Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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25. Februar 2009
Hl. Walburga


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Wenn niemand mehr mir zuhört, hört Gott mir immer noch zu. Wenn ich zu niemand mehr reden, niemanden mehr anrufen kann – zu Gott kann ich immer reden ... Dreizehn Jahre in Haft, in einer Situation scheinbar totaler Hoffnungslosigkeit, ist ... [dem unvergesslichen Kardinal Nguyen Van Thuan] das Zuhören Gottes, das Redenkönnen mit ihm zu einer wachsenden Kraft der Hoffnung geworden, die ihn nach seiner Freilassung beflügelt hat, den Menschen in aller Welt Zeuge der Hoffnung zu werden – der großen Hoffnung, die auch in den Nächten der Einsamkeit nicht untergeht« (Enzyklika Spe salvi, 30. November 2007, Nr. 32). Mit diesen wenigen Worten umreißt Papst Benedikt XVI. das Wesentliche im Leben des Kardinals.

Franz-Xaver Nguyen Van Thuan wurde am 17. April 1928 in der Nähe von Huê, der ehemaligen Hauptstadt Annams, geboren. Sein Vater und seine Mutter entstammten nicht der gleichen gesellschaftlichen Schicht: Die Familie des Vaters bestand aus Unternehmern und Händlern, die der Mutter aus hohen Mandarinen. Beiden Familien gemeinsam waren jedoch seit Generationen der christliche Glaube sowie die Heimatliebe: Hier wie da gab es zahlreiche Märtyrer. Vietnam hatte ja zwischen 1644 und 1888 mehrere blutige Verfolgungswellen erlebt, die insgesamt etwa 150 000 Märtyrer gefordert hatten.

Vor allem die mütterliche Linie wurde von Thuan sehr bewundert. Ngo Dinh Kha, Thuans Großvater, gehörte zu den wenigen Katholiken, die beim vietnamesischen Kaiser wichtige Ämter bekleideten. Er hatte sechs Söhne und drei Töchter, an die er die leidenschaftliche Überzeugung seines Lebens weitergab, die Unabhängigkeit Vietnams sei von Gott gewollt. Unter dem Einfluss seiner 1903 geborenen Tochter Hiep bzw. Elisabeth, der späteren Mutter Thuans, blieb die Familie Ngo Dinh sowohl im Glauben als auch in dem Willen vereint, für die Unabhängigkeit des Landes einzutreten; Diem, Khas dritter Sohn, wurde 1955 der erste Präsident der neuen Republik Vietnam.

Nguyen Van Am und seine Frau Hiep waren seit 1924 verheiratet. Ihrem zweiten Sohn – dem sieben weitere Kinder folgen sollten - gab Hiep den Namen Thuan („Gottes Wille«). Thuan hatte eine glückliche Kindheit; eine besonders große Zuneigung und Bewunderung hatte er für seine Onkel Thuc und Diem, die ihn ebenfalls sehr gern hatten. Als Thuan 13 Jahre alt wurde, bat er seine Eltern um die Erlaubnis, auf dem kleinen Seminar von An Ninh weiterlernen zu dürfen, wo auch sein Onkel Thuc Schüler gewesen war, bevor er Priester und später Bischof wurde. An Ninh war eine Hochburg des katholischen Widerstandes gegen die Verfolgung, und das Bildnis Ngo Dinh Khas hatte dort einen ehrenvollen Platz inne. Das Seminar wurde von Patres der Pariser Missions Étrangères geleitet, unterstützt von einigen vietnamesischen Priestern. Die Lehrer legten den Keim einer wahren Verehrung der Jungfrau Maria in Thuans Seele und stellten ihm verlässliche Lehrmeister zur Seite: den Pfarrer von Ars, Therese von Lisieux und Franz Xaver, seinen Namenspatron.

Die Schrecken des Krieges

Bald griff der Zweite Weltkrieg auf Asien über, es kam zu einer Niederlage Frankreichs und einem provisorischen Sieg Japans. Im März 1945 wurde Vietnam von Japan besetzt. Einige Tage nach diesem Gewaltstreich sahen die Bewohner Huês plötzlich überall in der Stadt rote Fahnen wehen: eine erste Manifestation der kommunistischen „Befreiungsfront« ... Ngo Dinh Khoi, der älteste Onkel Thuans, wurde als erklärter Feind der Kommunisten am 31. August verhaftet und einige Wochen später zusammen mit seinem einzigen Sohn als Landesverräter hingerichtet. Thuan war empört und wütend; ihm schien, er könne das nie vergeben. Die gleiche Befürchtung hatte er 1963-64, als seine ganze Familie durch Morde und Hinrichtungen ausgelöscht wurde; ebenso 1975, in der ersten Zeit seiner eigenen Inhaftierung. Es dauerte lange, bis er lernte, seine Wut zu zähmen, und es fiel ihm schwer. Wenn er das Vorbild Jesu Christi betrachtete, sah er ein, dass kein Weg daran vorbeiführte, diejenigen zu lieben, die ihn so grausam verletzt hatten; sein Herz jedoch verschloss sich jeder Vergebung. Da führte ihm die Vorsehung das Beispiel Pater Miguel Pros vor Augen, eines mexikanischen Jesuiten, der 1927 von der freimaurerischen Regierung seines Landes verhaftet und hingerichtet worden war und der seinen Henkern vergeben hatte. Im Herbst 1947 kam Thuan auf das Priesterseminar von Phu Xuan und beschäftigte sich besonders intensiv mit der Summa theologiae des hl. Thomas. Auf diese Zeit geht auch seine Vertrautheit mit der Nachfolge Christi sowie mit dem Kleinen Offizium der heiligen Jungfrau zurück, alles Werke, denen er sein ganzes Leben lang treu blieb.

Ein Hirte angesichts der Wölfe

Thuan wurde am 11. Juni 1953 von Bischof Urrutia in Huê zum Priester geweiht. Drei Monate später wurde bei ihm eine fortgeschrittene Tuberkulose entdeckt. Er wurde als Notfall ins Zentralkrankenhaus von Huê eingeliefert. Seine Eltern verbrachten Stunden am Krankenlager ihres Sohnes und beteten den Rosenkranz mit ihm. Im April 1954 wurde Thuan nach Saigon ins französische Militärkrankenhaus verlegt: Die Ärzte beschlossen, ihm einen Lungenflügel zu entfernen. Am Morgen der Operation wurde vor der Vollnarkose eine letzte Röntgenaufnahme gemacht: Überraschung! Von einer Tuberkulose keine Spur! „Das ist ein Wunder!«, rief Thuan freudig. Vier Tage danach kehrte er völlig geheilt nach Huê zurück. Im Juli wurde trotz aller Proteste von Ngo Dinh Diem, dem neuen Regierungschef, das Genfer Abkommen unterzeichnet: Das Land wurde zweigeteilt. Der Norden kam unter kommunistische Herrschaft. Im Süden wurde im Oktober 1955 die Republik mit Diem als erstem Präsidenten ausgerufen. Fast eine Million Vietnamesen, darunter viele Katholiken, emigrierten vom Norden in den Süden ... Thuan wurde von seinem Bischof zunächst nach Rom entsandt; er verbrachte vier Jahre dort als Student am Kollegium zur Verbreitung des Glaubens. In den Ferien reiste er durch Europa; im August 1957 stand er in Lourdes vor der Grotte und murmelte, ohne recht zu wissen, was er da sagte: „Im Namen deines Sohnes und in deinem Namen, Maria, nehme ich alle Prüfungen und alles Leid auf mich.« 1959 kehrte er nach Vietnam zurück.

Im Jahr darauf installierte der selige Johannes XXIII. eine vietnamesische Kirchenhierarchie; zur gleichen Zeit wurde Thuan vom Rat der Professoren an die Spitze des kleinen Seminars gewählt. Drei Jahre später, am 1. November 1963, löste eine Gruppe von drei Generälen einen Staatsstreich aus. Am nächsten Tag, dem 2. November, wurde Diem zusammen mit seinem Bruder Nhu auf dem Weg zur Messe ermordet. Sechs Monate später wurde ein anderer Bruder Diems namens Can hingerichtet. Für Thuan war das ein Alptraum: vier Onkel ermordet, zwei weitere im Exil, die Eltern am Ende ihrer Kräfte, die Unabhängigkeit Vietnams gefährdet. Doch die Vorsehung kam ihm zu Hilfe: Er wurde zum Generalvikar gewählt, in ein Amt, das ihm etwas Ablenkung verschaffte. Im April 1967 wurde er schließlich von Paul VI. zum Bischof von Nha Trang ernannt.

Die Diözese Nha Trang lag etwa 400 km von Saigon entfernt an der Küste und zählte damals 1 160 000 Einwohner, darunter 130 000 Katholiken. Thuan wurde an 24. Juni in Huê zum Bischof geweiht. 1968 begann sich im Laufe der vom Vietcong geführten „Tet-Offensive« abzuzeichnen, dass die Kommunisten trotz der amerikanischen Präsenz auch Südvietnam kontrollieren werden. Bischof Thuan beschloss, neben der Schulung von Laien aus den Reihen der Gemeindeglieder auch die Berufungspastoral zu intensivieren. In seiner Diözese stieg innerhalb von acht Jahren die Anzahl der Seminaristen von 42 auf 147 und auf dem bischöflischen Kollegium von 200 auf 500. Im April 1975, kurz vor der Machtübernahme durch die Kommunisten in Nha Trang, weihte der Bischof den letzten großen Jahrgang von Seminaristen. So war die Diözese gegen Restriktionen gut gewappnet. Nach und nach wurden die wichtigsten Städte vom Vietcong besetzt. Tausende von Menschen mit ihren kranken und alten Familienangehörigen brachen in Richtung Süden auf. Bischof Thuan charterte Flugzeuge, um diesen Unglücklichen Tonnen von Medikamenten und Lebensmitteln aus der Luft abzuwerfen. Er zog sich damit die Feindschaft der Kommunisten zu. Er war sich dessen bewusst und tat doch seine Pflicht als Bischof. Am 23. April erfuhr er, dass Paul VI. ihn zum Koadjutor des Erzbischofs von Saigon (Weihbischof mit dem Recht der Nachfolge) ernannt hatte. Ohne sich um die dramatischen Folgen zu kümmern, die diese Entscheidung für ihn haben konnte, machte sich Bischof Thuan Anfang Mai auf den Weg in die Hauptstadt Südvietnams.

„Gott allein und nicht seine Werke!«

Dort wurde er von einflussreichen katholischen Persönlichkeiten, die sich mit den Kommunisten verbündet hatten, genötigt, nach Nha Trang zurückzukehren; diese konnten sich nämlich nicht damit abfinden, dass ein Mitglied der Familie Ngo Dinh möglicherweise Erzbischof von Saigon wurde. Am 13. August erhielt Bischof Thuan eine Aufforderung, sich in den ehemaligen Präsidentenpalast zu begeben. Dort bedrängte man ihn zuzugeben, dass er ein Komplott des Vatikans vorbereite. Da er nichts zugab, wurde er in ein Auto verfrachtet und über Nacht in ein Dorf in der Nähe von Nha Trang gebracht; dort wurde er beim Pfarrer einquartiert und unter Androhung von Repressalien gegen die Diözese mit Hausarrest sowie einem Kommunikationsverbot belegt. Bald begann er innerlich darunter zu leiden, dass er nicht mehr als Bischof für Gott und die Menschen wirken konnte; in seinen schlaflosen Nächten fühlte er sich von Hassgefühlen gegen seine Feinde gepeinigt und betete vergeblich dagegen an.

Als er einmal über die Gefangenschaft des heiligen Paulus in Rom nachsann, kam er auf die Idee, Briefe an die Gläubigen zu verfassen. So entstand das Werk „Auf dem Wege der Hoffnung«. Es wurde ohne Autorenangabe gedruckt und wanderte bald von Hand zu Hand unter den Gläubigen, und das sogar in Frankreich und in den Vereinigten Staaten. Die Behörden waren verärgert und verlegten Bischof Thuan am 19. März 1976, dem Fest des heiligen Josef, in das Lager von Phu Khanh. Man sperrte ihn in eine winzige fensterlose, modrige Zelle, die wegen der Feuchtigkeit voller Schimmelpilze war: Er blieb neun Monate dort, ohne die Zelle auch nur einmal zu verlassen und ohne einen Mitgefangenen zu treffen. Nach und nach begann sich die Isolierungshaft immer mehr auszuwirken: „Viele verworrene Gefühle geistern mir im Kopf herum«, schrieb er. „Trauer, Angst, nervöse Anspannung. Die Trennung von meinem Volk zerreißt mir das Herz ... Ich konnte nicht schlafen, ich wurde von dem Gedanken an die vielen Werke gepeinigt, die ich für Gott begonnen habe und die ich unvollendet zurücklassen muss, und mein Inneres begehrte dagegen auf. Da hörte ich eines Nachts tief in meinem Herzen eine Stimme zu mir sprechen: ‚Warum quälst du dich so? Du musst zwischen Gott und den Werken Gottes unterscheiden. Alles, was du begonnen hast und gerne weiterführen würdest, ist ausgezeichnet: Das sind Werke Gottes, aber nicht Gott selbst! Wenn Gott will, dass du all das hinter dir lässt, so tu das auf der Stelle und vertraue auf Ihn. Er wird die Dinge unendlich besser machen als du ... Du hast dich für Gott allein entschieden und nicht für seine Werke!' Diese Erleuchtung brachte mir einen neuen Frieden, der mir half, Augenblicke durchzustehen, die physisch an der Grenze des Erträglichen waren.«

Lieben, selbst im Gefängnis

Er sah nun das Gefängnis mit neuen Augen. Er richtete seinen Blick fest auf Christus am Kreuz, und stellte fest, dass dieser genau in dem Augenblick, in dem er am schwächsten war, verachtet ..., von Menschen gemieden (Jes 53,3), das größte Werk seines Lebens vollbrachte, nämlich die Erlösung der Welt. Er, Thuan, konnte nicht mehr für Gott tätig sein; doch kein Gefängnis, kein Wärter konnte ihn daran hindern, Gott zu lieben! Am 29. November 1976 führte man ihn in ein Arbeitslager in den nordvietnamesischen Bergen. Dort gelang es ihm, sich von einem Christen etwas Wein schicken zu lassen, der als „Arznei gegen Magenschmerzen« deklariert wurde, und - in einer Taschenlampe versteckt - auch ein paar Stückchen Brot. Er begann heimlich die Messe zu lesen; von da an verließ ihn nie mehr das Gefühl christlicher Freude. Er spendete den katholischen Mitgefangenen die Kommunion; durch seine Offenheit und seine Milde gewann er selbst unter den Wärtern Mithelfer. So wurde er am 5. Februar 1977 erst in ein engeres Gefängnis in der Nähe von Hanoi verlegt, und dann am 13. Mai 1978 von dort in ein verfallenes Pfarrhaus in einem Dorf namens Giang Xa, wo die Gemeindeglieder keine praktizierenden Katholiken mehr waren und eine antikatholische Gesinnung zeigten. Bischof Thuan durfte die Messe lesen, aber allein; er durfte mit niemandem sprechen. Doch eines Tages entdeckte er durch einen glücklichen Zufall ein paar angeheiratete Verwandte unter den Dorfbewohnern. Von da an sahen die Gemeindeglieder ein, dass man ihnen Lügen aufgetischt hatte, und änderten ihre Haltung ihm gegenüber.

Die Kommunisten hatten lange Jahre darauf verwendet, bis in die Pfarrgemeinden Nordvietnams hinein ein Netz von Spionen zu knüpfen; Giang Xa hatte auch seine Spione, ein Ehepaar, das von den Anderen „die Heiligen« genannt wurde. Durch seine Milde und seine Güte konnte Bischof Thuan die beiden zu einer Sinnesänderung bewegen: Sie baten mit offenkundiger Aufrichtigkeit darum, bei ihm beichten zu dürfen. Daraufhin hob Thuan mit Erlaubnis des Erzbischofs von Hanoi ihre Exkommunikation auf. Das Beispiel war ansteckend: Mehrere Denunzianten aus anderen Dörfern kamen zu ihm, um sich mit Gott und der Kirche zu versöhnen. Besorgt über die Ruhe, die in den Gemeinden des Landes plötzlich herrschte, musste die Regierung feststellen, dass das gesamte Netz lahmgelegt war. Am 5. November 1982 wurde Bischof Thuan von einem Polizeiwagen abgeholt und verschwand ... Man brachte ihn an einen Ort, wo ihn nie jemand suchen würde: In eine Wohnung für Beamte der Staatssicherheit! Der Bischof durfte sein Zimmer nicht verlassen, mit niemandem reden und nicht einmal aus dem Fenster schauen. Diesem Regiment musste er sich in den folgenden sechs Jahren fügen. Doch er hatte sich bereits Gott anvertraut: Die Einsamkeit bereitete ihm keine Angst mehr. Durch seine beharrliche Freundlichkeit gelang es ihm, mit seinen Wärtern zu kommunizieren und sich eine menschliche Behandlung zu sichern. Die Behörden waren angesichts dieser „Verführung von Unschuldigen« fassungslos und beschlossen einige Monate danach, Bischof Thuan in ein Gefängnis nach Hanoi zu überführen. Dort begann er wieder die Messe zu lesen: Seine Kraft war die Eucharistie.

Über einen Sicherheitsbeamten erfuhr er, dass Johannes-Paul II. ein Bittschreiben der vietnamesischen Bischöfe um die Heiligsprechung der Märtyrer ihres Landes erhalten hatte; diese Maßnahme machte seine Freilassung zum vorgesehen Zeitpunkt unmöglich. Etwas später hörte Thuan, dass die Regierung, vom Entschluss des Papstes beeindruckt, im Juni 1988 117 vietnamesische Märtyrer heiligzusprechen, die Durchführung einiger Veranstaltungen gestattete. Er sang das Te Deum in seiner Zelle; der Gedanke daran, dass er das Schicksal dieser Märtyrer teilte, verlieh ihm Mut und Kraft. Er bot sich Gott dar, bereit, die Gefangenschaft bis zu seinem Tode weiter auf sich nehmen, wenn Gott es so wollte.

„Du hast meine Fesseln gelöst« (Ps 115,7)

Am 21. November 1988, dem Fest von Mariä Tempelgang, klingelte ein Telefonapparat im Flur. Da sprach Bischof Thuan folgendes Gebet: „Mutter, wenn mein Aufenthalt in diesem Gefängnis der Kirche nützt, so schenk mir die Gnade, hier zu sterben. Wenn ich der Kirche jedoch noch auf andere Weise dienen kann, so mach, dass ich freigelassen werde.« Er hatte gerade sein bescheidenes Mahl beendet, als die Tür seiner Zelle plötzlich aufgestoßen wurde: „Mach dich fertig! Wir fahren zu einem hochgestellten Regierungsmitglied!« – „Ich bin bereit.« Unterwegs erfuhr er, dass er von Innenminister Mai Chi Tho empfangen werde. Dieser empfing Thuan in einem luxuriösen Salon und fragte: „In welcher Beziehung stehen Sie zu Ngo Dinh Diem?« – „Ich bin sein Neffe.« Nach kurzem Schweigen: „Sie wissen, dass man Diem während des Krieges mit den Vereinigten Staaten identifizierte. Jetzt haben wir keine Probleme mehr damit ... Wir sollten nicht länger zurückblicken; wir sollten danach suchen, was jeder von uns für das Land tun kann.« Er betrachtete Thuan und lächelte ihm zu: „Was wünschen Sie sich heute?« – „Ich will frei sein!« – „Gut. Wann wollen sie freigelassen werden?« Thuan nahm seinen ganzen Mut zusammen und rief: „Heute!« Tho lachte schallend auf: „Das stimmt!« Er gab ein paar Anweisungen, erhob sich und drückte Thuans Hand. Auf der Fahrt vom Gefängnis zum Sitz des Erzbischofs von Hanoi, wo er fortan wohnen sollte, dankte Thuan, ganz außer sich vor Dankbarkeit, seiner himmlischen Mutter: „Heilige Maria, du hast mir die Freiheit wiedergeschenkt! Sag mir, was ich jetzt tun soll.«

Nach einigen Wochen beantragte Bischof Thuan ein Visum, um Verwandte in Australien zu besuchen und mit dem Papst in Rom zusammenzutreffen. Merkwürdigerweise wurde ihm das Visum erteilt. Der Bischof war sehr gerührt, als er während der päpstlichen Audienz feststellte, dass Johannes-Paul II. seine Gefangenschaft über die Jahre hinweg aufmerksam verfolgt hatte. Als er durch die Stadt lief, fragte er sich: „Gott hat mein Leben verschont: Was will er nun von mir?« Nach seiner Heimkehr wurden ihm in Vietnam die gleichen Bedingungen von Halbfreiheit auferlegt wie zuvor. In Anbetracht des hohen Alters der Saigoner Erzbischofs, dessen Koadjutor er seinem Titel nach immer noch war, konnte Bischof Thuan jederzeit zu einem der wichtigsten Vertreter der Kirche in Vietnam avancieren. Doch das wollte die Regierung um keinen Preis; auf der anderen Seite wollte sie das Bild der „nationalen Erneuerung«, das der Welt vermittelt werden sollte, nicht trüben. Im Dezember 1989, einen Monat nach dem Fall der Berliner Mauer, teilte der Innenminister den versammelten Bischöfen mit, dass die Regierung die Wahl Bischof Thuans auf einen verantwortungsvollen Posten auf keinen Fall akzeptieren werde. Der „Fall« wurde der Regierung so lästig, dass sie 1991 schließlich den Vorschlag machte, der Bischof solle doch „einige Zeit in Rom verbringen«. Im Klartext bedeutete das einen Fahrschein ohne Rückfahrt. Bischof Thuan nahm das Angebot erst nach Rücksprache mit dem Heiligen Stuhl an. Er verließ Vietnam im Dezember; im März 1992 erfuhr er, dass ihm die Rückkehrerlaubnis verweigert werde.

Eine beruhigende Gewissheit

In den ersten zwei Jahren seines Exils widmete Bischof Thuan seine Zeit dem Dienst der vietnamesischen Diaspora und dem Schreiben von Büchern. Im April 1994 ernannte ihn Papst Johannes-Paul II. zum Vizepräsidenten des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, dessen Auftrag im wesentlichen darin besteht, die kirchliche Soziallehre in der ganzen Welt zu verbreiten und die Beachtung der Menschenrechte zu fördern. Am 2. Februar 1997 beendete der Bischof sein Buch „Fünf Brote und zwei Fische«, in dem er zum ersten Mal einige der ergreifendsten Erinnerungen an seine Gefängnisjahre veröffentlichte. Im März 2000 leitete Bischof Thuan die geistlichen Exerzitien der römischen Kurie. Am Ende dieser Exerzitien erklärte Johannes-Paul II.: „Er hat in uns die beruhigende Gewissheit gestärkt, dass selbst wenn alles um uns und vielleicht sogar in uns zusammenstürzt, Christus unsere beständigste Stütze bleiben wird.« Ein Jahr später, am 21. Februar 2001 empfing Thuan die Kardinalswürde.

Einige Wochen danach unterzog der Kardinal sich einem chirurgischen Eingriff. Er litt an einer seltenen Form von Krebs und lebte nunmehr „von einem Tag zum anderen«, ohne sich um das Erbe zu kümmern, das er hinterlassen würde. Kardinal Thuan starb am 16. September 2002. „Während seiner letzten Tage, als er schon nicht mehr sprechen konnte«, berichtete Papst Johannes-Paul II., „heftete er seinen Blick auf das Kruzifix, das er vor sich hatte. Er betete still, während er sein letztes Opfer vollbrachte ... Jetzt können wir sagen, dass seine Hoffnung voll von Unsterblichkeit war (Weish 3,4)! Das heißt, sie war erfüllt von Christus, der das Leben ist und die Auferstehung aller, die ihren Glauben auf ihn setzen.«

Heilige Hoffnung, sei der feste Anker unserer Seele (Hebr 6,19)!

Dom Antoine Marie osb

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