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21. April 2019 Ostersonntag |
Eine im 20. Jahrhundert in katholischen Pfarreien und Jugendheimen überaus erfolgreich auftretende Schauspielerin wurde nach einer Vorstellung von einem professionellen Regisseur gefragt: „Ist Ihr Lachen, das einen ganzen Saal erfreut, ein angelerntes oder ein natürliches Lachen?“ Sie ließ spontan ihr herrliches Lachen erklingen und erwiderte: „Ich habe nur ein Lachen, und zwar dieses!“ Als Gabrielle Bossis gegen Ende ihres Lebens kurz an die Erfolge dachte, die sie etwa beim Film hätte feiern können, wurde sie sogleich von der Stimme Jesu unterbrochen: „Ich behalte dich für mich!“ Ihr war nämlich seit Mitte der 1930-er Jahre die Gnade eines mystischen Lebens zuteil geworden: Jesus führte spirituelle Gespräche mit ihr und berief sie dazu, eine ganz besondere Nähe zu ihm zu pflegen.
Gabrielle kam als viertes und letztes Kind ihrer Familie am 26. Februar 1874 im vornehmen Stadthaus ihrer Eltern in Nantes (Westfrankreich) zur Welt. Ihr Bruder Auguste und ihre beiden Schwestern, Clémence und Marie, waren deutlich älter als sie. Ihr Vater verwaltete den Immobilienbesitz der Familie und betrieb nebenbei einen Geräte- und Werkzeughandel. Die Bossis pflegten ihre Sommerferien auf ihrem Landsitz in Ingrandes an der Loire zu verbringen. Madame Bossis verfolgte die Entwicklung ihrer Jüngsten mit großer Aufmerksamkeit und ließ ihr eine hervorragende christliche Erziehung angedeihen. Sie selbst war so fromm, dass ihr Mann einmal im Scherz über sie sagte: „Ich glaube, sie betet selbst bei Tisch ihren Rosenkranz.“ Gabrielle war ein extrem scheues Kind, hatte lange Angst vor ausgelassenen Spielen, weinte ständig und fürchtete sich vor Menschenansammlungen. Man drängte sie nicht, und sie fand Verständnis für ihre Empfindsamkeit bei Jenny, der Nurse im Dienste der Familie.
Die kleine „Gaby“, wie sie innerhalb der Familie genannt wurde, wuchs in einer christlichen Atmosphäre auf; ihr bei der Taufe empfangener Glaube äußerte sich spontan in kindlichen Gebeten, die sie mitunter auch schriftlich festhielt: „Sprich, Herr, deine Dienerin hört zu!“ Der Herr vergaß keine einzige ihrer Herzensregungen und rief sie ihr später selbst in Erinnerung: „Erinnerst du dich? Als du klein warst, sagtest du zu mir: ‚Herr, lass mein Herz den Worten aus deinem Mund folgen.’ Ich sagte dir: ‚Erzähl mir, was du heute getan hast.‘ Aber du hast nicht geglaubt, dass es meine Stimme war …“
Der liebste Freund
Jesus dürstet danach, mit jedem von uns in eine persönliche Beziehung zu treten, wie uns der hl. Alfons-Maria von Liguori lehrt: „Gewöhne dich denn also, geliebte Seele, ganz allein und verborgen, vertraulich und voll Zuversicht mit Gott zu reden, gleichwie mit deinem teuersten und geliebtesten Freunde … Frage jene Seelen, die wahrhaft Gott lieben, und sie werden dir bekennen, dass sie in den Leiden des Lebens keinen größeren Trost finden als den liebevollen Umgang mit Gott. Man verlangt nicht von dir, dass du unausgesetzt deinen Geist anstrengst und deshalb deinen gewöhnlichen Beschäftigungen und der erlaubten Erholung entsagest, man will nichts anderes, als dass, ohne deine gewöhnlichen Beschäftigungen zu verlassen, du dich gegen Gott ebenso verhältst wie gegen jene, die du liebst und die dich lieben“ (Die Art und Weise, vertraulich mit Gott umzugehen, Nr. 6-7).
Gabrielle besuchte eine von Ordensschwestern betriebene Schule in Nantes und empfing dort am 10. Juni 1886 mit 12 Jahren die Erstkommunion. Dass sie an jenem Tag so tief ergriffen war, lag weniger an ihrer Schüchternheit denn an der Gegenwart Jesu: „Am Tage deiner Erstkommunion wagtest du kaum, dich zu rühren“, sagte der Herr, „so sehr war dir bewusst, dass ich in dir war.“ Ein andermal bat er sie: „Verlass mich nie. Sollten wir nicht immer füreinander da sein?“ Sie wandte sanft ein: „Aber Herr, war das nicht immer so, seit dem Tag meiner Erstkommunion?“
Gabrielle wuchs zu einer jungen Frau heran, die sich allmählich nach außen hin öffnete. Nach dem Tod ihres Vaters 1898 verbrachte sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrer gesundheitlich angeschlagenen Schwester Clémence die Winter in Nizza. Sie war vielseitig begabt: Sie unternahm gern Ausflüge – zu Fuß, zu Pferde oder mit dem Fahrrad –, nahm Tanz- und Klavierunterricht, lernte Bildhauerei und Malen. Über sich selbst schwieg sie am liebsten und vergaß sich ganz, wenn sie Freude um sich verbreiten konnte. Gleichwohl fühlte sie sich in ihrem Inneren auf eine harte Probe gestellt: „Man hielt mich in meiner Jugend für unbeschwert, und doch war das die Zeit, in der ich die schwersten Seelennöte kannte.“ Sie versuchte verzweifelt, den Willen Gottes für sich zu ergründen; ein Priester schlug ihr vor, in ein Klarissenkloster zu gehen. Doch sie merkte, dass der Herr nicht diesen Weg für sie vorgesehen hatte, und entschied sich dafür, unverheiratet in der Welt zu bleiben. Sie war nichtsdestoweniger der franziskanischen Spiritualität verbunden und wurde unter dem Namen Schwester Maria vom Herzen Christi Tertiarin des hl. Franziskus. Sie bemühte sich, ärmlich zu leben: Ihre Ernährung war frugal, und sie vermied jede überflüssige Ausgabe. Manch einer hielt sie für geizig, weil sie ihre großzügigen Spenden für die Mission und für die Armen stets diskret übergab. Sie „vergaß“ auch mitunter aus Nächstenliebe, die Miete von ihren Mietern einzukassieren, wenn diese in Geldverlegenheit steckten. „Weißt du, wer mein Feind ist?“, wurde sie eines Tages von Jesus gefragt. „Das Geld! Man denkt nur noch daran. Man lebt nur noch dafür. Und es verhärtet das Herz, ohne es zu erfüllen. Ich allein, verstehst du, ich allein spende Freude.“
Den Geist der Freude verkörpern
Gabrielle war eine schlanke, anmutige junge Frau, die niemanden gleichgültig ließ: Von ihrer Natürlichkeit ging ein betörender Zauber aus, und sie musste über 70 Heiratsanträge ablehnen. Da sie Geselligkeit schätzte, war sie für die Reize der Welt durchaus empfänglich und musste sich oft gegen sie zur Wehr setzen. Einmal machte sich Jesus sogar zum Bittsteller ihr gegenüber, um ihr Herz ganz für sich zu behalten: „Wenn du dich nicht besinnst, beraubst du mich. Dein Leben soll eine ständige Andacht, ein ununterbrochenes Zwiegespräch mit deinem Herrn sein. Warum verlässt du mich? Ich verlasse dich nicht. Kehre nicht in die Welt zurück. Ich würde nicht mehr dein Denken beherrschen.“ Diese enge Bindung sollte sie freilich nicht daran hindern, ihn durch ihr freudiges Wesen anderen zu verkündigen: „Du musst Freude spenden … Fühlst du nicht, dass das deine Mission ist? … Du sollst den Geist der Freude verkörpern!“
1908 starb Gabrielles Mutter, vier Jahre später ihre Schwester Clémence; da ihre beiden anderen Geschwister seit mehreren Jahren verheiratet waren, fühlte sie sich immer einsamer. Sie war zwar durch das ererbte Immobilienvermögen finanziell gut versorgt, doch sie mochte nicht müßig bleiben. So betrieb sie eine Werkstatt, die liturgische Gegenstände für die Mission herstellte. Daneben machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester und engagierte sich während des Ersten Weltkriegs in der Pflege von Kranken und Verwundeten – zunächst in den Krankenhäusern der Umgebung, dann in Verdun. Ihre Umsicht, ihre Wendigkeit und ihre menschliche Wärme machten sie überall beliebt. Auch ihre Familie blieb von dem schrecklichen Blutbad des Krieges nicht verschont: 1918 musste Gabrielle den Tod ihres in Verdun gefallenen Lieblingsneffen beklagen. Sie hatte, nebenbei bemerkt, alle ihre Nichten und Neffen ins Herz geschlossen, sie alle waren in den Schulferien willkommene Gäste bei „Tante Gaby“ in Fresne-sur-Loire.
Elefanten in Gazellen verwandeln
1923 wurde Gabrielle vom Pfarrer von Fresne gebeten, ein Theaterstück für die Jugendlichen der Pfarrei zu schreiben. Sie kam der Bitte nach und spielte bei der Aufführung, die großen Erfolg hatte, selbst mit. Man lud sie daraufhin ein, das Stück auch in anderen Pfarreien aufzuführen; bald wurde sogar nach neuen Stücken verlangt. So verfasste sie zwischen 1923 und 1936 13 Komödien sowie 14 Sketche, die bis 1948 aufgeführt wurden. Mit ihrer schauspielerischen Begabung, ihrem Sinn für die Inszenierung, ihrem originellen Geschmack und ihrer tänzerischen Anmut eroberte sie das Publikum. Sie rührte es zu Tränen, brachte es zum Lachen und verkündete dabei das Evangelium in den damals allgemein verbreiteten kirchlichen Jugendzentren. Gabrielle nähte die Kostüme selbst und führte persönlich Regie, wobei sie die Laienschauspieler zuweilen unter großem Zeitdruck anlernen musste. „Macht euch keine Sorgen wegen der Balletteinlagen“, schrieb sie in einem Brief. „Ich bringe sie euch in einer Viertelstunde bei. Ich kenne Elefanten, die sich in Gazellen verwandeln.“ Als der Jesuitenpater de Parvillez 1929 in Paris zum ersten Mal eine ihrer Vorstellungen besuchte, war er so begeistert, dass er einen Briefwechsel mit ihr begann.
Neben ihrem persönlichen Einsatz bei der Vorbereitung der Tourneen kam sie auch für sämtliche Kosten auf. Auf ihren Reisen ertrug sie alle Beschwernisse mit Gleichmut – die auf Bahnhöfen oder in Zügen verbrachten, oft schlaflosen Nächte, den Verzicht auf regelmäßige Mahlzeiten usw. „Deine vergangenen Leiden verschwinden aus deinem Gedächtnis“, versicherte ihr Jesus einmal. „Aber vor mir bleiben sie fruchtbar. Du hast die Mühen der Reisen schon vergessen, den Ärger mit den Temperaturen, den Durst in der Wüste, die Ängste, das Heimweh, die langwierigen Heimreisen, die langen Mutproben, die Zeiten der Krankheit. Denk daran, dass du alles mir dargebracht hast und dass ich alles bewahrt habe.“ Viele Menschen, die dieser eleganten, originellen, stets weißgekleideten Dame mit ihren breitkrempigen Hüten und altmodischen Blusen begegneten, ließen sich von ihrer äußeren Erscheinung täuschen; sie beneideten sie und dachten, der berühmten Schauspielerin falle alles leicht. Andere wiederum kritisierten sie, doch Gabrielle hielt sich an den Rat Jesu: „Scher dich nicht darum, was man sagen wird, tu, was du tun musst.“ Ihr Geheimnis beruhte auf einem verborgenen, intensiven Gebetsleben. Selbst auf Reisen versäumte sie es möglichst nie, täglich der heiligen Messe beizuwohnen, auch wenn sie dafür in der Nacht aufstehen und mehrere Kilometer weit laufen musste. Neben dem Beten des Rosenkranzes, des Kreuzwegs und der üblichen Gebete, versuchte sie auch jeden Donnerstag eine Stunde in Gegenwart Jesu vor dem Tabernakel zu verbringen.
Das ist ganz einfach!
Um sich selbst zu vergessen und unausgesetzt an Jesus zu denken, ließ Gabrielle ihren Körper an den Schmerzen teilhaben, die Christus während seines irdischen Lebens erdulden musste. Sie gewöhnte sich an, in eine Decke gewickelt auf dem nackten Fußboden ihres ungeheizten Hauses zu schlafen. Als sie einmal einen Priester nachdrücklich zur Inbrunst ermahnte, ließ sie sich dazu hinreißen, ihre Zurückhaltung aufzugeben: „Aber Herr Abbé, man muss sich kasteien, um in den Himmel zu kommen! Man muss sich kasteien … das ist doch ganz einfach!“ Mit diesen Worten zeigte sie ihm ein Büßerhemd, das sie direkt auf der Haut trug. Solche Kasteiungen lagen nicht in ihrer Natur begründet, sondern gingen auf eine Anregung ihres geliebten Christus zurück, der sie mitunter sogar dazu ermuntern musste. Als sie einmal zögerte, auf dem Fußboden zu schlafen, sagte er: „Glaubst du, dass es mir keine Mühe bereitet hat, auf dem Kreuz zu sterben?“ Oder als sie einmal im Begriff war, ihr Büßerhemd abzulegen: „Ich habe meine Dornenkrone nicht abgelegt!“
1934 ließ sie folgenden Spruch auf ihren künftigen Grabstein meißeln: „Christus, mein Bruder. Neben Dir arbeiten. Mit Dir leiden. Für Dich sterben. In Dir weiterleben.“ Als sie zwei Jahre danach an Bord des Dampfers „Île de France“ auf dem Weg zu einer Kanada-Tournee war, begann Jesus seine inneren Gespräche mit ihr. Sie fing an, ein Reisetagebuch zu führen, und notierte einmal: „Du (Jesus) weißt sehr wohl, dass alles für Dich ist, ich brauche es Dir also gar nicht zu sagen.“ Jesus: „Du musst es mir sagen, weil ich es gern höre. Sag es oft. Selbst wenn du weißt, dass jemand dich liebt, freust du dich, wenn man es dir sagt.“ Auf der langen Reise über den Atlantik wurden diese Aufzeichnungen immer häufiger. Bald bekam sie vom Herrn ausdrücklich den Auftrag dazu: „Ich bitte dich nur um eines: schreib. Das ist nicht schwer. Ich bin mit dir. Sei mir treu. Ich bin dir treu.“ Auf ihren zahlreichen späteren Tourneen, die sie durch ganz Frankreich, aber auch nach Italien, Afrika, der Türkei und Palästina führten, schrieb sie kein Reisetagebuch mehr, und zwar wiederum aus Gehorsam: „Sprich nicht von deinen Reisen, sie sind allein für mich.“
„Wie habe ich dich geliebt!“
Jesus hatte Gabrielle bereits seit Langem auf die besondere mystische Gnade der inneren Gespräche vorbereitet. Im Januar 1941 sagte er zu ihr: „Erinnerst du dich? Als du klein warst und nach mir suchtest, verstecktest du dich im schwarzen Zimmer hinter der Küche deiner Großmutter … Wenn man dann fragte: ‚Wo ist denn Gabrielle?‘, dachtest du: ‚Ich bin mit dem lieben Gott.‘ Und erinnerst du dich an die Sommerabende in Fresne, als du ganz allein auf die Terrasse gingst und mich zwischen der Loire und den Sternen suchtest?… Du suchtest mich. Und ich ließ mich fangen, aber du wusstest es noch nicht. Ach, wie habe ich dich geliebt, meine kleine Tochter!“ Wenn dann der Dialog klar und intensiv wurde, war Gabrielle verwirrt, und sie fragte sich, ob er nicht ihrer Phantasie entspringe. Sie vertraute sich Pater de Parvillez an, dessen Urteil für sie sehr wichtig war, und er bestätigte, dass das Gespräch göttlichen Ursprungs sei.
„Der geistliche Fortschritt strebt nach immer innigerer Vereinigung mit Christus,“ lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche. „Diese Vereinigung wird ‚mystisch’ genannt, weil sie durch die Sakramente - ‚die heiligen Mysterien‘ - am Mysterium Christi teilhat und in Christus am Mysterium der heiligsten Dreifaltigkeit. Gott beruft uns alle zu dieser innigen Vereinigung mit ihm. Besondere Gnaden oder außerordentliche Zeichen dieses mystischen Lebens werden nur Einzelnen gewährt, um die uns allen geschenkte Gnade sichtbar zu machen“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2014). So dienten die von Gabrielle empfangenen Worte durch ihre Veröffentlichung dem geistlichen Wohl einer großen Anzahl von Menschen.
Im Juni 1940 wurde Frankreich durch den Einmarsch deutscher Truppen überrascht. Die Besetzung des Landes, die Geiselnahmen sowie die Enteignung von Immobilien führten zu einem überstürzten Massenexodus. Gabrielle verließ ihr Haus und floh in einem Viehtransporter nach Curzon in der Vendée, wo sie ihre Zwiegespräche mit Jesus weiter aufzeichnete. „Da ich für den Sieg betete, fragte mich Jesus: ‚Willst du die Rettung des Landes oder die Rettung der Seelen? Letzteres sollst du als das Allerwichtigste betrachten … Fürchte dich nicht. Wenn die Deutschen kommen, werde ich sie in dir empfangen.’“ Zum Jahresende wurde ihre von deutschen Offizieren besetzte Wohnung in Nantes wieder frei, so konnte sie den Winter dort verbringen. Danach fuhr sie nach Ancenis, um ihrer Schwester Marie beizustehen, die dort im Sterben lag. 1943 wurde die Stadt Nantes durch den Bombenhagel der Alliierten verwüstet; es gab zahlreiche Obdachlose. Gabrielle nahm eine der ausgebombten Familien in ihrer Wohnung auf.
Pater de Parvillez wollte Auszüge aus den Gesprächen Gabrielles mit Jesus publizieren und holte dazu die Zustimmung des Bischofs von Nantes, Msgr. Villepelet, ein. Gabrielle war sich zwar bewusst, dass Jesu Worte nicht ausschließlich an sie gerichtet waren, aber ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie erst nach ihrem Tode publiziert worden wären. Ihr göttlicher Gesprächspartner überredete sie gleichwohl zur Mitarbeit an der Edition. Trotz der kriegsbedingt schwierigen Umstände fand Pater de Parvillez einen begeisterten Verleger, dem er Gabrielles Hefte übergab. Ein paar Stunden danach wurde dieser auf offener Straße ermordet. Das Manuskript wurde zwar aufgefunden, doch es dauerte vier Jahre, bis sich eine neue Publikationsmöglichkeit bot. Das Vorwort zum ersten Band, der unter dem Titel „Er und ich“ erschien, stammte von Bischof Villepelet und Pater Jules Lebreton, dem Dekan der Pariser theologischen Fakultät; ein Exemplar des Werkes wurde vom Bischof 1950 persönlich an Papst Pius XII. überreicht. Auf Gabrielles ausdrücklichen Wunsch erschien der Band anonym. Jesus ermutigte sie, für den Erfolg des Buches zu beten: „Meine Tochter, weißt du, welchen Weg dieses Büchlein nehmen wird? Bitte mich, auf die Elendsten zuzugehen, auf die geistlich Gelähmten, die hoffnungslos Betrübten, die Stummen vor Gott, die von Geldgier Besessenen. Bete darum, dass ich durch dieses Büchlein wirke, wie ich früher gewirkt habe: heilend und einnehmend.“ Der Erfolg des Buches war beträchtlich; die erste Auflage war nach sechs Monaten vergriffen; das Werk erlebte über 60 Neuauflagen und wurde in mehrere Sprachen (auch ins Deutsche, unter dem Titel „Er und ich“) übersetzt. Doch das änderte nichts an Gabrielles Alltag; sie blieb auch an ihrem Lebensabend heiteren und sonnigen Gemüts.
Noch ein bisschen
Gleichwohl wurde Gabrielles überbordende Aktivität einige Wochen nach Veröffentlichung des Buches gebremst: Im August 1949 musste sie sich einer Brustkrebsoperation unterziehen. Sie war bereit, für ihren Herrn zu sterben, doch er bat sie, noch ein bisschen für ihn zu arbeiten. Gabrielle machte sich also mit frischem Schwung erneut ans Werk und bereitete den zweiten Band von „Er und ich“ vor. Mitte März 1950 fühlte sie sich erschöpft und krank; sie glaubte, sie hätte eine Bronchitis, und nahm die Erkrankung auf die leichte Schulter. Die Ärzte stellten jedoch fest, dass der Tumor auf die Lunge übergegriffen hatte: Gabrielle war fortan ans Bett gefesselt, was ihr überaus schwerfiel: „Doktor, wann holen Sie mich aus diesem Bett heraus?“ Die Antwort lautete: „Ich werde Sie nie herausholen!“ Da fand sie sich stillschweigend mit allem ab. „Ich breche zur großen Reise auf. Ich habe die Krankensalbung empfangen. Magnificat! Es ist Zeit, wieder in das Haus des Vaters einzugehen!“ Doch die Krankheit schritt für ihren Geschmack und ihren Eifer zu langsam voran, sie musste sich in Geduld fassen. Sie behielt bis zum Schluss ihre lebhafte Gestik, ihre erstaunliche Geistesgegenwart sowie den Mut bei, all diejenigen zu trösten, die an ihrem Bett weinten. Sie bat ihre Nichten und Neffen, sie in ihrem Habit als Franziskaner-Tertiarin zu beerdigen. Beim großen Abschied am 9. Juni 1950, in der Nacht zu Fronleichnam, war sie allerdings allein. Jesus kam und erfüllte, was er ihr 7 Jahre zuvor am Jahrestag ihrer Erstkommunion versprochen hatte: „Im Augenblick deines Todes werde ich dein Schwanengesang sein, dir wird die Kraft dazu fehlen: Du wirst keine Bindung mehr an die Erde haben und auch keine Sicht ins Jenseits. Die Verlassenheit von Golgotha wird über dich kommen: Du wirst dich mehr denn je mit meinem alleingelassenen Herzen vereinen, und wir werden die Überfahrt gemeinsam antreten.“
Der irdische Lebensweg Gabrielle Bossis‘ bleibt ein beredtes Zeugnis für die außerordentliche Fruchtbarkeit jeder Seele, die die Nähe zu Jesus sucht, ohne je den Mut zu verlieren. Wie Gabrielle, kann Ihn jeder im Grunde seines Herzens sprechen hören: „Bring mir deine Seufzer dar, sie werden mir süß sein wie die Zephire der Ebene. Ich werde sie mit freudigem Herzen empfangen, als gäbe es auf der Welt nur eine Seele: die deine; bei jeder Seele werde ich das gleiche Fest feiern; jede Seele darf sich für die Auserwählte meiner Liebe halten. Darin liegt das Wunder des Herzens deines Gottes, das jeder Seele innewohnt: für alle wie für jeden einzelnen. Ich bin die Antwort.“