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25. November 1997
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Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns, schreibt der heilige Apostel Johannes (1 Joh 1, 8). Wir sind nämlich alle auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen. Nun kann die Flut der göttlichen Barmherzigkeit - und das ist erschreckend - nicht in unser Herz eindringen, solange wir unseren Schuldigern nicht vergeben haben; denn in der Weigerung, unseren Brüdern und Schwestern zu vergeben, verschließt sich unser Herz, und seine Härte wird undurchdringbar für die barmherzige Liebe des Vaters (Katechismus der Katholischen Kirche, 2840). So läßt uns Jesus im Vaterunser bitten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben... Unser Herr mißt dieser Bitte so große Bedeutung bei, daß sie die einzige ist, die Er in der Bergpredigt aufgreift: Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, wird auch euch euer himmlischer Vater [eure Vergehen] vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird auch euer Vater eure Verfehlungen nicht vergeben (Mt 6, 14-15).
Ein großer Sieg
Die Vergebung ist ein großer Sieg über den Haß und die Entfesselung menschlicher Triebe. Durch sie tritt eine neue Kraft in das Leben der Menschen, die mächtiger ist als das Böse. ,,Die Vergebung bezeugt, daß in der Welt die Liebe gegenwärtig und stärker ist als die Sünde" (Johannes-Paul II., Enzyklika Dives in misericordia, DM, 14). Der unschätzbare Wert der christlichen Vergebung kommt in dem folgenden Bericht in ergreifender Weise zum Ausdruck. Die von einem Missionar in China erzählte Geschichte trug sich nach einer blutigen Christenverfolgung in einem chinesichen Dorf zu.
,,Am Tage des Massakers", berichtet der Missionar, ,,kam eine ganze achtköpfige Familie um, mit Ausnahme zweier abwesender Greise. Als diese nach dem Sturm in ihre Hütte zurückkehren konnten, war sie leer. Der alte Großvater dachte, er würde darüber verrückt. Er lief mit verstörtem Blick durch die Straßen des Dorfes und suchte nach seinen Kindern und Enkeln: Seine Erschütterung war so tief, daß er bis zum Tode ein nervöses Zittern beibehielt.
Die Tatsache, daß der Mörder seiner Familie einer seiner ehemaligen Schüler war, den er mehr als die anderen geliebt und dem er viel Gutes getan hatte, empörte ihn und machte das Verbrechen in seinen Augen noch viel abscheulicher. Als der Verbrecher erfahren hatte, daß die Christen zurückkehrten, war er geflohen, da er meinte, der erste Christ, der ihm begegnete, könnte ehrlicherweise gar nicht umhin, ihn zu töten.
Entweder ist man Christ, oder man ist es nicht
Es tat weh, ihn zu sehen. Ich ergriff seine Hände: ,Du weißt doch, was wir immer sagen: Entweder ist man Christ, oder man ist es nicht... Du würdest ihm nicht an die Gurgel springen...` Er schluchzte auf, zögerte einen Augenblick, wischte sich zwei Tränen vom Gesicht und sagte: ,Los, Vater, lassen Sie ihn zurückkommen`. Und da ich ihn wortlos anblickte, sagte er noch einmal: ,Ja, ja, sagen Sie ihm, er soll zurückkommen: Sie werden sehen, ob ich ein Christ bin`.
Am Abend waren alle Christen wie jeden Abend im Hof des Katechisten um mich versammelt. Wir plauderten dort zusammen, tranken Tee und rauchten lange Pfeifen. Es war die angenehme Zeit des Tages. Doch diesmal lag etwas Schweres in der Luft; man hatte nicht den Mut, darüber zu sprechen. Der arme Wang stand neben mir, zitternd und bleich. Die anderen standen ganz aufgeregt im Kreis um uns herum. Der Mörder sollte kommen, und alle wußten es.
Plötzlich öffnete sich der Kreis. Im Hintergrund erblickte ich im flackernden Licht der an den Bäumen im Hof hängenden Laternen den Mörder, wie er mit gesenktem Haupt und schweren Schritten näherkam, als trüge er schwer an der Last der Verwünschungen all dieser Menschen. Er trat vor mich hin und fiel inmitten eines schrecklichen Schweigens auf die Knie. Meine Kehle war ganz zugeschnürt; ich sagte mit Mühe: ,Freund, du siehst den Unterschied. Wenn wir deine Familie ermordert hätten und du als Sieger zurückkehrtest, was würdest du machen?` Es wurde ein Stöhnen laut, dann wieder Stille. Der alte Wang hatte sich erhoben: Zitternd neigte er sich zum Henker der Seinen hinab, hob ihn zu sich hoch und küßte ihn.
Zwei Monate später suchte mich der Mörder auf: ,Vater, früher habe ich euren Glauben nicht verstanden. Jetzt habe ich ihn gesehen. Man hat mir wirklich vergeben. Ich bin ein Elender, aber könnte ich nicht auch Christ werden?` Ich brauche euch meine Antwort nicht zu schildern. Daraufhin fragte er mich: ,Vater, ich möchte um etwas Unmögliches bitten. Ich möchte, daß der alte Wang mein Pate wird. - Mein Freund, ich hätte es lieber, wenn du ihn selbst darum bitten würdest`. Einige Zeit später nahm der nunmehr kinderlose Wang den Mörder seiner Familie als geistigen Sohn an..."
Eine menschlichere Welt
Der Heiland betont nachdrücklich die Notwendigkeit, anderen zu vergeben. Als Petrus fragt: Herr, wie oft darf mein Bruder gegen mich sündigen, und ich soll ihm vergeben? Bis siebenmal?, antwortet Jesus: Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal (Mt 18, 21-22). Im Hebräischen bedeutet siebzigmal siebenmal soviel wie ,,immer". ,,So beschränkt der Herr die Vergebung nicht auf eine feste Anzahl von Malen, sondern erklärt, daß die Vergebung stetig und vollkommen sein muß" (Heiliger Johannes Chrysostomus). Wir müssen unserem Nächsten nicht jeden Tag eine schwere Schuld vergeben. Und doch bleibt die Vergebung unser tägliches Brot, denn trotz allen Vertrauens, das man zueinander haben kann, gibt es immer Worte, die verletzen, Verhaltensweisen, durch die man sich in den Vordergrund spielt, und Situationen, in denen gegen Empfindlichkeiten verstoßen wird, und das verlangt ein ständiges Bemühen und ein tägliches gegenseitiges Vergeben.
Doch ,,es ist klar, daß eine so großzügige Forderung nach Vergebung die objektive Forderung nach Gerechtigkeit nicht auslöscht. In keinem Abschnitt der evangelischen Botschaft bedeutet Vergebung oder Barmherzigkeit, die deren Quelle ist, Nachsicht mit dem Bösem, dem Anstößigen, dem zugefügten Unrecht oder den Beleidigungen" (DM, ibd.). In jedem Fall bleiben die Wiedergutmachung für das Böse und für den Anstoß, die Entschädigung für den entstandenen Schaden und die Genugtuung für die Beleidigung notwendig.
Unverdiente Liebe
Die Vergebung, zu der wir aus eigener Kraft unfähig sind, ist eine Gnade, die Gott uns zur Verfügung stellt, damit wir uns selbst beglücken können. Wenn wir aufrichtig darum bitten, wird Gott uns die Gnade gewähren, von ganzem Herzen zu vergeben, wie Er selbst uns vergibt. ,,In diesem neuen Bund gründet die Gewißheit, daß unsere Bitten erhört werden, auf dem Gebet Jesu. Wenn unser Gebet mit dem Vertrauen und mit der Kühnheit eines Kindes mit dem Gebet Jesu vereint ist, erhalten wir alles, worum wir in seinem Namen bitten" (Katechismus, 2614; 2741). Denn Jesus selbst sagt uns: Bittet, und es wird euch gegeben werden, sucht, und ihr werdet finden, klopft an, und es wird euch aufgetan werden! Denn jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan werden (Mt 7, 7-8). Diese Worte beziehen sich in erster Linie auf die für unser Heil notwendigen Gnaden, wie die Gnade der Vergebung. Treten wir also vor Gott, um ihn zum Zeugen unseres Willens zur Vergebung zu nehmen, indem wir sagen, wer unsere Schuldiger sind und was wir ihnen vergeben wollen. Legen wir unsere Last zu Füßen des Kreuzes Jesu ab und bitten wir Ihn, unser Herz mit Vertrauen und Frieden zu erfüllen. So werden wir unsere Schuldiger von ihrer Schuld uns gegenüber freisprechen und unsere eigene Bitterkeit zerstreuen.
Die Weigerung zu vergeben oder der Zorn ist ein Gift, das uns vergeblich Heilung suchen läßt (Sir 28, 3). Wer nicht vergibt, quält sich selbst. Beschließt er jedoch zu vergeben, wird Gott die Liebe wiederherstellen und beide Parteien sanft zur Versöhnung führen. Ist einmal der erste Schritt getan, müssen wir selbst Gott um die Vergebung unserer Sünden bitten, siebzigmal siebenmal im Vergeben fortfahren und schließlich unsere Liebe zu unserem Schuldiger konkret zeigen, wenn das möglich ist.
Ein innerer Kampf
Johanna Franziska Frémiot, geboren 1572 in Dijon, heiratete mit zwanzig Jahren den Baron von Chantal. Ihr Heim, in dem vier Kinder geboren wurden, war acht Jahre lang von einem tiefen Glück erfüllt, das jedoch von einer Tragödie jäh beendet wurde (1600). Herr von Chantal hatte sich bereit erklärt, mit einem seiner Vettern, Herrn von Anlezy, eine Jagdpartie in den Wäldern in der Nähe des Schlosses zu machen. Er trug einen hirschfarbenen Anzug. Als sein Freund ihn plötzlich durch das Gebüsch hindurch erblickte, hielt er ihn für ein wildes Tier, schoß auf ihn und brach ihm einen Schenkel: ,,Ich bin tot!" rief Herr von Chantal im Hinfallen. ,,Mein Freund, mein Vetter, ich vergebe dir aus ganzem Herzen, du hast diesen bösen Streich aus Unvorsichtigkeit begangen". Sogleich schickte er einen Diener zu seiner Frau: ,,Aber ach", sagte er, mit Tränen in den Augen, ,,sagt ihr nicht, daß ich zu Tode verwundet bin; sagt ihr nur, daß ich am Oberschenkel verletzt bin".
,,Wir wollen Ehrfurcht vor der göttlichen Vorsehung haben"
Von überall her kamen Ärzte herbei. Die Baronin lief, zwischen Furcht und Hoffnung schwankend, von einem zum anderen: ,,Herr von Chantal muß unbedingt geheilt werden", wiederholte sie unter Tränen. Ihr Schmerz war so groß, daß sie sich nicht entschließen konnte, ihr Unglück anzunehmen. Immer wieder stürzte sie schluchzend aus dem Zimmer, in dem der Kranke ruhte, lief durch die Gänge des Schlosses und rief laut: ,,Herr, nimm alles, was ich auf der Welt habe, aber laß mir meinen lieben Mann". Ihre so inständigen Gebete wurden jedoch nicht erhört. Nachdem Herr von Chantal mit einzigartiger Frömmigkeit die Sakramente empfangen hatte, bat er seine Frau und seinen Sohn, nie darauf zu sinnen, seinen Tod zu rächen, sagte, er vergebe demjenigen, der ihn unabsichtlich getötet hatte, noch einmal und ließ seine Vergebung in die Kirchenbücher eintragen. Acht Tage nach dem Unfall starb er im Alter von fünfunddreißig Jahren beispielhaft geduldig in seinen letzten Leiden und hinterließ ein schönes Vorbild christlicher Barmherzigkeit.
Die Damen aus den benachbarten Schlössern sowie die Cousinen kamen oft vergeblich, als sie versuchten, Frau von Chantal zu trösten. Sie war zwar gerührt und dankbar, doch wenn sie abends in ihr Zimmer ging, sagte sie: ,,Ach! Warum läßt man mich nicht nach Herzenslust weinen! Sie glauben, sie machen es mir leichter, und sie quälen mich". Sie fiel schluchzend auf die Knie und verbrachte die ganze Nacht in Tränen... Nach drei oder vier Monaten war ihre Gesundheit so geschwächt, daß man sie kaum wiedererkannte. Durch die Beschäftigung mit ihren armen Kleinen, die, ohne ihren Kummer zu begreifen, sie umso mehr mit Liebkosungen überhäuften, fand sie jedoch allmählich ihren Lebensmut wieder. Währenddessen hatte der Mörder ihres Mannes die Gegend nicht verlassen. Die untröstliche Witwe besaß allerdings nicht den Mut, ihn wiederzusehen. Sie konnte ihm nicht vergeben. Das wurde erst möglich, nachdem der heilige Franz von Sales in ihr Leben trat.
Das schwere vergeben einer Heiligen
Frau von Chantal gehorchte und willigte in ein Treffen mit Herrn von Anlezy ein. Sie zeigte sich so liebenswürdig, wie es ihr Herz zuließ. Doch die Begegnung war äußerst qualvoll für sie. Das Wort ,,Vergebung", das ihr dabei über die Lippen kam, kostete sie mehr, könnte man sagen, als alle anderen Bemühungen um ihre Heiligung zusammen. Da sie ihren Entschluß zur Vergebung bis zum Ende durchhalten wollte, bot sie daneben dem gerade Vater gewordenen Herrn von Anlezy an, das Neugeborene über das heilige Taufbecken zu halten. So gestaltete sich die vollkommene Schuldenvergebung seitens der späteren heiligen Johanna von Chantal.
Wenn wir vergeben, verändert die Gnade Gottes auch uns selbst. Nach und nach fließt die unser Herz erfüllende Liebe über und kann sogar unsere Schuldiger bekehren. So werden wir zu guten Kanälen der Gnade Gottes. Doch wenn wir anderen vergeben, sollten wir uns nicht für besser halten als sie. Das wäre Hochmut, denn wir alle sind Sünder, vergessen wir das nicht. Wenn wir für unsere Sünden, für unsere Schuld Gott und den Menschen gegenüber um Vergebung bitten und selber unseren Schuldigern vergeben, kommen wir auf dem Wege zur ewigen Glückseligkeit weiter. Deswegen sagt der heilige Gregor von Nyssa: ,,Wenn die Schrift Gott den Barmherzigen nennt, wenn die wahre Glückseligkeit Gott selbst ist, so ist klar daraus zu folgern, daß ein Mann, der sich barmherzig zeigt, der göttlichen Glückseligkeit würdig wird, denn er ist bei dem angekommen, was Gott kennzeichnet: Gnädig ist der Herr und gerecht; unser Gott ist barmherzig (Psalm 114, 5)" (Homilie über die fünfte Seligkeit).
Wir bitten die heilige Jungfrau, die Mutter der Barmherzigkeit, und den heiligen Josef um die Gnade des ewigen Lebens sowohl für Sie als auch für alle Lebenden und Verstorbenen, die Ihnen teuer sind.
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