Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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23. März 2005
Karwoche


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Beim polnischen Aufstand gegen die russische Besatzung 1863 war ein polnischer Kavallerist namens Adam Chmielowski durch seinen unglaublichen Wagemut aufgefallen. Als er am 1. Oktober 1864 im Galopp durch einen Wald ritt, sah er sich auf einmal heftigem Gewehrfeuer gegenüber. Plötzlich spürte er so etwas wie einen Schlag gegen sein Bein und fiel zu Boden. Man brachte ihn in eine Waldhütte, wo er bald darauf von finnischen Jägern entdeckt wurde. Diese waren Verbündete des Zaren, und ihr Hauptmann erkannte den jungen Kavalleristen wieder, auf den seine Männer oft vergeblich gezielt hatten, so dass er von Freund und Feind für unverwundbar gehalten worden war. "Sie hatten sicherlich einen Glücksbringer", sagte der Hauptmann zu ihm. "Ich hatte das Skapulier Unserer Lieben Frau vom Karmel über der Brust", erwiderte Adam stolz und blickte ihm gerade in die Augen, denn er wusste wohl, dass er es mit Protestanten zu tun hatte. Das zertrümmerte Bein war bereits brandig und musste amputiert werden. "Wann?", fragte er. - "Sofort." - "Sehr gut. Fangt an! Gebt mir eine Zigarre, damit ich mir die Zeit vertreiben kann." Die schreckliche Operation wurde ohne Betäubung durchgeführt. Man brachte Adam anschließend in ein Militärkrankenhaus, bis über sein zukünftiges Schicksal entschieden werden sollte. Mit Hilfe von Freunden konnte er in einem Sarg versteckt aus dem Krankenhaus fliehen.

Adam war am 20. August 1845 in Igolomia in Polen geboren. Nach dem Aufstand von 1863 besuchte er die Kunstschule in Warschau. 1868 lebte er in Krakau, wo er oft im Hause der Familie Siemienski verkehrte. Herr Siemienski hielt zwar dem Glauben seiner Vorfahren die Treue, doch er war den aus dem Westen kommenden szientistischen Strömungen gegenüber sehr aufgeschlossen. In dieser Zeit kam die Mode des Tischrückens auf, um "Geister zu beschwören". Als Frau Siemienska merkte, dass die Gäste ihres Mannes sich solchen spiritistischen Praktiken widmeten, wandte sie sich an ihren Beichtvater um Rat, da sie ihren Mann nicht dazu bringen konnte, diesem gefährlichen Amüsement ein Ende zu setzen. Der Pater riet ihr, ihren Rosenkranz zu nehmen und ruhig zu beten, ohne sich in die Séancen einzumischen.

Entzweigebrochen

"Eines Tages saßen wir um einen großen Eichentisch, der so schwer war, dass zwei Männer ihn kaum von der Stelle bewegen konnten", berichtete Adam. "Unter unseren Fingern begann der Tisch zu wackeln und sich zu drehen; er beantwortete unsere Fragen durch harte und heftige Klopfgeräusche. Noch nie hatte er derart entfesselt reagiert. Frau Siemienska saß in einer Fensternische und betete leise den Rosenkranz. Wir hingegen wirbelten mit dem teuflisch hüpfenden Tisch quer durch den ganzen Raum. Frau Siemienska hielt es nicht länger aus: Sie stand unvermittelt auf, trat zu uns und schleuderte ihren Rosenkranz auf den ruckelnden Tisch. Da hörten wir etwas wie einen Pistolenschuss knallen, und der Tisch stand auf einmal still. Als die Lichter wieder angezündet waren, sahen wir, dass er entzweigebrochen war; die dicke, massive Tischplatte war in ihrer ganzen Länge gespalten, trotz der Klammern, die sie von unten festgehalten hatten. Von diesem Tage an haben wir uns nie mehr mit Tischrücken vergnügt."

Der Katechismus der Katholischen Kirche mahnt: "Sämtliche Formen der Wahrsagerei sind zu verwerfen: Indienstnahme von Satan und Dämonen, Totenbeschwörung oder andere Handlungen, von denen man zu Unrecht annimmt, sie könnten die Zukunft 'entschleiern'. Hinter Horoskopen, Astrologie, Handlesen, Deuten von Vorzeichen und Orakeln, Hellseherei und dem Befragen eines Mediums verbirgt sich der Wille zur Macht über die Zeit, die Geschichte und letztlich über die Menschen, sowie der Wunsch, sich die geheimen Mächte geneigt zu machen. Dies widerspricht der mit liebender Ehrfurcht erfüllten Hochachtung, die wir allein Gott schulden. Sämtliche Praktiken der Magie und Zauberei, mit denen man sich geheime Mächte untertan machen will, um sie in seinen Dienst zu stellen und eine übernatürliche Macht über andere zu gewinnen - sei es auch, um ihnen Gesundheit zu verschaffen -, verstoßen schwer gegen die Tugend der Gottesverehrung ... Spiritismus ist oft mit Wahrsagerei oder Magie verbunden. Darum warnt die Kirche die Gläubigen davor" (Katechismus 2116-2117).

Frau Siemienska nahm lebhaften Anteil an Adams Schicksal und besorgte ihm ein Stipendium für das Studienjahr 1869/70, so dass er an der Kunstakademie in München studieren konnte. Er lernte dort viele Landsleute kennen und wurde bald deren Anführer. Da er in der Technik des Malens weniger versiert war als die meisten seiner Gefährten, übte er "hartnäckig und verbissen", doch stets auf eine sehr persönliche Art und mit echtem Talent.

Adam verbarg seine Behinderung durch das Holzbein so gut es ging. Doch die Prothese machte ihm häufig Beschwerden. Mitunter litt er unter plötzlichen Anwandlungen von Schwermut, bis die Zuneigung seiner Freunde ihn schließlich wieder umgänglich und mitteilsam stimmte. Die Schwermut wurzelte letztlich in seinem Temperament, das nach immer mehr, nach immer Besserem strebte und ihn selbst überforderte. Es kam vor, dass er die von ihm gemalten Bilder, die er für wertlos hielt, wütend zerriss. Für gewöhnlich war er allerdings gut gelaunt, sehr hilfsbereit und zu Scherzen aufgelegt.

Auf das Evangelium bauen

Von 1871 bis zum Frühjahr 1873 hielt sich Adam mit zwei Freunden in Paris auf. Er war nach wie vor tief gläubig und praktizierender Katholik. In seiner Kunstbegeisterung war er gegen störende Versuchungen gefeit. "Die Arbeit belegt den Maler derart mit Beschlag, er will das erahnte Ideal so sehr auf seine Leinwand bannen, dass alles andere nicht zählt", schrieb er. Die sozialen Revolutionen in Frankreich kommentierte er folgendermaßen: "Wenn sie Fortschritt wollen, warum bauen sie dann ihren Staat nicht nach dem Evangelium?"

Nach einem weiteren Aufenthalt in München kehrte er wieder nach Polen zurück und veröffentlichte einen Aufsatz über die Kunst. Die Kunst sei dazu berufen, "Freund des Menschen zu sein, sein Führer" auf dem Wege zu Gott. Ohne den Wert der Technik, der Begabung und der Handfertigkeit zu verkennen, vertrat er die Ansicht, dass ein Werk sich in umso größerer Schönheit entfalte, je reiner und schöner die Seele des Künstlers sei. 1879 reifte der Entschluss in Adam, Ordensbruder zu werden. Am 24. September 1880 trat er in das Noviziat der Jesuiten in Stara Wies ein. Seine Freude war riesengroß. Doch bald stand ihm eine schreckliche Prüfung bevor. Die Novizen hatten eine 30-tägige Einkehr zu absolvieren. Adam stürzte sich mit seinem ganzen Eifer darein; doch bald sah er sich von großer Angst überwältigt. Nach einem harmlosen Verstoß gegen seine Vorsätze begann er an sich selbst zu zweifeln und wurde darüber krank. Die Krise saß tief; sein Bruder Stanislaus nahm ihn vorerst zur Erholung zu sich. Als Adam eines Tages einen Priester ausführlich über die Barmherzigkeit Gottes predigen hörte, wurde es in seinem Geist auf einmal hell. Er fand seinen Seelenfrieden wieder, kehrte allerdings nicht in das Noviziat der Jesuiten zurück, denn er wußte jetzt, dass er nicht zu Jesuiter berufen war.

Er begann wieder zu malen. Der geistliche Fortschritt, den er durch sein Leid gemacht hatte, schlug sich in seiner Kunst nieder. Eines Tages entdeckte er die Regel des Dritten Ordens des hl. Franziskus von Assisi und fühlte sich dadurch erleuchtet. Sofort beantragte er seine Aufnahme in den Dritten Orden und nahm den Namen "Bruder Albert" an. Er kehrte nach Krakau zurück und arbeitete als Maler weiter. Von der Armut besonders gerührt, versuchte er im Gesicht der Bettler, denen er begegnete, das heilige Antlitz des Herrn zu sehen. Denn "hier auf Erden ist Christus arm in der Person seiner Armen" (Hl. Augustinus). Als ihm einmal ein vor Kälte leichenblasser und völlig zerlumpter Junge über den Weg lief, sprach Bruder Albert zu ihm: "Komm mit zu mir." In seinem Atelier, wo ein lustiges Feuer brannte, machte er etwas zu essen. Dann sagte er: "Und jetzt schläfst du erstmal." - "Wo denn?" - "Im Bett!" - "Uns Sie?" - "Ich komme schon zurecht." Der kleine Landstreicher hatte nicht mehr die Kraft zu protestieren; er warf sich aufs Bett und schlief zehn Minuten später tief und fest.

Lieber unter der Brücke schlafen!

Bruder Albert hatte seine Berufung entdeckt. Bald führte er ein dreifaches Leben: nachts in der Gesellschaft von Landstreichern, die er in sein Atelier aufnahm; tagsüber an seiner Staffelei, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Daneben pflegte er als Fürsprecher der Armen die besten Familien des polnischen Hochadels zu besuchen; doch ihm schien, seine Bemühungen seien nichts als ein Tropfen Wasser in einem Ozean von Not. Zudem bekam er durch die Anwesenheit der fremden Mitbewohner in seinem Atelier Ärger. Solange er selbst da war, lief alles glatt; doch sobald er wegging, gab es Krach, und die Nachbarn beklagten sich. Er musste umziehen. Aber wohin? Er fragte einen seiner Gäste: "Wo hast du die Nächte verbracht, bevor du hierhergekommen bist?" - "Im Nachtasyl in Kasimierz." - "Du wirst dorthin zurückkehren müssen, weil man uns hier vertreibt." - "Dorthin zurück? Lieber schlafe ich unter der Brücke! Lieber erfriere ich." Bruder Albert dachte nach und fragte dann: "Kannst du mich zu diesem Asyl führen?" - "Wo denken Sie hin! Man würde Sie umbringen und mich dazu."

Nichtsdestoweniger suchte Bruder Albert mit einigen Freunden das Obdachlosenasyl "Ogrzewalnia" auf. Schon am Eingang schnürte ihnen ein schrecklicher Gestank die Kehle zu. Der Saal war groß, aber unsäglich verdreckt. An den Wänden standen aus rohem Holz gezimmerte Bänke, auf denen sich schaurige, furchteinflößende Gestalten drängten, sich mit Schnaps betranken und Karten spielten. Unter den Bänken lagen Alte und Kranke, die vergeblich um einen Schluck Wasser bettelten. Quer durch den Saal verlief ein heißes Rohr; unter diesem stapelten sich die Körper der tief schlafenden Kinder und Jugendlichen. Um Mitternacht strömten weitere Stammgäste herein, und es kam zu Prügeleien, um ein Eckchen zu ergattern. Als sie diesen abscheulichen Ort verließen, schien es Bruder Albert und seinen Begleitern, als erwachten sie aus einem Alptraum. Plötzlich brach der Bruder das große Schweigen: "Wir müssen zu ihnen ziehen. So kann das nicht bleiben!"

Noch tiefer

Sein Beichtvater, ein Lazaristenpater, erlegte ihm einige Monate Wartezeit auf, um zu sehen, ob diese hochherzige Regung vom Heiligen Geist kam oder nicht. Als man Bruder Albert später nach den Gründen für seine ungewöhnliche Berufung fragte, antwortete er: "Um diese Elenden zu retten, darf man ihnen weder Vorhaltungen machen noch Moralpredigten halten, solang man selber satt und gut gekleidet ist: Man muss sich selbst erniedrigen, noch tiefer hinabsteigen und noch elender werden." Das ist auch die vom Sohn Gottes angewandte Methode. Für Bruder Albert kam die wahre Liebe von Gott, sie wurde in Christus Fleisch, teilte sich in der Eucharistie mit, trug Früchte der Barmherzigkeit und war Quelle alles Guten im öffentlichen wie im privaten Bereich. Die tiefe Ursache allen Übels in der Welt bestand demnach im Mangel an Liebe und Barmherzigkeit.

In seinem apostolischen Brief zum Jahr der Eucharistie schreibt Papst Johannes-Paul II.: "In der Eucharistie hat unser Gott seine Liebe bis aufs äußerste gezeigt, indem er alle Kriterien der Herrschaft, die zu oft die menschlichen Beziehungen bestimmen, umkehrt und in radikaler Weise das Kriterium des Dienstes formuliert: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein (Mk 9,35) ... Warum sollte in diesem Jahr der Eucharistie nicht ein Zeitraum geschaffen werden, in dem die Diözesen und Pfarrgemeinden sich in besonderer Weise dafür einsetzen, dass jeder der vielen Armutserscheinungen in unserer Welt mit brüderlicher Anstrengung begegnet wird?... Wir können uns nicht täuschen: an der gegenseitigen Liebe und insbesondere an der Sorge für die Bedürftigen erkennt man uns als wahre Jünger Christi. Dies ist das Kriterium, auf Grund dessen die Echtheit unserer Eucharistiefeiern überprüft wird" (Mane nobiscum Domine, 7. Oktober 2004).

Bevor sich Bruder Albert in ein derart außergewöhnliches Abenteuer stürzte, suchte er erst den Erzbischof von Krakau auf, der ihm sein volles Vertrauen aussprach und ihm erlaubte, die drei Ordensgelübde abzulegen. Bei einem Aufenthalt in einem Karmeliterkloster lernte Bruder Albert die Werke des hl. Johannes vom Kreuz näher kennen, der fortan sein Lieblingsautor wurde. Der Abt des Klosters, Pater Raphael Kalinowski, schlug ihm vor, Karmelitermönch zu werden. Bruder Albert antwortete: "Was würden meine Obdachlosen ohne mich machen?" Der Pater entgegnete: "Geh dorthin, Bruder, wohin Gott dich ruft."

Dann kam der große Tag: Bruder Albert zog in das Asyl "Ogrzewalnia". Er wurde mit feindseligen, spöttischen oder ärgerlichen Blicken empfangen. Die Behinderung durch sein Holzbein verschaffte ihm in seiner groben Kutte einen gewissen Respekt. Er öffnete sein kleines Bündel und fragte: "Wer will mit mir essen?" Die Leute blickten hin: Es gab Knoblauchwurst und Weißbrot. "Hast du Schnaps?", fragte eine struppige Gestalt. Er hatte welchen dabei. "Wie heißt du?" - "Bruder Albert." - "Na gut. Wenn du keine Schlafstelle hast, bleib!" Fürs Erste war er aufgenommen. Gegen Mitternacht kamen jedoch die härtesten Kerle. Als sie ihn sahen, riefen sie: "Geh weg, oder wir schmeißen dich hinaus!" Andere legten ein gutes Wort für ihn ein: "Wenn er nichts hat, wo er schlafen kann, darf er hier bleiben, wie du und ich." Man stritt eine Weile, doch schließlich kehrte Ruhe ein.

Eine stets blumengeschmückte Ikone

Im November 1888 schloss Bruder Albert einen offiziellen Vertrag mit der Stadt Krakau über die Nutzung der Räume der "Ogrzewalnia", das Recht, Straßensammlungen zu veranstalten, und über die soziale Wiedereingliederung der Stärksten. Als großer Verehrer der Gottesmutter, hängte er ein Bild Unserer Lieben Frau von Tschenstochau an die Wand des Asyls. Selbst die Ungläubigsten trauten sich nicht, die Königin des Landes anzutasten. Tag und Nacht brannte ein Öllämpchen vor der verehrten Ikone, und sie wurde von unbekannter Hand immer wieder mit Blumen geschmückt. In der warmen Jahreszeit 1889 renovierte Bruder Albert mit einer Gruppe von Freiwilligen die "Ogrzewalnia". Sie scheuerten und schrubbten, Wanzen wurden gejagt, Löcher gestopft, Wände getüncht und Pritschen aufgestellt. Als die kalte Jahreszeit hereinbrach, sah alles ganz anders aus. Die armen Landstreicher waren ganz verunsichert, doch die brennende Liebe Bruder Alberts flößte ihnen Vertrauen ein.

Um seine Armen zu ernähren, durchstreifte Bruder Albert die Straßen von Krakau und bat um Almosen. Zunächst hagelte es nur kritische Bemerkungen, wenn er vorbeikam, doch nach und nach schlug sich die öffentliche Meinung auf seine Seite. Die Gemüsehändlerinnen der Markthalle bereiteten ihm täglich einen herzlichen Empfang und füllten seinen Karren eifrig mit Naturalien. Die Vorsehung sandte Bruder Albert junge Leute aufrechten Herzens, die sich von der in ihm flammenden Liebe anstecken ließen. Sie teilten das Leben der Bedürftigen und dienten ihnen voller Liebe durch Putzen, Waschen und Kochen. Bei den Mahlzeiten saßen alle zusammen auf dem Fußboden und unterhielten sich freundlich. Allerdings waren die Armen des Asyls nicht durchweg umgänglich. Es gab auch notorische Verbrecher unter ihnen, Leute, die in ständigem Konflikt mit der Justiz lagen und Alkoholmissbrauch trieben. Manchmal standen die Brüder knapp am Rande des Todes. Wenn die Stimmung schwer und bedrohlich wurde, griff einer der musikalischen Brüder zur Geige und spielte sich mit dem Bogen allen Kummer vom Herzen. Oft hörten dann die Streitereien auf, und die Leute blickten freundlicher drein.

Bruder Albert versammelte jeden Tag seine Kinder um sich und hielt ihnen eine geistliche Ansprache. Er unterwies sie im inneren Gebet sowie in der Armenpflege aus Liebe zu Christus. In seinem apostolischen Schreiben über das geweihte Leben schreibt Papst Johannes-Paul II.: "Zur Option für die Armen sind alle Jünger Christi verpflichtet; diejenigen jedoch, die dem Herrn durch Nachahmung seiner Verhaltensweisen mehr aus der Nähe folgen wollen, müssen sich in ganz besonderer Weise hingezogen fühlen. Die Ehrlichkeit ihrer Antwort auf die Liebe Christi regt sie an, als Arme zu leben und sich der Sache der Armen anzunehmen ... In Wirklichkeit ist die evangelische Armut, noch ehe sie ein Dienst an den Armen ist, ein Wert an sich, ruft doch die erste Seligpreisung zur Nachahmung des armen Christus auf. Ihr erster Sinn besteht in der Tat darin, Gott als eigentlichen Reichtum des menschlichen Herzens zu bezeugen. Eben darum kämpft sie vehement gegen die Vergötterung des Mammons (d.h. des Geldes)" (Vita consecrata 82; 90). Im Gegensatz zum Materialismus, der gegenüber den Bedürfnissen und Leiden der Schwächsten gleichgültig ist und sich nicht um das Gleichgewicht der natürlichen Hilfsquellen kümmert, ist die evangelische Armut ein Appell, den Sinn für die Mäßigung und den Wert der Dinge wiederzufinden. Er findet "bei denjenigen Beachtung, die im Wissen um die Beschränktheit der Hilfsquellen des Planeten die Achtung und Bewahrung der Schöpfung durch Einschränkung des Konsums, durch Mäßigung und Auferlegung einer gehörigen Zügelung der eigenen Wünsche beschwören" (Ibid.).

Ein ansteckendes Vorbild

Um die Würde der durch das Elend erniedrigten Armen wieder aufzurichten, bediente sich Bruder Albert der Arbeit, die er als Mittel zur moralischen Besserung und zum menschlichen Fortschritt betrachtete. "Es gibt Dinge, die die Gesellschaft ihren Mitgliedern nicht versagen darf", erklärte er. "Nämlich das Recht auf Arbeit, die ihnen eine Bleibe und das tägliche Brot sichert. Erfüllt sie diese rechtmäßige Pflicht nicht, so muss sie durch Wohlfahrtspflege dafür sorgen." Bruder Albert richtete Werkstätten ein, in denen seine in grobe Kutten gekleideten und über die Werkbänke gebeugten Schüler ein Beispiel an fleißiger Arbeit boten. Ihr Vorbild war ansteckend: Die Armen schöpften neuen Mut und fanden nach und nach im Arbeitsleben das Gefühl für ihre Würde wieder. Bruder Albert verfasste kleine Theaterstücke, die er mit den eigenen bescheidenen Mitteln vor seinen Armen aufführen ließ. Der Erfolg war beträchtlich; die Herzen der Leute öffneten sich, es kam zu wahren Bekehrungswundern. Wenn Bruder Albert und seine Jünger inmitten des Asyls niederknieten und ihre Gebete sprachen, fühlten sich die Mitbewohner gleichermaßen angesprochen und machten mit.

In seinem mit der Stadtverwaltung von Krakau geschlossenen Vertrag hatte Bruder Albert die Verpflichtung übernommen, sich auch des Frauenasyls anzunehmen, das noch viel schrecklicher war als das Männerasyl, da es nicht nur das Elend, sondern auch die organisierte Unzucht beherbergte. Der Herr sandte ihm für diese Aufgabe Frauen zu Hilfe, die einen weiblichen Zweig seiner Kongregation bildeten. Doch die Arbeit, die Bruder Albert von seinen Söhnen und Töchtern verlangte, war aufreibend. Um sie zur Ruhe kommen zu lassen, richtete er an abgeschiedenen Orten Einsiedeleien ein, wo sie ihre physische und geistliche Kraft erneuern konnten, indem sie an der frischen Luft und angesichts der Wunder der Natur von ihrer Hände Arbeit lebten.

Zahlreiche Städte baten Bruder Albert um Gründungen. Er reiste viel, stets wie ein Bettler unter großen Beschwerlichkeiten. Er ging darin auf, zu geben, immer wieder zu geben. Er schrieb: "Damit sich ein Parfum verbreitet, muss man das Glas zerbrechen. Es genügt nicht, Gott zu lieben, es müssen sich auch andere Herzen im Kontakt mit uns anstecken. Das zählt. Niemand kommt allein in den Himmel." 1914 wurde er mitten in einem arbeitsreichen Leben vom Ersten Weltkrieg überrascht. Seine Tage waren ohnehin gezählt: Schon seit langem litt er an Magenkrebs. Er lebte noch zwei Jahre unter großen Schmerzen. Ende 1916, als sein Magen schon seit längerem keine feste Nahrung mehr vertrug, begann seine lange Agonie. Bis zum Schluss nahm er den Willen Gottes in Glauben und Dankbarkeit an. Schließlich gab er am Weihnachtstag seine Seele in die Hand Gottes zurück. Er wurde am 12. November 1989 von Papst Johannes-Paul II. heiliggesprochen.

In einer Welt, die oft von besitzgierigem Materialismus beherrscht ist, ruft die evangelische Armut zur Mäßigung und zum uneigennützigen Handeln auf. Möge das Vorbild des heiligen Bruder Albert und die Betrachtung des Jesus-Kindes in der Armut seiner Krippe uns zu einem bescheidenen Lebensstil zu Gunsten der Ärmsten ermuntern! Wir werden darin unser Glück und Heil finden: Selig ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes! (Lk 6,20).

Die Mönche von Saint-Joseph wünschen Ihnen von Herzen frohe und gesegnete Ostern.

Dom Antoine Marie osb

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