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28. September 2002 Hl. Lioba |
Lou Tseng-Tsiang kam am 12. Juni 1871 in Schanghai zur Welt. Sein Vater, Lou Yong-Fong, stammte aus einer wohlhabenden Familie. 1854 hatte er Ou Kin-Ling geheiratet; aus ihrer Ehe ging ein kleines Mädchen hervor, das jedoch bald nach der Geburt starb. Erst 17 Jahre später sollte die Familie ein zweites Kind bekommen, Tseng-Tsiang. Bei der Geburt zog sich die Mutter eine Wassersucht zu, an der sie acht Jahre später starb.
Eine Etappe
Nachdem er erst Privatunterricht über die chinesischen Klassiker erhalten hatte, wurde Lou Tseng-Tsiang mit dreizehneinhalb Jahren in die Fremdsprachenschule von Schanghai eingeschult. Er lernte vor allem französisch. Mit 21 Jahren kam er auf eine dem Außenministerium angeschlossene Dolmetscherschule. 1893 wurde er als Dolmetscher in die chinesische Gesandtschaft nach Sankt Petersburg (Russland) entsandt; dort begegnete er einem Lehrer, der ihn überredete, die diplomatische Laufbahn einzuschlagen. Dieser Mann, Shu King-Shen, war ganz von konfuzianistischer Weisheit durchdrungen.
«Die konfuzianische Lehre», schrieb Pater Lou 1945, «ist im Wesentlichen die traditionelle Weisheit der alten Könige zu Beginn der chinesischen Geschichte im dritten Jahrtausend vor Jesus Christus. Die Zeugnisse dieser Weisheit wurden im 6. Jh. vor Chr. von Konfuzius überarbeitet und publiziert; sie stellen unsere chinesischen Klassiker dar. China lebte von dieser Philosophie und dieser Bildung; ihnen verdankt es die Ausgeglichenheit seines politischen Geistes und seiner Regierungstraditionen, die sich unmittelbar auf das Prinzip des Familienlebens stützen...» Konfuzius glaubte an die Existenz Gottes, des höchsten Wesens, ebenso wie an eine Vorsehung und an das Weiterleben der Seele, wenngleich er über deren Bestimmung nach dem Tode absolut nichts sagte. Er beschränkte sich darauf, seinen Schülern praktische Regeln sozialer und politischer Ethik zu vermitteln.
Kindliche Ehrerbietung
Im Katechismus der Katholischen Kirche lesen wir: «Das vierte Gebot weist auf die Ordnung der Liebe hin. Gott hat gewollt, dass wir nach ihm auch unsere Eltern ehren, denen wir unser Leben verdanken... Wir sind verpflichtet, alle zu ehren und zu achten, die Gott zu unserem Wohl mit seiner Autorität ausgestattet hat» (Katechismus, 2197). Zwei Gründe können uns veranlassen, jemanden zu ehren: die Vortrefflichkeit dieser Person und die von ihr empfangenen Wohltaten. Deshalb müssen wir zuallererst Gott in seiner unendlichen Vollkommenheit und als universalen Wohltäter verehren. An zweiter Stelle müssen wir unsere Elt,ern und all die verehren, die legitim Autorität besitzen. Dann kommen die anderen Mitglieder der Familie und der Gesellschaft.
Die kindliche Ehrerbietung ist vor allem ein inneres Gefühl; sie beinhaltet jedoch auch äußere Zeichen der Achtung und des Gehorsams als normale Ausdrucksformen der Abhängigkeit. Sie erstreckt sich auch auf die Heimat, deren lateinischer Name patria auf pater (Vater) zurückgeht. Die Heimat ist eine moralische und staatsbürgerliche Gemeinschaft, gebildet von Menschen, die durch das gleiche Erbe an Herkunft, an Land und an Kultur miteinander vereint sind. Mehr als ein Gefühl der Verwurzelung, ist der Patriotismus eine Haltung des Verstandes und des Willens, ein Engagement für das gemeinsame Erbe, um es zu bewahren, zu mehren, weiterzugeben und zu verteidigen. Der christliche Patriotismus lehnt den übertriebenen Nationalismus ab, der das nationale Interesse zu etwas Absolutem machen will: Die Vergötterung der Heimat oder des Staates ist eine heidnische Ansicht. Ein gesunder Patriotismus verbindet sich demgegenüber mit dem Bewusstsein der universalen Solidarität der Menschen untereinander, das wiederum nicht mit jenem falschen Internationalismus verwechselt werden darf, der jeden Unterschied in der menschlichen Gemeinschaft und damit auch die Heimat verleugnet. Selbst Jesus Christus hatte eine Heimat (vgl. Lk 4,23-24).
Kann man ohne Gott regieren?
Die Macht der Mandschu-Dynastie verfiel zu Beginn des 20. Jh. in Peking als Auswirkung ihrer Günstlingswirtschaft und ihrer Inkompetenz. Shu, der Lehrer von Lou Tseng-Tsiang, wollte sein Land im Geiste der Begründer der chinesischen Kultur verjüngen. Das Christentum und insbesondere die katholische Kirche betrachtete er dabei mit respektvoller Aufmerksamkeit; er war von der Existenz einer geistlichen Weltregierung (des Papstes) beeindruckt, deren Alter bis zum Gründer der christlichen Religion zurückreichte. «Beobachten Sie die Sitten der hervorragendsten Beamten der europäischen Länder», empfahl er seinem Schüler. «Seien sie bereit, zum gegebenen Zeitpunkt die herrschenden Männer in Peking zu ersetzen, um in China einen Neuaufbau zu beginnen.» Shu selbst fiel in Peking, wo er zu einem hohen außenpolitischen Beamten ernannt worden war, seiner patriotischen Selbstüberwindung zum Opfer. Da er die Aufmerksamkeit der Regierung auf die unverzüglich in Angriff zu nehmenden Reformen lenkte, wurde er erst angeklagt, verurteilt und enthauptet (1900), dann aber, sechs Monate später, ehrenvoll, wenn auch völlig unnütz, rehabilitiert. «Wozu sollte man einer so üblen Regierung dienen?», fragte sich Lou... In Anbetracht der moralischen Verpflichtung jedoch, der Aufgabe seines Lehrers treu zu bleiben, schrieb er: «Jedes Zögern vor der Pflicht ist ein Rückzug.»
«Meine Koffer sind gepackt!»
Lou sah weiter. Er hatte eine französischsprachige Europäerin getroffen und erwählt, eine Katholikin, eine Frau von wachem Sinn, von hohem moralischen Anspruch und vollkommenem Takt; sie war nicht Angehörige einer Großmacht, sondern eines kleinen Landes, was für einen Diplomaten etwas ganz Anderes war. Die Hochzeit fand in Sankt-Petersburg im Februar 1899 statt. Die Neuvermählten lebten in vollkommener Eintracht; doch sehr zu ihrem Leidwesen schenkte ihnen Gott kein Kind. Im tröstlichen Rahmen seines Heims dachte Lou darüber nach, worin die Kraft Europas bestand, nämlich den christlichen Glauben: «Ich habe die heilige Kirche, die einen uns von Jesus Christus selbst gegebenen Grundsatz zur Regel hat: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen (vgl. Mt 7,20), vom Standpunkt eines Mannes der Tat auf der Suche nach dem Guten aus betrachtet... Ich habe die überdeutliche Überlegenheit der heiligen Römischen Kirche erkannt, die einen lebendigen Schatz birgt: das geistliche Leben, das aus dem Opfer Jesu Christi am Kreuz entspringt und den Gläubigen mittels der sieben Sakramente sichtbar gemacht und gespendet wird... Schon die Tatsache der Messe und der Sakramente an sich verlangt nach Beobachtung, Nachdenken und Respekt...
Wie konnte das Christentum, das in der westlichen Welt großgeworden ist und diese so durchdrungen hat, dass sie mit ihr ganz verwachsen ist, einen Mann aus dem Fernen Osten verführen?... Die Einheit, die Universalität und die Uneigennützigkeit der katholischen Kirche stehen an ihrem Ursprung. Ich möchte meinen Landsleute zurufen: Lest das Evangelium, lest die Apostelgeschichte und die Briefe; lest die Geschichte der Verfolgungen in den ersten Jahrhunderten der Kirche und die der Märtyrer; nehmt alle Seiten der Kirchengeschichte. Ihr werdet feststellen, dass es sich um ein absolut erhabenes und einzigartiges soziales Phänomen handelt. Vielleicht werdet ihr euch dann die Frage stellen: ,Hat sich der Schöpfer nicht wirklich offenbart?'... Die staatliche Autorität muss doch alles in ihrer Macht Stehende tun, damit eine so überaus fruchtbare Einrichtung unter den Völkern gedeihen kann!»
Diese Überlegungen Lous stehen in Einklang mit den kürzlich geäußerten Worten von Papst Johannes-Paul II.: «Meine größter Wunsch für Europa ist, dass es sein christliches Erbe bewahren und fruchtbar machen möge... Die Alte Welt braucht Jesus Christus, um ihre Seele nicht preiszugeben, um nicht zu verlieren, wodurch sie in der Vergangenheit groß geworden war und was an ihr heute noch die Bewunderung anderer Völker erregt» (23. Februar 2002).
Der Einfluss des Beispiels
Gleichzeitig nahm in China die von Dr. Sun Yat-Sen angeführte Revolution rasch ihren Lauf. Anfang 1912 dankte der Kaiser auf persönliches Anraten Lous ab. Das provisorische Parlament bot dem Diplomaten das Amt des Außenministers an. Von diesem Zeitpunkt an übte er acht Jahre lang in Peking die höchsten Regierungsämter aus, darunter auch das Amt des Premierministers. Er nutzte die Gelegenheit, um zwischen China und dem Heiligen Stuhl offizielle diplomatische Beziehungen zu knüpfen.
«Werden Sie zum Schüler...»
Lou versuchte, seiner Frau den tödlichen Charakter ihrer Krankheit beizubringen. Zu dieser Zeit erschien das Journal et pensées de chaque jour von Elisabeth Leseur, das von Pater Leseur, ihrem Gatten, veröffentlicht wurde, der nach ihrem Tode Dominikaner geworden war. Herr und Frau Lou lasen das Werk gemeinsam. «Wie zum Spaß nannte ich meine teure Kranke manchmal Elisabeth: 'Du bist wirklich eine Nachfolgerin von Elisabeth Leseur... Ich weiß nicht, ob ich eines Tages wie Pater Leseur werde sein können...' Sie lächelte: 'Warum nicht? Mit Gottes Gnade und deinem guten Willen!...' Seit diesem Geständnis haben wir uns beide vor dem Ruf verneigt, den Gott mir eindeutig zugedacht hatte.» Frau Lou starb am 16. April 1926.
Nachdem Lou sein Ansinnen dem Beichtvater seiner Frau eröffnet hatte, riet dieser ihm zu einem Leben als Regularoblate des Benediktinerordens. Ein Regularoblate nimmt in allem am Gemeinschaftsleben teil, ist jedoch nicht an die Ordensgelübde gebunden. Lou begab sich in die Abtei Saint-André in Brügge (Belgien), wo er vom Abt den Rat bekam, doch lieber richtiger Mönch und dann Priester zu werden; so legte er am 4. Oktober 1927 unter dem Namen Bruder Pierre-Célestin die Ordenstracht der Benediktiner an. 1932 sprach er sein feierliches Gelübde aus; da er sich matt fühlte, glaubte er mit Erlaubnis seines Abtes auf das für das Priesteramt erforderliche lange Studium verzichten zu müssen. Am 3. Mai 1933 jedoch kam einer seiner Freunde aus Schanghai und brachte ihm einen Kelch als Geschenk von zwanzig ehemaligen allesamt nichtchristlichen Kollegen aus dem diplomatischen Corps Chinas mit. «Aber ich habe darauf verzichtet, Priester zu werden!» «Wir werden sehr enttäuscht sein», antwortete sein Freund. Da Lou darin einen Fingerzeig Gottes erblickte, begann er mit dem Studium nicht für sich, sondern für die Kirche und für sein Land; er wurde am 29. Juni 1935 mit 64 Jahren zum Priester geweiht.
Allerdings schreckte ihn der Gedanke, jeden Tag das heilige Messopfer zu feiern: «Wie soll ich es wagen, mich jeden Tag dem Allmächtigen zu nähern!... Ich werde daran sterben...» Doch nach einer Krankheit, die ihn nachdenklich machte, bekannte er: «Unser Vater, der heilige Benedikt, sagt in seiner Regel, dass Gott ein Meister und ein Vater ist. Ich habe gemerkt, dass er Meister ist; ich habe vergessen, dass er Vater ist. Während dieser Krankheit war der Herr so gnädig, mich zu erleuchten. Weil ich die Messe Gott, unserem Vater, darbringe, werde ich keine Angst mehr haben, sie zu feiern!»
Lou war in ein Benediktinerkloster in Belgien gegangen, in die Heimat seiner Frau, um seinem Volk einen neuen Weg zu erschließen, indem er es mit der durch den menschgewordenen Sohn Gottes gegründeten Kirche verband. Die besondere Bedeutung seines Lebenslaufs und seiner Berufung veranlasste Papst Pius XII., ihm am 19. Mai 1946 die Abtwürde ehrenhalber zu verleihen. Diese Ehrung war das Signal zu einem intensiveren Apostolat. Für Abt Lou litt der Osten darunter, dass er zum großen Teil den Messias noch nicht kannte; der Westen hingegen darunter, dass er, nachdem er ihn kennengelernt hatte, sich viel zu weit von ihm entfernt hat. «Das Problem der internationalen Beziehungen ist in erster Linie politischer Natur: Es ist vor allem intellektueller und moralischer Art», schrieb er. «Im Grunde liegt dieses Problem in den Bindungen und Spaltungen, die unter den Menschen durch die Verwandtschaft bzw. die Unterschiedlichkeit ihrer jeweiligen Kultur hervorgerufen werden.» Aus diesem Grunde trat er für solche Einrichtungen ein, die die Begegnung zwischen der christlichen und der chinesischen Kultur förderten.
Begegnung zwischen Ost und West
Ende 1948 geriet Pater Lou durch eine schwere Krankheit an den Rand des Todes. Kurz vor seinem Ende sagte er: «Nur noch wenige Stunden... um den Herrn zu sehen! Unseren Herrn sehen! Welches Glück!» Sein Beichtvater riet ihm: «Jetzt ist die Stunde gekommen, Ihr Leiden mit Jesus am Kreuz als Opfer darzubringen.» Er nickte mit dem Kopf; das war das letzte Zeichen seines Bewusstseins vor einer langen Agonie. Am 15. Januar 1949, dem Jahrestag seines Ordensgelübdes hauchte er im Alter von 78 Jahren seine Seele aus; doch für die, die Gott lieben, gibt es keinen Tod: Es gibt nur einen Übergang aus dem Leben hier auf Erden in das ewige Leben.
In einem posthum veröffentlichten Buch, das er hinterließ, Die Begegnung der Kulturen und die Entdeckung des Evangeliums, findet sich folgender Abschnitt: «In der Stunde des höchsten Leidens äußerte sich die Seelenkraft Jesu großherzig in seiner kindlichen Ehrerbietung für seinen Vater und auch für die Jungfrau Maria, die ihn in ihrem Schoß getragen hatte und deren Kind er immer noch war. Das Testament, durch welches er seine Mutter dem Lieblingsjünger anvertraute, ist ein Testament der kindlichen Verehrung. Kann Maria all die Menschen, die durch das Blut ihres Sohnes wiedergeboren wurden, als nicht ihre Kinder betrachten?»
Möge unsere Liebe Frau auch uns die Gnade einer kindlichen Haltung unserem Vater im Himmel gegenüber gewähren! Diese Haltung wird sich in einer angemessenen Verehrung unserer Vorfahren und Vorgesetzten äußern und wird zur Quelle göttlichen Segens, wie Moses von Gott verheißen wurde: «Ehre deinen Vater und deine Mutter,... damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt» (Dt 5,16).