Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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30. September 2020
am Fest des hl. Hieronymus


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Der heilige Hieronymus hat „die Bibel in den Mittelpunkt seines Lebens gestellt“, sagte Benedikt XVI. „Er hat sie in die lateinische Sprache übersetzt, er hat sie in seinen Werken kommentiert, und er hat sich vor allem bemüht, sie während seines langen Erdendaseins konkret zu leben – trotz seines bekannten schwierigen und temperamentvollen Charakters, den er von der Natur erhalten hatte“ (Generalaudienz vom 7. November 2007). Der Kirchenvater (so werden Heilige genannt, die durch ihre Lehre und ihr Vorbild die Kirche in ihrer Kindheit gleichsam genährt haben) beschrieb sich selbst folgendermaßen: „Ich bin Philosoph, Redner, Grammatiker, Dialektiker, ich bin des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen mächtig.“ Das waren seine Waffen, als er sich einmal von seinem polemischen Ungestüm dazu hinreißen ließ, den heiligen Augustinus, den um 10 Jahre jüngeren Bischof von Hippo, wie einen Schüler abzukanzeln: „Höre auf meinen Rat, junger Mann. Steige nicht in die Arena der heiligen Schriften, um einen alten Mann zu reizen! Du störst meine Stille. Wie ein Pfau schlägst du ein Rad mit deinem Wissen.“

Der heilige Hieronymus wurde um das Jahr 345 als Sohn des reichen Großgrundbesitzers Eusebius in Stridon, einem befestigten Marktflecken an der Grenze zwischen Dalmatien und Pannonien (dem heutigen Ungarn), geboren. Obwohl er den heidnischen Namen Hieronymus („Mann mit dem heiligen Namen“) trug, sagte er stolz über sich: „Ich bin ein Christ, von christlichen Eltern geboren und trage die Fahne des Kreuzes auf meiner Stirn.“ Wie es damals üblich war, wurde das Kind nicht getauft, sondern lediglich auf die Liste der Katechumenen gesetzt. Über seine Kindheit sagte Hieronymus: „Ich erinnere mich daran, dass ich in den Räumen der kleinen Sklaven herumgehüpft bin, dass ich meinen freien Tag mit Spielen verbracht habe und dass man mich aus den Armen meiner Großmutter gerissen hat, um mich als Gefangenen dem Zorn eines Olibrius auszuliefern.“ Sein Schulmeister Olibrius bevorzugte in der Tat brutale Erziehungsmethoden, und das Kind hat oft „unter den Schlägen der Rute geweint“. Hieronymus war ein lebhafter, schelmischer Schüler mit einem wachen Verstand sowie einem untrüglichen Gedächtnis und hatte einen extrem empfindsamen Charakter, der ihn dünnhäutig und leicht verletzlich machte, aber auch zutiefst liebenswürdig und aufgeschlossen.

„Chor der Seligen“

Um seine Ausbildung zu vervollständigen, schickten ihn seine Eltern nach Rom, wo er von den besten Lehrern in die Geheimnisse der Rhetorik (der Redekunst) sowie der Dialektik (der Kunst der Unterredung) eingeführt wurde. Er stellte sich eine Bibliothek zusammen, indem er einige Werke seiner Lieblings-autoren – Plautus, Vergil und Cicero – eigenhändig kopierte. Gleichwohl dürstete es ihn auch nach Zerstreuungen: Er zollte seinen erwachenden Leidenschaften durchaus Tribut, stürzte sich aber nicht mit solcher Hingabe ins Vergnügen wie Augustinus und blieb seiner religiösen Grundeinstellung treu, indem er sonntags regelmäßig die Katakomben aufsuchte. 366 beschloss Hieronymus schließlich, sich taufen zu lassen; danach fuhr er nach Trier, wo er sich um einen Verwaltungsposten bewerben wollte, um die Erwartungen seiner Familie zu erfüllen. Doch in Trier entdeckte er das monastische Leben, ging in sich und beschloss, der Welt zu entsagen; er begann zudem, sich für christliche Literatur zu interessieren. Von seinen neuen Erfahrungen tief bewegt, kehrte er nach Aquileia (Italien) zurück und schloss sich einer Gruppe frommer Christen an, die er als „Chor der Seligen“ um Bischof Valerian bezeichnete. 374 brach er kurzentschlossen in Richtung Orient auf, um sich dort dem monastischen Leben zu weihen.

Nach einer langen, anstrengenden Reise landete Hieronymus erschöpft in Antiochien (Syrien) bei einem Freund, den er in Aquileia kennengelernt hatte, dem Priester Evagrius. Er führte dort ein friedliches und arbeitsames – wenn auch kein monastisches – Leben. Als er in der Fastenzeit des Jahres 375 krank darniederlag, sah er sich im Traum mit dem Vorwurf konfrontiert, er hänge zu sehr an weltlicher Literatur: „Im Geiste fühlte ich mich vor den Richterstuhl Gottes versetzt und wurde nach meiner Religion befragt. ‚Ich bin Christ’, erwiderte ich. – ‚Du lügst’, antwortete der Weltenrichter. ‚Du bist ein Ciceronianer und kein Christ. Denn wo dein Schatz ist, da ist dein Herz!’“ Von Gewissensbissen geplagt wandte sich Hieronymus fortan von der profanen Literatur ab. Er zog sich in die Wüste Chalkis südlich von Aleppo (Syrien) zurück, lebte in strenger Askese und widmete sich intensiv dem Studium des Griechischen und Hebräischen; die Einsamkeit öffnete sein Herz für die Bibellektüre. Doch seine angegriffene Gesundheit litt unter den selbstauferlegten Entbehrungen: „Mein Gesicht war blass vom Fasten, doch glühte der Geist von Begierden im kalten Körper und in dem vor dem Menschen schon erstorbenen Fleisch loderten die Flammen der Wollust.“

Eine erleuchtete Führung

Die Kirche von Antiochien war damals gespalten. Hieronymus wurde bedrängt, Position zu beziehen, und wandte sich an den Papst; doch die Antwort ließ auf sich warten. Die arianischen Mönche machten ihm unterdessen mit ihren Streitereien die Wüste so verhasst, dass er 377 ernüchtert nach Antiochien zurückkehrte, wo er von Bischof Paulinus zum Priester geweiht wurde. 379 reiste er nach Konstantinopel und setzte dort unter der erleuchteten Führung des Theologen und Exegeten Gregor von Nazianz sein Bibelstudium fort. Hieronymus entdeckte Origenes und begann, anhand der hebräischen und griechischen Originaltexte eine eigene Exegese (Auslegung des heiligen Textes) zu entwickeln. 382 luden ihn Bischof Paulinus und Epiphanios von Salamis ein, sie nach Rom zu begleiten, wo sie Papst Damasus über die Vorgänge unterrichten wollten, die den Orient erschütterten. Hieronymus folgte der Einladung. In Rom nahm ihn der heilige Papst, der seinen Ruf als Asket und seine Kompetenz als Gelehrter kannte, als Sekretär und Berater zu sich. Er beschwor Hieronymus, eine neue lateinische Übersetzung der biblischen Texte anzufertigen.

„Seine literarische Ausbildung und seine umfassende Gelehrsamkeit erlaubten Hieronymus die Revision und Übersetzung vieler biblischer Texte: eine wertvolle Arbeit für die lateinische Kirche und für die abendländische Kultur. Auf der Grundlage der griechischen und hebräischen Urtexte und dank des Vergleichs mit früheren Versionen verwirklichte er die Revision der vier Evangelien in lateinischer Sprache, sodann die des Psalters und eines Großteils des Alten Testaments. Hieronymus konnte eine bessere Übersetzung bieten: Sie stellt die sogenannte ‚Vulgata’ dar, den offiziellen Text der lateinischen Kirche, der als solcher vom Konzil von Trient anerkannt wurde und nach der jüngsten Revision (1979) der offizielle Text der lateinischen Kirche bleibt“ (Benedikt XVI., 7. November 2007).

Eine römische Witwe namens Marcella wandte sich auf der Suche nach einem Seelenführer und Lehrer, der ihr die Heiligen Schriften erklären konnte, an Hieronymus. Bald entstand in Marcellas Palast ein Studienkreis reicher Witwen, dem u.a. Marcellina, die Schwester des Ambrosius von Mailand, und Paula von Rom mit ihren Töchtern Blaesilla, Eustochium und Paulina angehörten. Einige der Frauen wurden später als Heilige verehrt. Hieronymus teilte die Früchte seiner Forschung mit ihnen und übernahm ihre geistliche Führung. Einer seiner Briefe an Eustochium ist berühmt geworden: „Die Braut Christi ähnelt der Bundeslade, die außen und innen vergoldet war. Sie ist die Hüterin des Gesetzes des Herrn. In der Lade war nichts anderes als die Gesetzestafeln. Auch in dir darf kein fremder Gedanke sein … Niemand soll dich zurückhalten: weder Mutter, noch Schwester, noch Verwandte. Der Herr braucht dich. Wenn sie dich aufhalten wollen, so sollen sie jene Plagen fürchten, von denen uns die Heilige Schrift spricht und die Pharao über sich ergehen lassen musste, weil er dem Volk Gottes das Recht auf Gottesanbetung verweigert hat.“ Der Brief, ein flammendes Plädoyer für das monastische Leben und die Jungfräulichkeit, fand große Verbreitung, obwohl er bei der römischen Oberschicht Anstoß erregte. Manch ein Kleriker fühlte sich nämlich von diesem Manifest für ein Leben in Sinne des Evangeliums ins Visier genommen und konnte Hieronymus nicht verzeihen, dass er alle Verfehlungen klar benannte. Man beneidete ihn um seinen Einfluss und warf ihm Fälscherei und Gotteslästerung vor, da er es gewagt hatte, die bis dahin überlieferten biblischen Texte zu verändern. Es wurden auch üble Verleumdungen gegen ihn und seine heiligen Freundinnen laut: Was mache dieser Mönch wohl inmitten jener Damen? Hieronymus erwiderte: „Wenn Männer nach den Schriften fragen würden, würde ich nicht mit Frauen reden.“

Eine begeisternde Reise

Nach dem Tod von Papst Damasus am 11. Dezember 384 beschloss Hieronymus, seinen langgehegten Traum zu verwirklichen, und brach im August 385 zusammen mit seinem Bruder Paulinianus und ein paar Mönchen, die sich mit ihm im Heiligen Land niederlassen wollten, in den Nahen Osten auf. Einige Zeit danach stießen Paula und ihre Tochter Eustochium in Antiochia zu ihnen. Die Pilger zogen mit einer Karawane zunächst nach Judäa, setzten ihre Reise dann in Richtung Ägypten fort und landeten schließlich in Alexandria, wo sich eine große, von Didymus dem Blinden in der Tradition von Origenes und Athanasius dem Großen geleitete Bibelschule befand. Die Pilger nutzten ihren Aufenthalt auch zum Besuch der berühmten „Wüstenväter“.

386 kehrte die kleine Gruppe nach Bethlehem zurück, wo dank Paulas Großzügigkeit je ein Kloster für Mönche und für Nonnen errichtet wurde, zudem ein Wehrturm sowie ein Hospiz für Pilger im Heiligen Land. Hieronymus nutzte die Ruhe und machte sich beschwingt wieder an die Arbeit: Übersetzungen, Bibelkommentare, historische Werke, Streitschriften, Hagiographien … Paula leitete das Nonnenkloster, Hieronymus den Männerkonvent, wobei letzterer auf der Grundlage der Heiligen Schrift die allgemeine geistliche Ausrichtung bestimmte. Der Bibel als dem Wort Christi schrieb er eine entscheidende Bedeutung im Gemeinschaftsleben zu: „Liebe die Heilige Schrift, und die Weisheit wird dich lieben; deine Zunge soll nur Christus kennen, sie soll nur das sagen können, was heilig ist.“

Benedikt XVI. hat die Liebe des Heiligen zum Wort Gottes besonders betont: „Die Heilige Schrift nicht zu kennen heißt (für Hieronymus), Christus nicht zu kennen. Es ist deshalb wichtig, dass jeder Christ in Berührung und in persönlichem Dialog mit dem Wort Gottes lebt, das uns in der Heiligen Schrift geschenkt ist. Dieser unser Dialog mit dem Wort Gottes muss ein wirklich persönlicher Dialog sein, weil Gott mit einem jeden von uns durch die Heilige Schrift spricht und eine Botschaft für jeden hat. Wir dürfen die Heilige Schrift nicht als Wort der Vergangenheit lesen, sondern als Wort Gottes, das sich auch an uns wendet, und müssen versuchen zu verstehen, was der Herr uns sagen will. Das Wort Gottes reicht über die Zeiten hinaus. Die menschlichen Meinungen kommen und gehen. Was heute sehr modern ist, wird morgen uralt sein. Das Wort Gottes hingegen ist Wort des ewigen Lebens, es trägt in sich die Ewigkeit, das, was für immer gilt. Indem wir in uns das Wort Gottes tragen, tragen wir also in uns das Ewige, das ewige Leben“ (7. November 2007).

„Liebe sie zärtlich“

„Der heilige Hieronymus empfahl einer seiner geistlichen Töchter: ‚Liebe die Heilige Schrift, liebe sie zärtlich, und sie wird dich behüten. Liebe die Wissenschaft der Schrift, und so wirst du die Laster des Fleisches nicht lieben.’ Ein grundlegendes methodologisches Kriterium bei der Auslegung der Schrift war für Hieronymus die Übereinstimmung mit dem Lehramt der Kirche. Wir können niemals alleine die Schrift lesen. Wir finden zu viele Türen verschlossen und gleiten leicht in den Irrtum ab. Für Hieronymus musste eine authentische Auslegung der Bibel immer in harmonischer Übereinstimmung mit dem Glauben der katholischen Kirche stehen. Deshalb mahnte er: ‚Bleibe fest mit der traditionellen Lehre verbunden, die man dich gelehrt hat, damit du gemäß der gesunden Lehre diejenigen ermahnen und widerlegen kannst, die dir widersprechen.’ Besonders angesichts der Tatsache, dass Jesus Christus seine Kirche auf Petrus gegründet hat, muss jeder Christ ‚in Gemeinschaft mit der Kathedra des hl. Petrus’ stehen. ‚Ich weiß, dass auf diesen Fels die Kirche gebaut ist’. Und folgerichtig nannte er die Dinge beim Namen: ‚Ich stehe auf der Seite eines jeden, der mit der Kathedra des hl. Petrus verbunden ist’“ (General-audienz vom 14. November 2007).

Doch die origenistischen Streitigkeiten (einige Schüler von Origenes negierten die Endgültigkeit des Gottesurteils) und später der Kampf gegen den Pelagianismus (der behauptete, die Initiative zum Heil komme vom Menschen, und der die Existenz der Ursünde bestritt) veranlassten Hieronymus schon bald dazu, den Glauben vehement zu verteidigen. Zudem wurde das Heilige Land von Scharen von Flüchtlingen überflutet, so dass er seine geliebten Studien hintanstellen und zunächst die Pflichten der Nächstenliebe erfüllen musste. Nebenbei setzte er jedoch das heilige Werk fort, dem er sich geweiht hatte. Seine Zelle wurde gleichsam zum Leitstern der gesamten christlichen Welt; er unterhielt einen ebenso reichen wie vielseitigen Briefwechsel mit den führenden Köpfen seiner Zeit. Einem Ratsuchenden erklärte er, welche Bedeutung er dem Leben in der Gemeinschaft beimesse: „Ich sähe es gern, wenn du in einer heiligen Gemeinschaft lebtest, wenn du dich nicht selbst belehrtest und wenn du dich nicht ohne einen Lehrer auf einen für dich völlig neuen Weg begeben würdest.“ Im Hinblick auf das leibliche Fasten empfahl er Zurückhaltung: „Eine bescheidene aber vernünftige Ernährung ist heilsam für Leib und Seele.“ Er erinnerte daran, wie notwendig ständige Wachsamkeit, häufige Abtötungen – wenn auch mit Maß und Vorsicht –, eine angestrengte intellektuelle oder manuelle Arbeit und vor allem Gehorsam Gott gegenüber waren: „Nichts gefällt Gott so sehr wie der Gehorsam, der die höchste und einzige Tugend ist“ (Hom. de oboedientia: CCL 78,552).

„Schmücke dieses Heiligtum!“

„Das Evangelium muss in Haltungen wahrer Nächstenliebe umgesetzt werden“, sagte Benedikt XVI. „Als er sich zum Beispiel an den Priester Paulinus wendet (der dann Bischof von Nola und ein Heiliger wurde), gibt ihm Hieronymus folgenden Rat: ‚Der wahre Tempel Christi ist die Seele des Gläubigen: Schmücke es, dieses Heiligtum, verschönere es, lege in ihm deine Opfergaben nieder und empfange Christus. Wozu soll man die Wände mit Edelsteinen auskleiden, wenn Christus in der Person eines Armen an Hunger stirbt?’ Hieronymus sagt es ganz konkret: Man muss ‚Christus in den Armen kleiden, in den Leidenden aufsuchen, in den Hungernden speisen, in den Obdachlosen beherbergen’. Die durch das Studium und die Betrachtung genährte Liebe zu Christus lässt uns jede Schwierigkeit überwinden: ‚Lieben auch wir Jesus Christus, suchen wir immer die Vereinigung mit ihm: Dann wird uns auch das leicht erscheinen, was schwer ist’“.

Benedikt XVI. hob auch den Beitrag Hieronymus’ auf dem Gebiet der christlichen Pädagogik hervor: „Er nimmt sich vor, ‚eine Seele zu bilden, die zum Tempel des Herrn werden soll’, zu einem ‚wertvollen Juwel’ in den Augen Gottes. Mit tiefer Einfühlung rät er, sie vor dem Bösen und vor den sündhaften Gelegenheiten zu bewahren, fragwürdige oder zerstreuende Freundschaften auszuschließen. Vor allem ermahnt er die Eltern, dass sie um die Kinder ein Umfeld der Ruhe und Freude schaffen, sie durch Lob und Wetteifern auch zum Studium und zur Arbeit anregen, sie ermuntern, die Schwierigkeiten zu überwinden, in ihnen die guten Gewohnheiten fördern und sie davor bewahren sollen, schlechte anzunehmen. Die Eltern sind die wichtigsten Erzieher der Kinder, die ersten Lehrer des Lebens. Indem sich Hieronymus mit großer Klarheit an die Mutter eines Mädchens wendet, mahnt er: ‚Sie möge in dir ihre Lehrerin finden, und auf dich blicke mit Staunen ihre unerfahrene Kindheit. Weder in dir noch in ihrem Vater soll sie je Haltungen sehen, die sie zur Sünde führen, wenn sie nachgeahmt würden. Denkt daran, dass ihr sie mehr durch das Vorbild als durch das Wort erziehen könnt’. Ein für die Antike ziemlich unerwarteter, aber von unserem Autor als lebenswichtig betrachteter Aspekt ist darüber hinaus die Förderung der Frau, der er das Recht auf eine vollständige Bildung zuerkennt: menschlich, schulisch, religiös und beruflich. Und wir sehen gerade heute, dass die Erziehung der Persönlichkeit in ihrer Ganzheit, die Erziehung zur Verantwortlichkeit vor Gott und vor dem Menschen die wahre Voraussetzung für jeden Fortschritt, für jeden Frieden, für jede Versöhnung und jeden Ausschluss von Gewalt ist. Erziehung vor Gott und vor dem Menschen: Es ist die Heilige Schrift, die uns die Führung der Erziehung und so des wahren Humanismus bietet“ (Ibid.).

Es ist besser, um sein Brot zu betteln als den Glauben zu verlieren

In den letzten Jahren seines Lebens wurde Hieronymus von vielen Prüfungen heimgesucht. 404 starb seine treue Jüngerin, die hl. Paula. 410 eroberte der West-gotenkönig Alarich I. Italien und plünderte Rom. 416 wurde von pelagianistischen Mönchen in Judea eine Strafexpedition gegen die von Hieronymus inspirierten Klöster organisiert. Ein Diakon wurde getötet, Gebäude in Brand gesetzt. Man flüchete in den Wehrturm; Hieronymus entging nur knapp dem Tod. Nicht ohne Stolz schrieb er: „Unser Haus wurde, was die materiellen Mittel angeht, völlig ruiniert. Doch Christus ist mit uns. So bleibt das Haus voller geistlicher Reichtümer. Es ist besser, um sein Brot zu betteln, als den Glauben zu verlieren.“ 418 hatte er den unvorgesehenen Tod von Eustochium zu verkraften, die ihrer Mutter Paula an der Spitze des Nonnenkloster gefolgt war und ihn bei seiner Arbeit unterstützt hatte. Sein letzter Brief war für den heiligen Augustinus und seinen Freund Alypius bestimmt: „Ich freue mich, immer wieder Gelegenheit zu finden, euch zu schreiben, und ich lasse keine aus. Gott ist mein Zeuge, dass ich, wenn ich könnte, Taubenflügel nehmen und eilen würde, euch zu umarmen. Das habe ich mir immer sehnlichst gewünscht, so sehr schätze ich eure Tugend. Heute wünsche ich das mehr denn je, um mich mit euch über den Sieg zu freuen, den ihr über die Ketzerei des Celestius (Schüler des Häretikers Pelagius) errungen habt … Ich beschwöre euch auch, heilige und ehrwürdige Väter, mich nicht zu vergessen, und bitte den Herrn, er möge euch in Gesundheit bewahren“ (Brief 143). Von Gebrechen gelähmt, nahezu blind, entschlief er als treuer Diener Gottes am 30. September 420 (vor genau 1600 Jahren). Er wurde in der Nähe der Geburtsgrotte in Bethlehem beigesetzt. Seine im 8. Jh. nach Rom überführten Gebeine ruhen heute in der Basilika Santa Maria Maggiore.

„In den Heiligen Büchern kommt ja der Vater, der im Himmel ist, seinen Kindern in Liebe entgegen und nimmt mit ihnen das Gespräch auf“, sagt das II. Vatikanische Konzil. „Und solche Gewalt und Kraft west im Worte Gottes, dass es für die Kirche Halt und Leben, für die Kinder der Kirche Glaubensstärke, Seelenspeise und reiner, unversieglicher Quell des geistlichen Lebens ist“ (Konstitution Dei Verbum, Nr. 21). Mögen auch wir nach dem Vorbild des hl. Hieronymus jeden Tag eine Zeit dafür vorsehen, Gottes Wort zu betrachten – sei es direkt, sei es mit Hilfe der Kommentare der Kirchenväter bzw. Kirchenlehrer; denn „Wie könnte man ohne die Wissenschaft der Schrift leben, durch die man lernt, Christus selbst zu erfassen, der das Leben der Gläubigen ist?“

Dom Antoine Marie osb

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