Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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28. Januar 2004
Hl. Thomas v. Aquin, Kirchenlehrer


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

A m 13. Mai 1981 wurde Papst Johannes-Paul II. auf dem Petersplatz in Rom vom Türken Mehemet Ali Agca mit einer Feuerwaffe schwer verletzt. Als der Nachfolger Petri im Krankenwagen große Schmerzen litt, rief er immer wieder: «Maria, meine Mutter! Maria, meine Mutter!» Kein Wort der Verzweiflung oder des Zornes entschlüpfte ihm. Durch einen sofortigen chirurgischen Eingriff gerettet, konnte der Papst bereits vier Tage später beim Sonntagsgebet Regina Cæli zu den Gläubigen sprechen; dabei nannte er den, der versucht hatte, ihn zu töten, seinen «Bruder»: «Liebe Brüder und Schwestern, ich weiß, dass ihr in diesen Tagen und zu dieser Stunde des Regina Cæli mit mir vereint seid. Voller Rührung danke ich euch für eure Gebete und segne euch alle. Ich bin besonders eng mit den beiden Personen verbunden, die gleichzeitig mit mir verwundet wurden. Ich bete für den Bruder, der mich getroffen hat und dem ich aufrichtig verziehen habe.»

Mit diesem Akt der Vergebung folgte der Heilige Vater dem Beispiel Christi, der am Kreuze seinen Henkern vergeben hatte. Aus Anlass des Jubeljahres empfahl Johannes-Paul II. am 20. Mai 2000 den Christen die heilige Rita als Vorbild, die ebenfalls unter heroischen Umständen hatte verzeihen können. Die Lehre aus dem Leben der heiligen Rita lässt sich durch «das Angebot der Vergebung und die Hinnahme des Leidens» charakterisieren, sagte der Papst; man muss hoffen, dass das Leben aller Gläubigen sich auf die leidenschaftliche Liebe zum Herrn Jesus stützt; dass ihr Dasein auf das Leiden und die Dornen mit Vergebung und völliger Selbsthingabe antworten kann, um den guten Ruf Christi überall hin zu verbreiten.»

Rita wurde um 1381 in Roccaporena in Umbrien (Mittelitalien) geboren und in der Kirche Sankt-Johannes-der-Täufer in Cascia getauft. Cascia (in 5 km Entfernung von Roccaporena) war eine etwa 200 km nordöstlich von Rom, auf päpstlichem Grundbesitz gelegene, befestigte Stadt. Die örtliche Verwaltung verfolgte eine Politik, die von einem höheren Sinn für Gerechtigkeit und gute Regierung geprägt war. Es waren Maßnahmen getroffen und Gesetze erlassen worden zur Förderung der öffentlichen Hygiene, zum Schutz von Witwen und Waisen, zum öffentlichen Schulwesen und für fromme Werke. Neben einer großen Zahl an Weltgeistlichen besaß die Kleinstadt elf Klöster und viele fromme Vereinigungen.

Cascia war wie viele italienische Städte jener Zeit eine Stadt, in der die menschlichen und bürgerlichen Werte ebenso geschätzt und gefördert wurden wie die religiösen. Ritas Eltern als ehrbare Bürger fungierten als sogenannte «pacieri», wörtlich «Friedenschließer», d.h. Schlichter. Die Aufgabe der «pacieri» bestand darin, Gegner aus Liebe zu Gott miteinander zu versöhnen. Die Schlichtung hatte den Zweck, Prozesse zu vermeiden und den Teufelskreis der Rache zu durchbrechen. Mitunter wurde auch eine materielle Wiedergutmachung für entstandene Schäden verfügt. Die Schlichtung war für beide Parteien und deren Erben für immer bindend.

Das Bienenwunder

«Rita» ist eine Verkleinerungsform von Margherita (Margarete). Kurz nach seiner Geburt fand man das Kind eines Tages mitten in einem Bienenschwarm vor; manche Bienen krochen ihm sogar in den Mund und kamen wieder hervor, ohne es gestochen zu haben. Diese von vielen Zeugen bestätigte Episode, das sogenannte «Bienenwunder», begründete eine besondere, von der Vorsehung verfügte Verbindung zwischen Rita und den Bienen, die nicht ohne spirituelle Bedeutung war. Der heilige Ambrosius stellt die Biene als Lebensvorbild hin: «Seht zu, dass eure Arbeit der eines Bienenstocks ähnelt, denn eure Reinheit und eure Keuschheit sollen mit den arbeitsamen, bescheidenen und enthaltsamen Bienen verglichen werden. Die Biene ernährt sich von Tau, kennt keine sinnlichen Laster und bringt kostbaren Honig hervor. Der Tau einer Jungfrau ist das Wort Gottes selbst; er sinkt wie der Tau der Bienen wohltätig und rein vom Himmel herab.» Von ihren Eltern erhielt Rita eine gediegene Erziehung und eine fundierte, von der Verehrung der Heiligen Eucharistie geprägte religiöse Bildung. In Cascia wurde die Fronleichnamsprozession besonders glanzvoll begangen: Dabei wurde nämlich die Reliquie eines echten eucharistischen Wunders verehrt, das in einer in den Stadtarchiven aufbewahrten notariellen Urkunde festgehalten war. Das Wunder hatte in Siena stattgefunden: Ein Priester, der einem Kranken die Kommunion bringen sollte, legte nachlässigerweise die geweihte Hostie in sein Brevier. Am Lager des Kranken schlug er das Buch auf und fand die Hostie ganz verflüssigt vor, beinahe blutig; zwei Seiten waren ebenfalls mit Blut befleckt. Eine dieser Seiten und die Wunderhostie wurden dem Kloster des heiligen Augustinus in Cascia überlassen und hinfort in einem eigens dafür hergestellten Reliquiar verwahrt. Dieses Reliquiar wurde jedes Jahr bei der Fronleichnamsprozession mitgeführt.

Eines Tages wohnte Rita in der Kirche des Augustinerinnenklosters der heiligen Maria-Magdalena in Cascia der heiligen Messe bei und hörte in ihrem Inneren, wie Christus zu ihr sprach: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6). Dieses Wort scheint der Ausgangspunkt ihrer religiösen Berufung gewesen zu sein. Rita versuchte von ihren Eltern die Erlaubnis zu erhalten, sich Gott weihen zu dürfen, doch vergeblich. Im Gegenteil, sie wurde bereits im Alter von zwölf Jahren einem jungen Mann mit rauhen Sitten aus Roccaporena, Paolo di Fernando, zur Ehe versprochen, der später jedoch durch ihre Liebenswürdigkeit besänftigt wurde. Nach ihrer Hochzeit lebten sie in bester Harmonie zusammen und bekamen zwei Söhne. Als verheiratete Frau und Familienmutter setzte Rita ihr intensives spirituelles Leben fort. Nach etwa fünfzehn Jahren ereignete sich allerdings eine Tragödie: Ritas Mann wurde ermordet; den Grund für diesen Mord kennt man bis heute nicht mit Sicherheit.

Die «Vendetta»

Von diesem Tage an betete Rita um die Kraft, dem Mörder vergeben zu können, und flehte inständig zum Herrn, auch er möge ihm vergeben. Sie befürchtete, dass ihre Söhne eines Tages versuchen könnten, ihren Vater zu rächen (zumal die «Vendetta» in den Sitten der Mittelmeerländer fest verankert war); um sie von dieser Versuchung abzulenken, versteckte sie das blutbefleckte Hemd ihres Mannes und ermahnte sie ebenfalls zur Vergebung; sie beschwor Gott, ihr lieber auch die Kinder wegzunehmen, als dass diese sich zur Rache hinreißen ließen. Einige Monate später starben beide Söhne Ritas an einer Krankheit, ohne sich gerächt zu haben. Die Vergebung Ritas zeigte sich auch darin, dass sie sich weigerte, den Namen des Mörders der Familie ihres Mannes preiszugeben; diese reagierte mit heller Empörung darauf.

«Die Vergebung! Christus hat uns die Vergebung gelehrt», sagte der Papst kurz nach dem Attentat vom 13. Mai 1981. «Viele Male und auf unterschiedliche Weise hat er uns Vergebung gelehrt. Als Petrus ihn fragte, wie oft er seinem Nächsten vergeben müsse - Bis siebenmal? - antwortete Jesus, er müsse bis siebzigmal siebenmal vergeben (Mt 18,21-22). Praktisch heißt das 'immer'. Denn die Zahl siebzigmal siebenmal ist symbolisch und bedeutet mehr als eine festgelegte Menge, nämlich eine unberechenbare, unendliche Menge. Als Antwort auf die Frage, auf welche Art man beten müsse, sprach Christus einige großartige Worte an die Adresse des Vaters: Vaterunser im Himmel, und nach den Bitten, aus denen dieses Gebet besteht, kommt die letzte, die von der Vergebung spricht: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern (die uns gegenüber schuldig sind). Schließlich bekräftigt Christus die Wahrheit dieser Worte selbst am Kreuze, als er, an den Vater gewandt, flehentlich bittet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34). 'Vergebung' ist ein Wort, das von den Lippen eines Menschen gesprochen wird, dem selbst Böses angetan worden ist. In diesem Wort aus dem Herzen versucht jeder von uns die Grenze der Feindschaft zu überwinden, die ihn von seinem Nächsten trennen kann, und einen inneren Raum der Eintracht, der Berührung, der Verbundenheit zu bauen. Durch das Evangelium und vor allem durch sein Beispiel hat Christus uns gelehrt, dass dieser Raum sich nicht nur vor dem anderen Menschen auftut, sondern gleichzeitig auch vor Gott selbst. Der Vater, der der Gott der Vergebung und der Barmherzigkeit ist, wünscht gerade in diesem Raum der menschlichen Vergebung zu wirken. Er will denen vergeben, die den anderen vergeben können, denen, die die folgenden Worte in die Praxis umzusetzen suchen: Vergib uns ... wie auch wir vergeben» (21. Oktober 1981).

Schwierig aber möglich

Es kann schwierig sein, Vergebung zu gewähren. «Es wäre nicht möglich, das Gebot des Herrn zu befolgen, wenn es sich darum handelte, das göttliche Vorbild äußerlich nachzuahmen», lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche. «Es handelt sich aber um eine lebendige, 'aus den Tiefen des Herzens' kommende Teilnahme an der Heiligkeit, an der Barmherzigkeit und an der Liebe unseres Gottes. Die Einheit der Vergebung wird möglich, wenn wir einander verzeihen, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat (Eph 4,32) ... Davon, vom ganzen 'Herzen', hängt alles ab. Es liegt nicht in unserer Macht, eine Schuld nicht mehr zu spüren und so zu vergessen; doch das Herz, das sich dem Heiligen Geist öffnet, lässt diese Verletzung zu Mitleid werden und reinigt das Gedächtnis, indem es die Schuld zu einer Fürbitte werden lässt» (Katechismus, 2842-2843).

Nachdem sie Witwe geworden war, verließ Rita das Heim der Familie in Roccaporena und zog in ein kleineres Haus, wo sie sich dem Gebet und wohltätigen Werken widmete. Der frühere Wunsch Ritas, sich Gott zu weihen, erwachte von neuem, und sie bat um Aufnahme in das Augustinerinnenkloster der heiligen Maria Magdalena in Cascia. Trotz ihrer inständigen Bitten wurde sie abgelehnt. Sehr betroffen, betete Rita umso mehr; eines Nachts vernahm sie die Aufforderung des heiligen Johannes des Täufers, auf den Gipfel des Schioppo, einer etwa 120 m hohen felsigen Bergspitze, zu klettern. Dort wurde sie durch eine Vision des Täufers in Begleitung des heiligen Augustinus und des heiligen Nikolaus von Tolentino (der damals noch nicht heiliggesprochen war) getröstet. Die drei Heiligen führten sie auf geheimnisvollem Wege ins Kloster, wo ihre Bitte um Aufnahme endlich erhört wurde. Die Gemeinschaft umfasste zehn Nonnen unter der Leitung einer Äbtissin. Während ihres Noviziats las Rita begierig die Heilige Schrift, machte sich mit dem Psalmensingen während des Gottesdienstes vertraut und betete den Rosenkranz. Vor ihrer Profeß schenkte sie all ihr Hab und Gut dem Kloster.

Ritas Leben im Kloster verlief nicht ohne Prüfungen. Mindestens einmal war sie versucht, in die Welt zurückzukehren; zum anderen wurde sie von zahlreichen Versuchungen, insbesondere gegen die Tugend der Keuschheit, heimgesucht. Sie bekämpfte sie durch Gebet und Buße, sowie durch die Betrachtung der Passion Christi. Ein ganz alter Bericht über ihr Leben, das 1628 zu ihrer Seligsprechung verfasste Breve racconto, zeigt sie uns schon vor ihrem Eintritt ins Kloster bei dieser Beschäftigung: «Um ihrer Sehnsucht zu helfen, sich stets mit den himmlischen Geheimnissen zu befassen, ohne sich unnütz von weniger würdigen Dingen ablenken zu lassen, stellte sie sich die einzelnen Teile ihres ärmlichen Hauses als die verschiedenen Orte der grausamen Passion unseres Heilands dar. So erkannte sie in einer bestimmten Ecke den Kalvarienberg wieder, in einer anderen das heilige Grab, wieder anderswo die Stätte der Geißelung, und das ging so weiter mit allen anderen Geheimnissen. Diese Vorstellung half ihr so sehr, dass sie sie auch später im Kloster aufgriff im beschränkten Raum ihrer winzigen Zelle.»

Das geistliche Leben Ritas war von den Franziskanern beeinflusst, für die die andächtige Beschäftigung mit der Passion Christi einen zentralen Platz einnahm. Der heilige Bonaventura schrieb an eine Nonne: «Wer in sich die Frömmigkeit nicht erlöschen lassen will, muss oft, sogar immer, mit den Augen seines Herzens den am Kreuz sterbenden Christus betrachten. Wenn Ihnen etwas Trauriges, Mühsames, Ärgerliches, Bitteres widerfährt oder wenn Sie sich scheuen, etwas Gutes zu tun, wenden Sie sich unverzüglich dem gekreuzigten, am Kreuze hängenden Jesus zu; sehen Sie sich die Dornenkrone, die Eisennägel, die Spur der Lanze in seiner Seite an; betrachten Sie die Verletzungen an den Füßen, die Wunden an der Flanke, die Wunden am ganzen Körper, die Sie daran erinnern, wie sehr Er Sie geliebt hat, Er, der für Sie so sehr gelitten und für Sie solche Qualen ertragen hat!» (Von der Vollkommenheit des Lebens).

Ein Dorn in der Stirn

Während der Fastenzeit 1425 predigte jeden Tag der heilige Jakob Della Marcha, ein Franziskaner, in Cascia. Durch seine Karfreitagspredigt zutiefst erschüttert, fühlte Rita sich von dem Wunsch ergriffen, irgendwie an der Pein des Erlösers teilzuhaben. In ihre Zelle zurückgekehrt, warf sie sich vor dem Kruzifix zu Boden und flehte zum Herrn, er möge sie zumindest den Schmerz eines einzigen Dornes aus seiner Dornenkrone spüren lassen. Einige Jahre später, 1432, wurde ihr dann die Gnade eines ganz besonderen Stigmas zuteil: Ein Dorn aus der Krone Christi verwundete sie auf wunderbare Weise an der Stirn, und zwar so, dass sich die Wunde bis zu ihrem Tod nicht schloss. Fast zweihundert Jahre nach Ritas Tod versicherte der Verfasser des Breve racconto, dass die Wunde auf der Stirn ihres unverwest gebliebenen Leichnams immer noch sichtbar sei. Als 1972, 1997 und erst kürzlich wieder der Leichnam der Heiligen gesichtet wurde, bestätigten die Spezialisten das Vorhandensein einer deutlichen Knochenveränderung an Ritas Stirn. Beim sechshundertsten Jahrestag der Geburt der heiligen Rita schrieb Papst Johannes-Paul II.: «Ein bedeutsamer Begegnungspunkt lässt sich zwischen den beiden Kindern Umbriens ausmachen, zwischen Rita und Franziskus von Assisi. Denn was die Stigmata für Franziskus waren, war der Dorn für Rita: ein Zeichen der unmittelbaren Teilnahme am Erlösungstod des Herrn Christus. Diese Beteiligung an der Passion ergab sich für beide aus der Liebe, der eine einende Kraft innewohnt» (10. Februar 1982).

Die Stigmatisation Ritas zog die Prüfung der Einsamkeit nach sich, denn die Wunde auf ihrer Stirn war ekelerregend und zwang sie oft, auf Abstand zur Gemeinschaft zu bleiben, damit sich die Schwestern nicht daran störten. Als diese wahrscheinlich im Jahre 1446 zur Heiligsprechung von Nikolaus von Tolentino nach Rom reisen mussten, hielten sie Rita mit großem Mitgefühl dazu an, wegen des Stigmas in Cascia zu bleiben, da es in der Ewigen Stadt Anstoß erregen könnte. Rita begann intensiv zu beten und erreichte damit, dass das Wundmal verschwand; sobald sie jedoch aus Rom heimgekehrt war, wurde es wieder sichtbar.

Eine Rose im Schnee

In den letzten Monaten ihres Lebens, als sie bereits erkrankt war, wurde Rita von einer Verwandten besucht. Im Augenblick des Abschieds voneinander fragte letztere, ob Rita etwas von zu Hause wünsche. Sie antwortete, sie wünsche sich eine Rose und zwei Feigen aus ihrem Garten. Die Verwandte lächelte, denn es war tiefster Winter, und dachte, die Kranke deliriere. Als sie jedoch bei deren Haus angekommen war, fand sie zu ihrer großen Überraschung an einem völlig entblätterten und schneebedeckten Rosenstock eine herrliche Rose und am Feigenbaum zwei Feigen. Sie plückte die Blume und die Früchte und brachte sie der Kranken. Aufgrund dieses Wunders wurde Rita später die «Rosenheilige» genannt.

Rita starb wahrscheinlich im Jahre 1447, und zwar am 22. Mai. Im Breve racconto steht, dass sie beim Nahen des Todes eine Erscheinung von Jesus und Maria hatte. Freudig bat sie daraufhin um die Sterbesakramente und verschied friedlich. Sogleich begannen die Kirchenglocken von alleine zu läuten. Der Leichnam Ritas verweste nicht: Diese Tatsache wurde zu verschiedenen Zeiten im Abstand von mehreren hundert Jahren bestätigt. Die wunderbare Konservierung des Leibes nach dem Tode wurde von den Christen schon immer als Zeichen der Heiligkeit und Unterpfand der künftigen Auferstehung gewertet. Am 20. Mai 2000 sagte der Papst vor dem Reliquienschrein mit dem Leib der heiligen Rita: «Die sterbliche Hülle der heiligen Rita stellt ein bedeutsames Zeugnis für das Werk dar, das der Herr im Laufe der Geschichte vollbringt, wenn er demütige und für seine Liebe verfügbare Herzen findet. Zutiefst verwurzelt in der Liebe Christi fand Rita in ihrem unerschütterlichen Glauben die Kraft, in jeder Situation eine Frau des Friedens zu bleiben ... Der Spiritualität des heiligen Augustinus folgend, wurde sie eine Jüngerin des Gekreuzigten, eine «Leidensexpertin», und sie lernte die Schmerzen des menschlichen Herzens zu verstehen. Rita wurde so zur Anwältin der Armen und all derer, die nichts haben, und konnte für die, von denen sie in den unterschiedlichsten Situationen angerufen wurde, unzählige Gnaden des Trostes und des Zuspruchs erwirken.»

«Wenn ich kein Krüppel wäre ...»

Die Verehrung der heiligen Rita begann bereits bei ihrem Tod. Das erste Wunder, das wir ihr verdanken, fand noch vor ihrer Beerdigung statt. Ein Tischler aus Cascia, der gekommen war, um ihre sterbliche Hülle zu verehren, rief: «Wenn ich nicht verkrüppelt wäre, würde ihr ihren Sarg schreinern!» Er wurde sogleich geheilt und konnte den ersten Sarg für die Heilige herstellen. Bald danach genas eine Verwandte Ritas, die diese noch einmal umarmen wollte, von einer Lähmung am Arm. Als immer mehr Gnadenbeweise greifbar wurden, brachten die Nonnen kleine Exvotos in der Nähe ihres Sarges an. Anfang des 16. Jahrhunderts hatte sich Ritas Ruhm in ganz Italien ausgebreitet und dehnte sich danach auch auf andere europäische Länder aus. Nach langen Untersuchungen im Jahre 1628 seliggesprochen, erfolgte ihre Heiligsprechung erst am 24. Mai 1900.

1710 nannte ein spanischer Mönch aus dem Orden der Augustiner zum ersten Mal die heilige Rita «Helferin in aussichtslosen Anliegen». Sie wird auch als «Patronin der verzweifelten Anliegen» bezeichnet. Ihr werden die verschiedensten Probleme anvertraut: Heilungen, Arbeit, Geschäfte, Examensnöte usw. Ihre Fürsprache ist auch heute noch wirksam, wie die 595 im 20. Jahrhundert im Heiligtum von Cascia hinterlegten Exvotos belegen.

Doch das größte Anliegen, um das wir uns sorgen und um das wir beten, ist das Anliegen unserer Heiligung. «Das ist es, was Gott will: eure Heiligkeit (1 Thess 4,3)», mahnte der Papst beim Übergang ins dritte Jahrtausend. «Alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges sind zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen. Damit wird die Überzeugung ausgedrückt, dass es widersinnig wäre, sich mit einem mittelmäßigen Leben zufrieden zu geben, das im Zeichen einer minimalistischen Ethik und einer oberflächlichen Religiosität geführt wird, wenn die Taufe durch die Einverleibung in Christus und die Einwohnung des Heiligen Geistes ein wahrer Eintritt in die Heiligkeit Gottes ist. Einen Katechumenen fragen: ,Möchtest du die Taufe empfangen?', das schließt gleichzeitig die Frage ein: ,Möchtest du heilig werden?'. Es bedeutet, seinen Lebensweg vom Radikalismus der Bergpredigt leiten zu lassen: Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist (Mt 5,48). Man darf dieses Ideal der Vollkommenheit nicht falsch verstehen, als sei es eine Art außerordentlichen Lebens, das nur von einigen ,Genies' der Heiligkeit geführt werden könnte. Die Wege der Heiligkeit sind vielfältig und der Berufung eines jeden angepasst» (Johannes-Paul II., Novo millennio ineunte, 6. Januar 2001).

Allerdings sind bestimmte Worte des Evangeliums sehr anspruchsvoll und scheinen unsere Kräfte zu übersteigen: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für sie, die euch verfolgen und verleumden, auf dass ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet (Mt 5,43). Der heilige Hieronymus kommentiert das so: «Viele messen die Gebote Gottes an ihrer eigenen Schwäche, halten das hier Gebotene für unmöglich und sagen, der Tugend genüge es, die Feinde nicht zu hassen, aber sie zu lieben, das heißt, mehr zu verlangen, als die menschliche Natur ertragen kann. Man muss also wissen, dass Christus nicht das Unmögliche befiehlt, sondern die Vollkommenheit. David hat sie Saul und Absalom gegenüber verwirklicht. Ebenso betete der Märtyrer Stephan für seine Feinde, die ihn steinigten, und Paulus wünschte, anstelle seiner Verfolger verbannt zu werden. Das hat Jesus gelehrt und vorgelebt ...» Jesus hat die Feindesliebe vorgelebt, um uns die Kraft weiterzugeben, ebenso zu handeln.

Beten wir zur heiligen Rita, sie möge ihre Macht bei Gott dafür einsetzen, dass wir barmherzig werden, wie unser Vater barmherzig ist (Lk 6,36).

Dom Antoine Marie osb

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