals eine wahre Unstimmigkeit zwischen Glauben und Vernunft geben: denn derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, hat in den menschlichen Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch [kann] jemals Wahres Wahrem widersprechen" (Zitiert im Katechismus der Katholischen Kirche, 159). ,,Bevor sich Gott dem Menschen in Worten der Wahrheit offenbart, offenbart er sich ihm durch die allgemeine Sprache der Schöpfung, des Werkes seines Wortes, seiner Weisheit, in der Ordnung und Harmonie des Kosmos, die sowohl das Kind als auch der Wissenschaftler entdecken kann. Von der Größe und Schönheit der Geschöpfe läßt sich auf ihren Schöpfer schließen (Weish 13, 5)" (Katechismus, 2500).

Abbé Noirot nahm Frédéric gerne als Begleiter auf seinen Spaziergängen mit. Dabei wurden zwischen Lehrer und Schüler die Fragen der Harmonie zwischen Wissenschaft und Glauben erörtert. Allmählich machten die Zweifel Frédérics der Gewißheit Platz. ,,Seit einiger Zeit", schrieb er später, ,,fühlte ich bereits das Bedürfnis nach etwas Festem in mir, woran ich mich festklammern und worin ich Wurzeln schlagen konnte, um dem Ansturm des Zweifels Widerstand zu leisten. Heute ist meine Seele von Freude und Trost erfüllt. In Einklang mit meinem Glauben fand meine Vernunft jetzt jenen Katholizismus wieder, der mir durch den Mund einer hervorragenden Mutter gelehrt wurde und der meiner Kindheit so teuer war".

Die Angriffe der falschen Wissenschaft

1830 schickten Herr und Frau Ozanam ihren Sohn nach Paris, damit er Rechtswissenschaften studiere. Frédéric schloß sich dort einer Gruppe intelligenter und glaubensfester junger Katholiken an: ,,Wir hatten das Bedürfnis, unseren Glauben inmitten der Angriffe zu stärken, denen er von den verschiedenen Systemen der falschen Wissenschaft ausgesetzt war". Die doktrinelle Bildung ist in der Tat von großer Bedeutung, denn die menschliche Denkfähigkeit braucht die Erleuchtung durch die offenbarten Wahrheiten über Gott, unseren Herrn Jesus Christus und seine Kirche. Ohne dieses Licht des Glaubens ist der Mensch blind, wie der heilige Papst Pius X. schrieb: ,,Dort, wo der Geist von der Finsternis eines dichten Unwissens umhüllt ist, ist das Fortbestehen eines rechten Willens oder guter Sitten unmöglich... Wenn das Licht des Glaubens nicht völlig erloschen ist, gibt es Hoffnung auf eine Besserung der verdorbenen Sitten; wenn aber die beiden Dinge zusammenkommen, nämlich der Verfall der Sitten und der Mangel an Glauben aus Unwissenheit, wird für Abhilfe kaum Platz da sein, und der Weg ins Verderben steht offen" (Enzyklika Acerbo nimis, 15. April 1905). Die Kenntnis der christlichen Wahrheiten wird durch das Studium der Apologetik (der Wissenschaft, die den göttlichen Ursprung des Christentums aufzeigt), der Geschichte, vor allem aber einer systematischen Darstellung der katholischen Lehre, wie etwa des Katechismus, erworben.

Anläßlich der Veröffentlichung des Katechismus der Katholischen Kirche schrieb Papst Johannes-Paul II.: ,,Ein Katechismus muß getreu und organisch die Lehre der Heiligen Schrift, der lebendigen Überlieferung in der Kirche und des authentischen Lehramtes, ebenso wie das geistliche Erbe der Väter, der heiligen Männer und Frauen der Kirche darstellen, um das christliche Geheimnis besser erkennen zu lassen und den Glauben des Volkes Gottes neu zu verlebendigen... Möge das Licht des wahren Glaubens die Menschheit von der Unwissenheit und der Skaverei der Sünde befreien und sie so zur einzigen dieses Namens würdigen Freiheit hinführen: zu derjenigen des Lebens in Jesus Christus unter der Führung des Heiligen Geistes, hienieden und im Himmelreich, in der Fülle der Seligkeit der Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht!" (Johannes-Paul II., 11. Oktober 1992).

,,Der Katholizismus ist tot!"

Doch die doktrinelle Bildung und der historische Meinungsaustausch mit seinen Freunden aus dem Glauben heraus genügten Ozanam bald nicht mehr. Während der geschichtlichen Vorträge kam von den Zuhörern der Einwand: ,,Sie haben recht, wenn Sie von der Vergangenheit sprechen: Der Katholizismus hat einst Wunder bewirkt; doch heute ist er tot. Denn was machen Sie in Wirklichkeit, Sie, der Sie sich rühmen, Katholik zu sein? Wo sind die Werke, die ihren Glauben beweisen und die uns dazu bringen können, diesen Glauben zu respektieren und gelten zu lassen?" Durch diesen schicksalhaften Vorwurf getroffen, rief Ozanam: ,,Damit unser Apostolat von Gott gesegnet wird, fehlt ihm eines: die guten Werke. Die Wohltat für den Armen ist eine Wohltat für Gott". Und er machte sich, ohne länger zu zögern, ans Werk. Mit einem Freund, der sein Studentenzimmer teilte, trug er das wenige Brennholz, das ihm für die letzten Wintermonate noch geblieben war, zu einem armen Mann.

,,Im Glauben ihrer neuen Würde bewußt", lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche, ,,sollen die Christen fortan so leben, wie es dem Evangelium Christi entspricht (Phil 1, 27). Sie werden dazu befähigt durch die Gnade Christi und die Gaben seines Geistes, die sie durch die Sakramente und das Gebet erhalten. In der Nachfolge Christi und in Einheit mit ihm sind die Christen fähig, Gott nachzuahmen als seine geliebten Kinder (Eph 5, 1) und dem Weg der Liebe zu folgen. Sie suchen in ihrem Denken, Reden und Handeln so gesinnt zu sein, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht (Phil 2, 5) und sich an sein Beispiel zu halten" (Katechismus, 1692; 1694). Denn ,,Jesus ist gesandt, damit er den Armen die Frohbotschaft bringe (Lk 4, 18). Von der Krippe bis zum Kreuz teilt Jesus das Leben der Armen; er kennt Hunger, Durst und Entbehrung. Mehr noch: Er identifiziert sich mit den Armen aller Art und macht die tätige Liebe zu ihnen zur Voraussetzung für die Aufnahme in sein Reich" (Katechismus, 544).

Wohltäter für Körper und Seele

Am 23. April 1833 gründeten Frédéric und sechs seiner Freunde die ,,Konferenz der Liebe" unter dem Patronat des heiligen Vinzenz von Paul. So entstand das karitative Werk der Konferenzen des Heiligen Vinzenz von Paul, das heute 800 000 in 47000 Konferenzen organisierte Mitglieder in 132 Ländern zählt. ,,Ich will", hatte Ozanam gesagt, ,,die ganze Welt mit einem Netz der Nächstenliebe umspannen". - ,,Ein Anlaß zum Staunen für jeden, der die Geschichte der Kirche studiert - und für den Gläubigen eine Bestätigung ihres göttlichen Ursprungs -, ist die Tatsache der Bereitwilligkeit der christlichen Liebe, zu allen Zeiten Menschen und Werke zur Linderung aller Arten von Not aufzubieten", sagte Pius XII. am 27. April 1952.

Zum materiellen Almosen fügten die neuen ,,Brüder" die geistliche Wohltätigkeit hinzu: ,,Belehren, raten, trösten, ermutigen sowie vergeben und geduldig ertragen sind geistliche Werke der Barmherzigkeit" (Katechismus, 2447). ,,Sicherlich wird das Mitleid, das wir den Armen bezeugen, indem wir ihre Not lindern", sagte der heilige Papst Pius X., ,,von Gott großzügig gelobt; doch wer wird die Überlegenheit des Eifers und der Mühe leugnen, mit denen wir den Seelen durch unsere Belehrung und unsere Ratschläge nicht die vergänglichen Güter des Leibes, sondern ewige Güter spenden? Nichts kann wünschenswerter und Jesus Christus, dem Retter der Seelen, angenehmer sein, der selbst durch Jesaja von sich selbst sagte: Armen frohe Botschaft zu bringen, sandte er mich (Lk 4, 18)" (Enzyklika Acerbo nimis).

Die den Armen gespendeten materiellen und geistlichen Wohltaten zeigen die Vitalität der christlichen Liebe. Doch Ozanam dehnte seine Ansichten angesichts der Situation seiner Zeit aus und betrachtete die Erfordernisse der Liebe auch auf sozialer und politischer Ebene: ,,Die Frage, die die Menschen in unserer Zeit teilt", sagte er, ,,ist keine Frage der politischen Formen, sondern eine soziale Frage: Es geht darum, ob der Geist des Egoismus oder der Geist der Aufopferung den Sieg davontragen wird, ob die Gesellschaft nur eine riesige Ausbeutung zugunsten der Stärksten oder eine Aufopferung eines jeden im Dienste von allen sein wird".

Die Übel von heute

Das Denken und das Wirken Frédéric Ozanams und seiner Gefährten bieten uns ein nachzuahmendes Beispiel, wobei die neuen Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft berücksichtigt werden müssen. Denn auch wenn die sozialen Ungerechtigkeiten des letzten Jahrhunderts noch nicht allesamt überwunden sind, kommen in der heutigen Zeit andere, nicht minder schwerwiegende Störungen hinzu. Papst Johannes-Paul II. fordert uns dazu auf, diese zu erkennen, damit wir sie beheben können: ,,Lebt als Kinder des Lichts... Prüft, was dem Herrn gefällt, und habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis (Eph 5, 8.10-11). Im heutigen gesellschaftlichen Kontext, der von einem dramatischen Kampf zwischen der ,Kultur des Lebens` und der ,Kultur des Todes` gekennzeichnet ist, muß man einen starken kritischen Geist zum Reifen bringen, der die wahren Werte und die echten Erfordernisse zu erkennen in der Lage ist. Es bedarf dringend einer allgemeinen Mobilisierung der Gewissen und einer gemeinsamen sittlichen Anstrengung, um eine große Strategie zugunsten des Lebens in die Tat umzusetzen" (Enzylika von Johannes-Paul II. Evangelium vitae, 15. März 1995, Nr. 95).

,,Die Ausbeutung zugunsten der Stärksten", von der Ozanam sprach, äußert sich heute in der Vernichtung der Schwachen, d.h. der ungeborenen Kinder. Deswegen hört die Kirche nicht auf, das Verbrechen der Abtreibung anzuprangern. Sie ermahnt alle Menschen und insbesondere die Christen dazu, ihre Erfindungsgabe einzusetzen, um schwangeren Frauen, die diesem Drama ausgesetzt sind, beizustehen und ihnen beim Annehmen und bei der Erziehung ihres Kindes zu helfen (ohne Kompromiß mit unsittlichen, todbringenden Gesetzen). Die Verachtung des Lebens äußert sich auch in der Euthanasie. Die Mission der Christen besteht darin, allen, denen dieses Übel droht, zu Hilfe zu kommen: Kranken im Endstadium, alten Leuten, Behinderten usw. Eine moralische und geistliche Begleitung neben geeigneten schmerzlindernden Maßnahmen können in diesem Bereich sehr hilfreich sein.

Die Drogensucht ist ebenfalls eine Geißel der modernen Gesellschaft. Sie erreicht alle Kreise und alle Regionen der Welt. Bereits in der Schule gehört der Gebrauch bestimmter Drogen zum Alltag. Die Unterscheidung zwischen sanften und harten Drogen begünstigt das Übel. Johannes-Paul II. macht darauf aufmerksam, daß ,,eine solche Unterscheidung die mit jeder Einnahme toxischer Produkte verbundenen Gefahren vernachlässigt und verharmlost, insbesondere ,das Abhängigkeitsverhalten`, das auf den gleichen psychischen Strukturen beruht, ,die Beschwichtigung des Gewissens und die Preisgabe des persönlichen Willens und der persönlichen Freiheit`, ganz gleich, um welche Droge es sich dabei handelt". Eine neuere Untersuchung hat gezeigt, daß über 90% der Heroinabhängigen (Heroin ist eine ,,harte Droge") mit der Einnahme einer ,,sanften" Droge wie Cannabis begonnen haben. Das Phänomen der Drogensucht ist ein besonders schwerwiegendes Übel. Zahlreiche junge und erwachsene Leute sind daran gestorben oder werden daran sterben, während andere in ihrem inneren Wesen und in ihren Fähigkeiten durch sie eingeschränkt werden als Sklaven eines Bedürfnisses, das sie dazu treibt, das Geld zur Bezahlung ihrer täglichen Dosis durch Prostitution oder Straftaten zu beschaffen. Der Mangel an attraktiven menschlichen und geistigen Angeboten verführt die Jugendlichen dazu, im Gebrauch von Drogen sofortigen Genuß zu suchen, der ihnen die Illusion verschafft, der Wirklichkeit zu entfliehen. Nach und nach gewöhnen sie sich so an den Gedanken, daß jedes Verhalten gleichwertig ist, es gelingt ihnen nicht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und sie verlieren den Sinn für moralische Grenzen. So müssen alle Erzieher die Arbeit der Gewissensbildung intensivieren und den Jugendlichen dabei die Wahrheit über Gott, über den Glauben und über den Menschen darlegen. Die Kulturreform ist in erster Linie ein religiöses Werk, denn es gibt ,,keine wahre Kultur ohne sittliche Kultur, und keine wahre sittliche Kultur ohne den wahren Glauben: Das ist eine erwiesene Wahrheit, eine historische Tatsache" (Hl. Pius X., Brief über den Sillon, 25. August 1910).

,,Die liebenswürdige Schwester, der glückliche Bruder!"

Einige Jahre vergingen. Ozanam erhielt zweimal den Doktortitel; als brillanter Promovierter der Pariser Fakultät bekam er einen Lehrstuhl für Handelsrecht in Lyon, später wurde er Professor an der Sorbonne. Doch sein Lebensstand war noch nicht festgelegt, und er schwankte zwischen der religiösen Berufung und der Ehe. Die völlige Hingabe an Gott durch das Gelübde der Keuschheit zog Frédéric an. Andererseits erwog er auch den ehelichen Bund, gegen den er zunächst starke Bedenken hatte.

Eines Tages, als er den Rektor der Lyoner Akademie, Prof. Soulacroix, besuchte, bemerkte er zufällig ein junges Mädchen, das seinen gelähmten Bruder zärtlich umsorgte. ,,Die liebenswürdige Schwester und der glückliche Bruder!" dachte er. ,,Wie sie ihn liebt!" In Amélie Soulacroix, der Tochter des Rektors, war ihm das lebendige Abbild der Liebe erschienen. Die Erinnerung an diese Szene ließ ihn nie mehr los. Dieses junge Mädchen verkörperte das Ideal, das er sich von der christlichen Frau gemacht hatte. Die Hochzeit mit Amélie fand am 23. Juni 1841 statt.

Die Ernennung Frédéric Ozanams zum Professor für ausländische Literaturgeschichte an der Sorbonne im Januar 1841 gab ihm die Möglichkeit, seiner Berufung zum Apologeten zu folgen. Er bemühte sich fortan, den katholischen Glauben von der Geschichte aus zur Geltung zu bringen. Folgende Zeilen wurden 1846 von ihm aufgeschrieben: ,,Jeder Unglauben in Frankreich geht heute noch auf Voltaire zurück, und ich glaube nicht, daß Voltaire einen größeren Feind hatte als die Geschichte. Und wie sollten seine Schüler keine Angst haben vor dieser Vergangenheit, die sie beleidigen und die sie zerschmettern würde, wenn sie sich zu nah an sie heranwagten!... Kratzen wir die Tünche ab, die die Verleumdung über das Antlitz unserer Väter im Glauben geschmiert hatte, und wenn diese Bilder in ihrem vollen Glanz erstrahlen, werden wir schon sehen, ob die Menge sie nicht verehren wird". Der zivilisatorische Einfluß der Kirche war für Ozanam ein gewichtiger apologetischer Beweis, der durch jeden unparteiischen Historiker feststellbar war. Die Kirche fürchtet sich nicht vor der Wahrheit der Geschichte. Sie weiß, daß ihre Mitglieder Sünder sind und sich nicht immer ihrer Lehre gemäß benehmen. Doch sie weiß auch, daß ihre geistige und soziale Lehre göttlich ist und reichlich Früchte hervorgebracht hat.

,,Ich komme"

Durch eine geheimnisvolle Fügung der Vorsehung, sollte dieses so erfüllte Leben bald zu Ende gehen. 1852 war Frédéric neununddreißig Jahre alt geworden. Er war nie sehr gesund gewesen. Alles, was er getan hatte, tat er unter Schmerzen; seine blasse Gesichtsfarbe kündete recht vernehmlich davon. Er wurde in 18 Monaten von einer Rippenfellentzündung dahingerafft. An seinem vierzigsten Geburtstag, dem 23. April 1853, verfaßte er sein Testament: ,,Ich weiß", schrieb er, ,,das ich eine junge und heißgeliebte Frau, eine reizende Tochter, viele Freunde, eine ehrenvolle Karriere und genau so weit fortgeführte Arbeiten besitze, daß sie für ein lange erträumtes Werk als Grundlage dienen könnten. Doch ich bin von einer ernsten, heimtückischen Krankheit befallen... Muß ich, mein Gott, all diese Güter, die Du mir selbst geschenkt hast, verlassen? Willst Du nicht, Herr, nur einen Teil des Opfers? Welche meiner überbordenden Leidenschaften soll ich Dir opfern? Wärst Du nicht mit der Ermordung meiner literarischen Eigenliebe, meines akademischen Ehrgeizes, ja selbst meiner wissenschaftlichen Vorhaben zufrieden, in die sich vielleicht mehr Stolz als Eifer für die Wahrheit mischt? Wenn ich die Hälfte meiner Bücher verkaufen würde, um den Preis dafür den Armen zu geben; und wenn ich mich auf die Erfüllung meiner beruflichen Pflichten beschränken und mein ganzes restliches Leben darauf verwenden würde, Bedürftige zu besuchen, Lehrlinge zu unterweisen..., Herr, wärst Du dann zufrieden, ließest Du mir dann die Freude, neben meiner Frau alt zu werden und die Erziehung meines Kindes zu vollenden? Vielleicht willst Du das gar nicht, mein Gott. Du willst diese eigennützigen Opfer nicht annehmen... Mich willst Du... Ich komme". Am 8. September 1853, dem Fest der Geburt der allerseligsten Jungfrau, tat Frédéric Ozanam gegen zwanzig Uhr einen langen Atemzug. Es war sein letzter. Maria war gekommen, um ihr geliebtes Kind zu holen und in die unbeschreibliche Freude der Ewigkeit einzuführen.

Wir bitten den seligen Frédéric Ozanam, er möge Ihnen den Weg zu einer mit dem Evangelium übereinstimmenden Entscheidung für ein christliches Leben zur Linderung der Formen des Elends weisen, an denen die Menschen von heute leiden, und zu deren ewigem Heil. Wir empfehlen dem heiligen Josef alle Lebenden und Verstorbenen, die Ihnen teuer sind.

Dom Antoine Marie osb

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