Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


[Cette lettre en français]
[This letter in English]
[Esta carta en español]
[Questa lettera in italiano]
22. Februar 2000
Kathedra Petri


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

« Ja, die Kultur der Liebe ist möglich, das ist keine Utopie! Doch sie ist nur möglich, wenn man sich immerfort eifrig an Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, von dem alle Vaterschaft in der Welt ausgeht (Eph 3, 14-15), von dem jede menschliche Familie abstammt, wendet» (Johannes-Paul II., Brief an die Familien, 2. Februar 1994, Nr. 15). Denn die Kultur der Liebe entsteht und entwickelt sich in der Familie.

«Seit einiger Zeit gibt es wiederholt Angriffe gegen die Institution der Familie. Es handelt sich dabei um umso gefährlichere und heimtückischere Angriffe, als sie den unersetzlichen Wert der auf der Ehe gegründeten Familie missachten. Doch es ist überaus wichtig für die Kinder, in einem von solchen Eltern geschaffenen Heim geboren und erzogen zu werden, die durch ein Band der Treue vereint sind» (Johannes-Paul II., 4. Juni 1999). Dieses Band ist die Ehe, durch die «ein Mann und eine Frau unter sich eine Gemeinschaft für das ganze Leben begründen, die durch ihren natürlichen Charakter auf das Wohl der Ehegatten sowie auf die Zeugung und Erziehung von Kindern ausgerichtet ist» (Codex Iuris canonici, c. 1055, § 1). Die Achtung vor einer solchen Vereinigung ist «von größter Bedeutung für den persönlichen Fortschritt der einzelnen Familienmitglieder und ihr ewiges Heil; für die Würde, die Festigkeit, den Frieden und das Wohlergehen der ganzen menschlichen Gesellschaft» (II. Vatikanum, Gaudium et spes, 48). Aus diesem Grunde verteidigt die Kirche tatkräftig die Identität von Ehe und Familie. Zu diesem Zweck verweist sie auf das Beispiel der «liebenden Eheleute Louis und Zélie Martin, der Eltern der heiligen Therese von Lisieux», deren Tugenden Papst Johannes-Paul II. am 26. März 1994 die Eigenschaft der Heldenhaftigkeit zuerkannt hat.

«Das ist so, weil ich glaube!»

Louis Martin wurde am 22. August 1823 geboren. Sein Vater war zu jener Zeit als Berufssoldat in Spanien. Als der Hauptmann Martin im Dezember 1830 in den Ruhestand versetzt wurde, ließ er sich in Alençon in der Normandie nieder. Er war ein Offizier von beispielhafter Frömmigkeit. Als der Geistliche seines Regimentes ihm einst das Staunen der Truppe darüber schilderte, dass er während der Messe nach der Konsekration so lange auf Knien verharrte, antwortete er, ohne eine Miene zu verziehen: «Sagt ihnen, das ist so, weil ich glaube!» Louis erhielt zunächst in der Familie, dann bei den Christlichen Schulbrüdern eine sehr nachhaltige religiöse Erziehung. Er wurde Uhrmacher, was seinem meditativen und schweigsamen Charakter und seinem großen handwerklichen Geschick entgegenkam.

An der Schwelle zum Herbst 1845 fasste Louis den Entschluss, sich ganz und gar Gott zu weihen. Nach einem fruchtlosen Versuch, in ein Kloster einzutreten, verzichtete Louis mit Bedauern auf seinen Plan. Zur Beendigung seiner Lehre ging er nach Paris. Hinterher ließ er sich erneut in Alençon (Normandie) nieder, wohnte dort zusammen mit seinen Eltern und führte ein so geregeltes Leben, dass seine Freunde von ihm sagten: «Louis ist ein Heiliger.»

Durch seine verschiedenen Beschäftigungen ausgelastet, strebte Louis gar nicht danach, zu heiraten. Seine Mutter war darüber ganz betrübt, doch einmal fiel ihr in der Spitzenstickschule, wo sie Kurse besuchte, ein geschicktes junges Mädchen mit guten Manieren auf. War das nicht die «Perle», die sie für ihren Sohn herbeisehnte? Das junge Mädchen war Zélie Guérin, geboren am 23. Dezember 1831. Ihr Vater und ihre Mutter stammten aus zutiefst christlichen Familien. Im September 1844 zogen sie nach Alençon, wo die zwei älteren Töchter im Pensionat der Schwestern des Heiligsten Herzens eine gediegene Ausbildung erhielten.

Zélie erwog, sich wie ihre ältere Schwester dem Ordensleben zuzuwenden, die später als Schwester Marie-Dosithée im Kloster der Heimsuchung Mariä in Le Mans lebte. Doch die Oberin der Töchter der Barmherzigkeit, die Zélie um Aufnahme bat, antwortete ihr ohne Zögern, das sei nicht der Wille Gottes. Angesichts einer so kategorischen Behauptung fügte sich das junge Mädchen, wenn auch nicht ohne Traurigkeit. Mit schönem übernatürlichem Optimismus rief sie: «Mein Gott, ich werde in den Stand der Ehe treten, um deinen heiligen Willen auszuführen. Dann bitte ich dich aber, schenke mir viele Kinder, und sie sollen dir geweiht sein.» Daraufhin trat Zélie in die Spitzenstickschule ein, um sich in der Herstellung der Alençon-Spitze zu vervollkommnen, einer besonders berühmten Spitzentechnik. Von da an arbeitete sie selbstständig auf eigene Rechnung.

Als Zélie eines Tages an einem jungen Mann vorbeiging, von dessen edlen Gesichtszügen, zurückhaltendem Benehmen und würdevoller Haltung sie stark beeindruckt war, vernahm sie eine innere Stimme: «Diesen da habe ich für dich vorbereitet». Bald wurde ihr die Identität des Mannes enthüllt: Louis Martin. Die beiden jungen Leute lernten sich bald schätzen und lieben. Sie wurden sich so schnell einig, dass sie bereits am 13. Juli 1858, drei Monate nach ihrer ersten Begegnung heirateten. Louis und seine Frau beabsichtigten, nach dem Vorbild des heiligen Josef und der Jungfrau Maria wie Bruder und Schwester zusammenzuleben. Zehn Monate gemeinsamen Lebens in völliger Enthaltsamkeit gestatteten es ihnen, ihre Seelen in einer engen spirituellen Vereinigung miteinander zu verschmelzen. Doch eine kluge Intervention ihres Beichtvaters und der Wunsch, dem Herrn Kinder zu schenken, veranlassten sie zum Abbruch dieser heiligen Erfahrung. Zélie schrieb später an ihre Tochter Pauline: «Ich für mich wollte viele Kinder haben, um sie für den Himmel zu erziehen». In weniger als dreizehn Jahren bekamen sie neun Kinder. Ihre Liebe war schön und fruchtbar.

Am Gegenpol

«Eine Liebe, die nicht ,schön' ist, d.h. eine einzig auf die Befriedigung der Lust bzw. auf die gegenseitige ,Benutzung' von Mann und Frau reduzierte Liebe macht die Menschen zu Sklaven ihrer Schwächen» (Brief an die Familien 13). In dieser Perspektive werden Personen wie Dinge benutzt: Die Frau kann für den Mann zum Lustobjekt werden und umgekehrt; Kinder können zur Last für die Eltern werden; die Familie zu einer die Freiheit ihrer Mitglieder einschränkenden Institution. Man befindet sich am Gegenpol der wahren Liebe. «Wenn man nur das Vergnügen sucht, kann man sogar die Liebe töten, die Frucht der Liebe töten», sagt der Papst. «Für die Kultur des Vergnügens wird die gebenedeite Frucht deines Leibes (Lk 1, 42) in gewissem Sinne zu einer ,verfluchten' Frucht», d.h. zu einer unerwünschten Frucht, deren man sich durch die Abtreibung entledigen will. Diese Kultur des Todes steht im Gegensatz zum göttlichen Gesetz: «Das Gesetz Gottes im Blick auf das menschliche Leben ist eindeutig und kategorisch. Gott gebietet: Du sollst nicht töten (Ex 20, 13). Kein menschlicher Gesetzgeber darf also behaupten: Du darfst töten, du hast das Recht zu töten, du müsstest töten» (Ibid. 21).

In der Tat verkörpert sich das gemeinsame Wohl der Familie und der Menschheit im Neugeborenen. Die Eltern Martin erfuhren diese Wahrheit durch den Empfang ihrer zahlreichen Kinder: «Wir lebten nur noch für unsere Kinder, das war unser ganzes Glück, und wir haben es nur in ihnen gefunden», schrieb Zélie. Doch ihre Ehe verlief nicht ohne Prüfungen. Drei Kinder starben im Kleinkindalter, darunter zwei Knaben. Dann kam der plötzliche Tod der fünfeinhalbjährigen Marie-Hélène. Gebete und Pilgerfahrten folgten inmitten der Ängste aufeinander, insbesondere 1873, während einer schweren Erkrankung von Thérèse und der Typhusinfektion von Marie. In den größten Sorgen wurde das Vertrauen Zélies durch den Anblick ihres glaubenden Gatten gestärkt, besonders durch die strenge Einhaltung der Sonntagsruhe seinerseits: Niemals machte Louis seinen Laden am Sonntag auf. Dieser war das «Fest des lieben Gottes», das man in der Familie feierte, zunächst durch den Gottesdienst in der Gemeinde, dann durch große Spaziergänge. Die Kinder wurden zu den mit Umzügen und Feuerwerk gespickten Festen von Alençon mitgenommen.

Die Erziehung der Kinder erfolgte freudig, zärtlich und anspruchsvoll zugleich. Vom Erwachen ihres Verstandes an brachte ihnen Frau Martin die morgendliche Darbringung ihres Herzens vor den lieben Gott bei, wie auch die ganz schlichte Hinnahme der täglichen Schwierigkeiten, «um Jesus Freude zu machen». Eine unverwischbare Prägung, die zur Grundlage des von ihrer jüngsten Tochter, der künftigen heiligen Therese vom Kinde Jesu, gelehrten «kleinen Wegs» wurde. Louis unterstützte seine Frau in ihren Pflichten den Kindern gegenüber: Er machte sich einmal um 4 Uhr früh auf den Weg, um eine Amme für sein erkranktes Neugeborenes zu finden; er begleitete seine Frau in einer eisigen Nacht zehn Kilometer weit von Alençon entfernt an das Krankenlager ihres ältesten Sohnes Joseph; er hielt Wache am Bett seiner Ältesten, Marie, die im Alter von 13 Jahren an Typhus erkrankt war...

Die Kraft, die aus Gott stammt

Louis Martin war nicht «der sanfte Träumer», als der er mitunter beschrieben wurde, sondern ein Mensch, der sich zu helfen weiss. Um Zélie zu helfen, die durch den Erfolg ihrer Spitzenwerkstatt überlastet war, gab er die Uhrmacherei auf. Diese Spitzen wurden stückweise in 15 bis 20 cm großen Abschnitten hergestellt. Dabei wurden feinste Leinenfäden höchster Qualität verwendet. Dann musste alles zusammengefügt werden: Eine heikle Arbeit, die mit immer dünneren Nadeln und Fäden ausgeführt wurde. Zélie setzte die von den Spitzenstickerinnen in Heimarbeit gefertigten Stücke von eigener Hand und völlig unsichtbar zusammen. Es mussten allerdings auch Absatzmöglichkeiten gefunden werden. Auf kommerziellem Gebiet war Louis glänzend und trug beträchtlich zur Mehrung des Betriebsgewinns bei. Doch er fand dabei auch Zeit zum Angeln.

Nebenbei waren die Eheleute Martin an mehreren frommen Vereinigungen beteiligt: am Dritten Orden des heiligen Franziskus, an nächtlichen Gebeten usw. Ihre Kraft schöpften sie aus der liebevollen Befolgung der kirchlichen Vorschriften und Räte: Fasten, täglicher Besuch der Messe, häufige Beichten. «Die göttlichen Kräfte sind viel mächtiger als eure Schwierigkeiten!», schreibt Papst Johannes-Paul II. an die Familien. «Die Wirkung des Sakraments der Versöhnung ist unermesslich viel größer als das in der Welt wirkende Böse... Unvergleichlich viel größer ist vor allem die Kraft der Eucharistie... In diesem Sakrament hat Christus sich selbst uns als Speis und Trank, als heilbringende Kraftquelle überlassen... Das Leben, das von ihm kommt, ist für euch, liebe Ehegatten, Eltern und Familien!» (Ibid. 18).

Dauerhafte Früchte

Aus der Quelle der Eucharistie schöpfte Zélie eine für Frauen überdurchschnittliche Kraft und ihr Mann eine für Männer überdurchschnittliche Zärtlichkeit. Louis führte die Finanzen. Er willigte gern in die Wünsche seiner Gattin ein: «In Bezug auf die Exerzitien von Marie zu Mariä Heimsuchung», schrieb Zélie an Pauline, «weißt du wohl, wie ungern sich Papa von euch trennt, und er hatte zunächst ausdrücklich gesagt, dass sie nicht gehen werde... Gestern Abend beklagte sich Marie darüber; ich sagte zu ihr: ,Lass mich machen, ich erreiche, was ich will, und zwar kampflos; es ist noch ein Monat bis dahin; das reicht zehnmal, um deinen Vater zu überreden.' Ich täuschte mich nicht, denn kaum eine Stunde später begann er schon beim Eintreten sehr freundlich mit deiner Schwester (Marie) zu sprechen... ,Gut, sagte ich mir, jetzt ist der Augenblick gekommen!' Und ich machte eine Andeutung. ,Du möchtest also diese Exerzitien sehr gerne mitmachen?' sagte Vater zu Marie. ,Ja, Papa. – Na gut, dann geh!'... Ich finde, ich hatte einen guten Grund für den Wunsch, dass Marie zu den Exerzitien geht. Das ist zwar eine Ausgabe, doch das Geld zählt nicht, wenn es um die Heiligung einer Seele geht; und letztes Jahr ist Marie ganz verwandelt nach Hause gekommen. Die Früchte sind immer noch da; doch es wird Zeit, dass sie ihren Vorrat erneuert.»

Geistliche Exerzitien bringen Früchte der Umkehr und der Heiligung hervor, denn unter ihrer Wirkung reinigt sich die den Erleuchtungen und den Anregungen des Heiligen Geistes gegenüber aufgeschlossene Seele immer mehr von den Sünden, übt sich in Tugenden und folgt Jesus Christus als absolutem Vorbild nach, um zu einer noch innigeren Vereinigung mit ihm zu gelangen. Aus diesem Grunde konnte Papst Paul VI. sagen: «Die getreue jährliche Teilnahme an Exerzitien in der Stille eines Klosters sichert den Fortschritt der Seele». Unter allen Methoden geistlicher Übungen «gibt es eine, die die vollkommene und wiederholte Zustimmung des Apostolischen Stuhls bekommen hat... nämlich die Methode des heiligen Ignatius von Loyola, des Heiligen, den Wir gerne als in geistlichen Übungen spezialisierten Meister bezeichnen» (Pius XI., Enzyklika Mens Nostra).

Der Heimgang einer tapferen Seele

Das zutiefst christliche Leben der Eltern Martin war der Nächstenliebe gegenüber von Natur aus aufgeschlossen: diskrete Almosen für die bedürftigen Familien, denen die Töchter je nach ihrem Alter verbunden waren, ebenso wie Beistand für Kranke. Sie scheuten nicht einmal vor Rechtsstreitigkeiten zurück, um Unterdrückte zu stützen. Diese Dienste gingen über die Grenzen der Gemeinde hinaus und zeugten von großem missionarischen Geist: großzügige jährliche Spenden für die Verbreitung des Glaubens, Beteiligung an der Errichtung einer Kirche in Kanada usw.

Doch das intensive Familienglück der Martins sollte nicht sehr lange dauern. Bereits 1865 bemerkte Zélie das Vorhandensein einer Geschwulst in ihrer Brust, die nach einem Sturz auf eine Möbelkante entstanden war. Ihr Bruder, ein Apotheker, und ihr Mann maßen dem keine große Bedeutung bei. Ende 1876 brach das Übel aus, und die Diagnose war eindeutig: «fibröser Tumor», inoperabel, da zu weit fortgeschritten. Zélie meisterte die Lage tapfer bis zum Schluss. Sie starb am 28. August 1877. Für den 54-jährigen Louis stürzte eine Welt zusammen, eine tiefe Wunde tat sich auf, die sich erst im Himmel schließen würde. Doch er nahm alles in einem beispielhaften Geiste des Glaubens und in der Überzeugung hin, dass seine «heilige Gattin» im Himmel sei. Er führte die in der Harmonie einer vollkommenen Liebe begonnene Aufgabe zu Ende: die Erziehung der fünf Töchter. Dafür hatte «das so zarte Herz Papas die bereits vorhandene Liebe um eine wahrhaft mütterliche Liebe erweitert», schrieb Thérèse. Frau Guérin, die Schwägerin von Zélie, bot sich an, der Familie Martin zu helfen, und lud ihren Schwager ein, sein Heim nach Lisieux zu verlegen. Die Apotheke ihres Mannes sollte für die kleinen Waisen ein zweites Heim werden, und die Vertrautheit, die die beiden Familien verband, würde in der gemeinsamen Tradition von Einfachheit, Arbeit und Aufrichtigkeit nur wachsen. Louis entschloss sich zu diesem Opfer und zog nach Lisieux.

Eine große Ehre

Das Leben im «Buissonnets», dem neuen Haus in Lisieux, war einfacher und zurückgezogener als in Alençon. Die Familie unterhielt nur wenige Verbindungen und pflegte die Erinnerung an jene, die Herr Martin seinen Kindern gegenüber stets als «eure heilige Mama» bezeichnete. Die jüngsten Töchter wurden den Benediktinerinnen von Notre-Dame du Pré anvertraut. Doch Louis verstand es, ihnen auch Zerstreuungen zu bieten: Theaterbesuche, Reisen nach der Seeküste, Aufenthalte in Paris usw., und suchte in allen Realitäten des Lebens nur nach dem Ruhm Gottes und der Heiligung der Seelen.

Seine persönliche Heiligkeit zeigte sich insbesondere in der Hingabe all seiner Töchter und schließlich auch seines Selbst. Zélie hatte bereits die Berufung der beiden Ältesten vorausgeahnt: Pauline trat im Oktober 1882, Marie im Oktober 1886 in den Karmel von Lisieux ein. Gleichzeitig begann Léonie, ein Kind von schwierigem Charakter, eine Reihe vergeblicher Versuche, einem Orden beizutreten, zunächst bei den Klarissinnen, dann im Kloster der Heimsuchung Mariä, wo sie nach zwei Misserfolgen schließlich 1899 endgültig Aufnahme fand. Thérèse, die Jüngste, die «kleine Königin», überwand alle Hindernisse, um im April 1888 mit fünfzehn Jahren in den Karmel eintreten zu können. Zwei Monate später, am 15. Juni, offenbarte Céline ihrem Vater, dass auch sie sich zum Ordensleben berufen fühlte. Angesichts dieses neuen Opfers war die Reaktion Louis Martins großartig: «Komm, treten wir zusammen vor das Allerheiligste, um dem Herrn dafür zu danken, dass er mir die Ehre erweist, alle meine Kinder zu nehmen.»

Nach dem Vorbild Herrn Martins sollen Eltern die Berufung ihrer Kinder als Geschenk Gottes betrachten: «Ihr Eltern, dankt dem Herrn, wenn er eines eurer Kinder zum geweihten Leben berufen hat», schreibt Papst Johannes-Paul II.. «Es muss - wie es immer gewesen ist - als eine große Ehre angesehen werden, wenn der Herr auf eine Familie blickt und eines ihrer Glieder auswählt, um es einzuladen, den Weg der evangelischen Räte einzuschlagen! Hegt den Wunsch, eines eurer Kinder dem Herrn zu schenken, damit die Liebe Gottes in der Welt wachsen möge. Welche schönere Frucht der ehelichen Liebe könnte es für euch geben?» (Vita consecrata, 25. März 1996, Nr. 107).

Die Berufung ist vor allem eine Initiative Gottes. Doch eine christliche Erziehung begünstigt die großherzige Antwort auf den Ruf Gottes: «Im Schoß der Familie sollen die Eltern durch Wort und Beispiel für ihre Kinder die ersten Glaubensboten sein und die einem jeden eigene Berufung fördern, die geistliche aber mit besonderer Sorgfalt» (Katechismus, 1656). Denn «wenn die Eltern die Werte des Evangeliums nicht leben, werden der Junge und das Mädchen nur schwer in der Lage sein, den Ruf zu vernehmen, die Notwendigkeit der Opfer zu verstehen, die es auf sich zu nehmen gilt, sowie die Schönheit des Zieles zu schätzen wissen, das erreicht werden soll» (Vita consecrata, ibid.).

«Ich bin zu glücklich»

Die heilige Therese vom Kinde Jesu und vom heiligsten Antlitz bezeugte die Art und Weise, in der konkret ihr Vater das Evangelium lebte: «Was mir vor allem auffiel, waren die Fortschritte Papas in der Vollkommenheit; nach dem Vorbild des heiligen Franz von Sales war es ihm gelungen, seine natürliche Lebhaftigkeit so zu beherrschen, dass er die sanfteste Natur der Welt zu haben schien... Irdische Dinge schienen ihn kaum zu berühren, er setzte sich über alle Widernisse des Lebens leicht hinweg.» Im Mai 1888 ließ Louis während eines Besuchs in der Kirche, in der seine Hochzeit gefeiert worden war, die Etappen seines Lebens an sich vorüberziehen. Danach erzählte er seinen Töchtern: «Meine Kinder, ich komme aus Alençon, wo ich in der Kirche Unserer Lieben Frau so große Gnaden, solche Tröstungen empfangen habe, dass ich folgendes Gebet sprach: Mein Gott, das ist zu viel! Ja, ich bin zu glücklich, es ist unmöglich, so in den Himmel zu kommen, ich will für dich leiden! Und ich habe mich angeboten, als...» Das Wort «Opfer» erstarb ihm auf den Lippen, er wagte es nicht auszusprechen, doch die Töchter hatten begriffen.

Bald erhörte Gott seinen Diener. Am 23. Juni 1888 verschwand der unter arteriosklerotischen Schüben, die ihn auch in seinen geistigen Fähigkeiten beeinträchtigten, leidende Louis Martin aus seinem Hause. Nach vielen Ängsten wurde er am 27. wiedergefunden. Das war der Beginn eines langsamen und unaufhaltsamen körperlichen Verfalls. Kurz nachdem Thérèse den Schleier genommen und er sich dabei «so schön, so würdevoll» gezeigt hatte, fiel er in ein Delirium, das eine geschlossene Unterbringung im Bon-Sauveur (d.h. Erlöser)-Krankenhaus in Caen erforderlich machte: eine demütigende Situation, die er mit außerordentlichem Glauben auf sich nahm. Wenn er sich ausdrücken konnte, pflegte er zu sagen: «Alles zur größeren Ehre Gottes» oder «Ich hatte nie Demütigungen in meinem Leben hinzunehmen, ich brauchte eine». Als seine Beine im Mai 1892 von Lähmung ergriffen wurden, wurde er nach Lisieux zurückgebracht. «Auf Wiedersehen im Himmel!», konnte er bei seinem letzten Besuch im Karmel gerade noch zu seinen Töchtern sagen. Er verschied sanft nach einem Herzanfall am 29. Juli 1894 unter dem Beistand von Céline, die ihren Eintritt in den Karmel verschoben hatte, um ihn pflegen zu können.

Die heilige Therese vom Kinde Jesu und vom heiligsten Antlitz konnte später sagen: «Der liebe Gott hat mir einen Vater und eine Mutter gegeben, die mehr des Himmels als der Erde würdig waren.» Mögen wir ihrem Vorbild folgen und zur ewigen Bleibe gelangen, die die Heilige von Lisieux «das väterliche Heim des Himmels» nannte.

Dom Antoine Marie osb

Die Veröffentlichung des Rundbriefes der Abtei St.-Joseph de Clairval in einer Zeitschrift, oder das Einsetzen desselben auf einem ,,web site" oder einer ,,home page" sind genehmigungspflichtig. Bitte wenden Sie sich dafür an uns per E-Mail oder durch https://www.clairval.com.