Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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22. Februar 2007
Kathedra Petri


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Geht darum hin und macht alle Völker zu Jüngern, indem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes (Mt 28,19). Diesem Ruf Christi sind zu allen Zeiten großherzige Menschen gefolgt, die sich und ihr Leben der Mission verschieben haben. Auch «Marie de la Passion hat sich von Gott ergreifen lassen, der den Durst nach Wahrheit, von dem sie erfüllt war, stillen konnte. Durch die Gründung der Franziskaner-Missionarinnen Mariens wollte sie die Ströme der Liebe, die in ihr flossen und sich auf die Welt ausbreiten wollten, an andere weitergeben. In den Mittelpunkt ihres missionarischen Einsatzes stellt sie das Gebet und die Eucharistie, denn für sie vereinen sich Anbetung und Mission zu ein und demselben Weg» (Predigt von Johannes-Paul II. zur Seligsprechung von Mutter Marie de la Passion am 20. Oktober 2002).

Ihr Herz entbrannte von Liebe

Hélène de Chappotin wurde am 21. Mai 1839 in Nantes (Bretagne) geboren. Bereits in zartestem Alter legte Hélène eine überraschende geistige Reife an den Tag. Ihr gesamter Charakter und ihre Begabungen, dank derer sie in ihrer kleinen Welt glänzen konnte, bereiteten ihrer Mutter allerdings Sorgen; daher kümmerte sie sich besonders sorgfältig um die religiöse Erziehung des Kindes. Hélène war so sehr von dem Gedanken an die Ewigkeit geprägt, dass sie sogar Angst davor hatte. Frieden fand sie erst an dem Tag, an dem ihr Herz «von Liebe zu unserem Herrn entbrannte», wie sie selber sagte. Ihre Kindheit war von einer großen Zuneigung zu den Armen gekennzeichnet. Ihnen zuliebe nahm sie bereitwillig Opfer auf sich. Zusammen mit ihren Freundinnen gründete sie die Association Sainte-Anne, eine Vereinigung, die Kleider für Bedürftige sammelte. Ihr lebhaftes Temperament kam beim Spielen und Toben zu seinem Recht. Hélène war 8 Jahre alt, als ihr Vater 1847 in Vannes zum Chefingenieur ernannt wurde. An Fronleichnam 1850 hielt sie ihre erste heilige Kommunion ab: «Nach der Erstkommunion fühlte ich mich so sehr Gott gehörig, dass ich den lieben Gott bat, mich lieber zu sich zu nehmen, als dass ich böse werde.»

Im selben Jahr begann eine schmerzliche Zeit für Hélène, sie musste mehrmals Trauer anlegen. «Vor mir tat sich eine immer größere Leere auf», schrieb sie später. «Wer war noch der Mühe wert, geliebt zu werden? Dieses Rätsel meiner Kindheit wurde immer quälender.» Im April 1856 nahm sie an den jährlichen Einkehrtagen der «Kinder Mariens» in Nantes teil. Bereits bei der Eröffnung sprach der Prediger die prophetischen Worte: «In dieser Kapelle gibt es eine Seele, die von Gott gesucht, gewollt und gefordert wird. Wir alle wollen während der Segnung des Allerheiligsten Sakraments für sie beten.» Hélène sagte sich sofort: «Das bin ich, diese Seele.» Später merkte sie dazu an: «Mit dieser Überzeugung wurde ich viel kindlicher, viel lustiger denn je, ich unterhielt die anderen. Bis zur letzten Predigt tat ich nichts für Gott, nichts « Als aber die letzte Anbetung des Allerheiligsten Sakramentes begann, schien mir, ich müsste etwas von der Gnade des hl. Paulus auf dem Wege nach Damaskus haben. Ich kniete mich noch kalt hin. Da flog mir folgender Gedanke zu: ‚Ich bin Der, der dich immer mehr lieben wird als du Ihn, Der, dessen Schönheit keinen Makel aufweist und keine Enttäuschung bereithält, denn Ich bin Gott, der Unendliche.' Ich habe nichts gehört, das war die Eingebung eines Augenblicks, die aber ein anderes Geschöpf aus mir machte.» Hélènes Leben änderte sich. Keine Langeweile mehr, keine Nachlässigkeit; ihr Leben wurde von nun an durch die Liebe zu Gott gestaltet. Eines Tages ging ihr ein weiteres Licht auf, als sie von Jesus gefragt wurde: «Was schuldest du mir dafür, dass ich mich deiner so angenommen habe?» In ihrem Inneren zeichnete sich ein Leben im Kloster ab. «Ich kann Denjenigen, der sich mir voll und ganz hingegeben hat, nur mit meiner vollkommenen Selbsthingabe bezahlen», erwiderte sie. Und ebenso, wie die Schönheit Gottes sich ihrer Liebe aufgedrängt hatte, erschien nun ihrem Gewissen, ja selbst ihren Wünschen das Ordensleben als zwingend notwendig.

Hélène vertiefte ihr spirituelles Leben durch stundenlanges Beten, durch Bußübungen usw. Ihre Familie merkte rasch, dass sie sich geändert hatte, doch die junge Frau sprach nicht von ihrer Berufung; sie wusste, dass ihre Mutter strikt dagegen wäre. Ende 1858 wurde ihr von ihrem Beichtvater, Pater Lavigne, empfohlen, an den Einkehrtagen der Dames du Cénacle in Paris zum Thema Erkenntnis teilzunehmen. Hélène sprach mit ihren Eltern darüber, und sie waren einverstanden. Doch kurz vor der Abreise erlitt Frau de Chappotin einen Schlaganfall, an dem sie acht Tage später verstarb.

Ein neuer Name

Bald besuchte Hélène auf Anregung einer Freundin das Klarissenkloster von Nantes und beschloss, dort Nonne zu werden. Sie trat am 9. Dezember 1860 in den Klarissenorden ein. Am 23. Januar danach - sie befand sich gerade im Chor – empfing sie einen neuen Namen: « Plötzlich vernahm ich klar und deutlich folgende Worte (ich weiß aber nicht, ob mit meinen leiblichen Ohren): ‚Willst du anstelle des Heiligen Vaters gekreuzigt werden?' Ich sagte Ja. Da fiel auf einmal wie ein Segen der Name ‚Marie, Opfer Jesu und des gekreuzigten Jesus' über mich. Ich glaube, seitdem ist das mein jedem menschlichen Einfluss entzogener himmlischer Name « Die Liebe, die ich fühlte, war so heftig, dass mir schien, man könne sie unmöglich auf Erden ertragen; entweder müsse man daran sterben, oder sie müsse abnehmen.» Dieser geheimnisvolle Name erinnert an die Worte des hl. Johannes: Jesus Christus, der Gerechte, ist die Sühne für unsere Sünden, nicht nur für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt (1 Joh 2,2). Jesus bat Hélène dringlich, sie möge sich mit seinem Opfer vereinigen und zusammen mit Ihm in das Geheimnis der Erlösung der Welt eindringen, und zwar im kirchlichen Kontext jener Zeit, in der der Heilige Stuhl vom König Italiens bedroht war. Der Schock, den Hélène bei der Enthüllung dieses neuen Namens erlitt, war so groß, dass sie krank wurde und das Kloster verlassen musste. Sie kehrte zu ihrer Familie zurück.

1864 erfuhr sie von der Existenz der Société de Marie Réparatrice, einer Gesellschaft, die gleichsam mit Maria am Fuße des Kreuzes und nach den Konstitutionen des hl. Ignatius von Loyola, der Anbetung des Allerheiligsten Sakramentes geweiht war als Sühne für die Sünden der Welt. Sie trat in Toulouse in das Noviziat des Ordens ein. Ihre feierliche Einkleidung fand am 15. August 1864 statt, und man gab ihr den Namen «Schwester Marie de la Passion». Anfang 1865 wurde sie in die Mission von Maduré nach Südindien entsandt. Bereits 1859 hatte die Gesellschaft auf Bitten des Jesuitenordens eine erste Gruppe von Schwestern nach Maduré geschickt, die sich dort um die vielen jungen Witwen und Mädchen des Landes kümmern sollten. In einem ihnen unbekannten geographischen, kulturellen und religiösen Kontext mussten sie die Formen ihres religiösen Lebens den Gegebenheiten anpassen. Am 3. Mai 1866 legte Marie de la Passion ihre ersten Gelübde als Ordensschwester ab und wurde beinahe sofort zur Oberin des Hauses von Tuticorin ernannt. Ihr Wirken war dort sehr geschätzt; so wurde sie im Januar 1867 zur Provinzialoberin der drei Häuser in Maduré ernannt.

Mutter Marie de la Passion verfügte über viele Gaben, um die Situation zu bewältigen, nur ihre Empfindlichkeit bereitete ihr große Schmerzen. Ihre labile Gesundheit wurde durch das Klima auf eine harte Probe gestellt: heftige Magen- und Kopfschmerzen, Herzbeschwerden usw. Sie musste die materiellen und spirituellen Bedürfnisse von Familien stillen: mit Katechismusunterricht, Exerzitien, schulischer Betreuung, Ambulanzen, Frauenhäusern « Zudem hatte sie für die rund 30 Schwestern zu sorgen, die in den drei Gemeinschaften lebten. Sie war mit großem Fingerspitzengefühl, viel Gebet, eucharistischer Anbetung sowie apostolischem Wirken um Harmonie bemüht. Das Klima der Liebe, das sie in den Gemeinschaften herzustellen wusste, stieß bei Besuchern auf Bewunderung: «Wenn man bei Ihnen eintritt», sagte ein Bischof zu den Schwestern, «ist man ergriffen, man spürt etwas ganz Besonderes « die Liebe, die in diesem Hause herrscht.»

Eine schwierige Entscheidung

Die Schwierigkeiten, auf die die Schwestern bei ihrem Apostolat stießen, waren allerdings so groß, dass die Generaloberin erwog, alle ihre Töchter nach Frankreich zurückzurufen. Mutter Marie de la Passion erwiderte, die Frauen bräuchten noch viel Zeit, um sich an das Leben als Missionarinnen zu gewöhnen. 1874 wurde sie gebeten, ein Waisenhaus und zwei Schulen in Ootacamund, einem größeren Marktflecken mit sehr günstigen klimatischen Bedingungen im Norden Madurés, zu gründen. Mutter Marie de la Passion kam dieser Bitte unter sehr armseligen Bedingungen nach. Währenddessen verschlechterte sich die Situation in Maduré auf Grund mehrfacher Missverständnisse in Bezug auf die Werke der Kongregation und ihre Disziplin; dabei spielten Kommunikationsschwierigkeiten mit Europa eine bedeutende Rolle. Die Generaloberin enthob Mutter Marie de la Passion ihres Amtes als Provinzialoberin, ließ sie jedoch weiterhin als Oberin des Hauses in Ootacamund fungieren und entsandte eine ihrer Assistentinnen vor Ort. Diese stellte die Schwestern vor die Wahl, entweder ein Bündel von Maßnahmen zu akzeptieren, die ihnen aber willkürlich und unannehmbar vorkamen, oder die Kongregation schlicht und einfach zu verlassen. In größter Bedrängnis überlegten die Schwestern, berieten sich, beteten und beschlossen schließlich mehrheitlich, die Kongregation zu verlassen. Mutter Marie de la Passion, die sich immer noch in Ootacamund aufhielt, schwieg dazu. Die Schwestern hatten ihre Entscheidung ohne sie gefällt, doch ungefähr zwanzig von ihnen wollten sich ihr anschließen. Bischof Bardou, der ursprünglich um die Gründung von Ootacamund gebeten hatte, stimmte der Aufnahme dieser Schwestern zu. Er bat Mutter Marie de la Passion und zwei ihrer Gefährtinnen jedoch, nach Rom zu reisen, um dort die Lage darzulegen und eine Lösung zu finden.

Während ihres Romaufenthaltes waren die Schwestern schlecht untergebracht, sie litten unter Hunger und Kälte; bald zeigte sich jedoch, dass die kirchlichen Vorgesetzten ihnen gewogen waren: Bereits am 5. Januar 1877 wurde die Genehmigung zur Gründung des ausschließlich der Mission dienenden Instituts der Missionarinnen Mariens erteilt. Mutter Marie de la Passion verfasste eine Regel, die Bischof Bardou unterbreitet werden sollte. Als Grundlage setzte sie die bedingungslose Selbsthingabe für die Kirche und das Heil der Seelen, dann kam die Nachfolge Mariens, die ihrerseits Jesus bis zum Kreuz gefolgt war.

Der Grund für die Missionstätigkeit der Kirche «ergibt sich aus dem Plan Gottes, der will, dass alle Menschen heil werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn es ist nur ein Gott und nur ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst als Lösegeld für alle hingegeben hat (1 Tim 2,4-6), und in keinem andern ist Heil (Apg 4,12). So ist es nötig, dass sich alle zu ihm, der durch die Verkündigung der Kirche erkannt wird, bekehren sowie ihm und seinem Leib, der Kirche, durch die Taufe eingegliedert werden « Wenngleich Gott Menschen, die das Evangelium ohne ihre Schuld nicht kennen, auf Wegen, die er weiß, zum Glauben führen kann, ohne den es unmöglich ist, ihm zu gefallen (Hebr 11,6), so liegt also doch auf der Kirche die Notwendigkeit (vgl. 1 Kor 9,16) und zugleich das heilige Recht der Evangeliumsverkündigung. Deshalb behält heute und immer die missionarische Tätigkeit ihre ungeschmälerte Bedeutung und Notwendigkeit» (II. Vatikanisches Konzil, Dekret Ad Gentes, Nr. 7).

Glück und Gnade

Mutter Marie de la Passion kehrte anschließend nach Frankreich zurück, um in Saint-Brieuc (Bretagne), wo sie vom Bischof herzlich aufgenommen wurde, ein Noviziat zu eröffnen. Es kamen viele Neuberufene, die von den Pfarrern aus der Umgebung geschickt wurden. 1878 fand eine erste Abschiedsfeier für fünf Novizinnen statt, die als Missionarinnen nach Indien reisten. Im Juni 1880 wurde das Noviziat auf das ehemalige Gut der Bischöfe von Saint-Brieuc in Châtelets verlegt. Im Juni 1882 begab sich Marie de la Passion erneut nach Rom. Dort begegnete sie Pater Raphael Delarbre, der im Orden der Franziskaner ein wichtiges Amt innehatte. Dieser bat sie, die Konstitutionen ihres Instituts in eine endgültige Fassung zu bringen, und empfahl ihr dann, ein Haus in Rom zu eröffnen. Überzeugt, dass Gott sie als Franziskanerin haben wollte, wandte sich Mutter Marie de la Passion an den Generalminister der Franziskaner, Pater Bernardin, der damit einverstanden war: «Als ich Ihren Wunsch sah, sich dem heiligen Franziskus anzuschließen», sagte er später, «fühlte ich, dass das für unseren Orden Glück und Gnade zugleich war.»

Alles schien sich zum Guten zu wenden. Im November 1882 erweckte jedoch die Gunst, in der die neue Kongregation in Rom stand, die Verdächtigungen zu neuem Leben, die seit der Trennung von der Société de Marie Réparatrice über der Gründung schwebten. Böse Zungen schrieben die Pläne der Gründerin ihrem persönlichen Ehrgeiz zu. Am 16. März 1883 wurde Marie de la Passion von ihrem Amt als Generaloberin entbunden, und man verbot ihr, ihren Töchtern zu schreiben. Bald danach entschied die Kongregation für die Verbreitung des Glaubens einen finanziellen Streit mit der Société de Marie Réparatrice zu Ungunsten der Missionarinnen Mariens, eine für diese menschlich verhängnisvolle Entscheidung.

Der große Missionar

Obwohl Mutter Marie de la Passion bei dieser Bewährungsprobe vom Bischof von Saint-Brieuc unterstützt wurde, fühlte sie sich umso mehr verletzt, als sie sich nicht einmal hatte verteidigen können. Sie war in ihrem spirituellen Leben erschüttert: «Mein Glaube war beinahe zu sinken, bald schien mir, auch Gott würde über mich urteilen, ohne mich anzuhören, und mich grundlos verdammen.» Doch diese schwere Prüfung hatte eine reinigende Wirkung; zudem halfen ihr ihre Gebete vor dem Tabernakel, ihre Einheit mit dem Mysterium der Eucharistie zu vertiefen. «Der große Missionar des Instituts ist der ausgestellte und angebetete Jesus», schrieb sie 1888 im Nachhinein. «Man hat die Kraft der Eucharistie und des mit dem Handeln vereinten Gebetes für die Bekehrung der Völker noch nicht begriffen.» Im Februar 1884 ernannte Leo XIII. schließlich einen Beauftragten, der die Situation der Missionarinnen Mariens untersuchen sollte. Für Marie de la Passion war diese Untersuchung eine «lange Folge kleiner Todesqualen: Gott allein weiß, was alles ich da über mich zu hören bekam «» Am Ende der Untersuchung schrieb der Bischof von Saint-Brieuc an die Ordensschwestern: «Ihr Prozess ist gewonnen, und ich freue mich mit Ihnen « Die ungerechte Absetzung, mit dem Mutter Marie de la Passion belegt worden war, wurde vom Heiligen Vater persönlich rückgängig gemacht.» Ende Juli 1884 wählte ein Generalkapitel Mutter Marie de la Passion einstimmig wieder zur Generaloberin. «Zu viele Ängste, zu viele Enttäuschungen waren über meine Seele hinweggegangen, so dass ich große Befürchtungen hegte, als ich die Bürde der Verantwortung wieder auf mich nahm», schrieb sie. Diese Angst, die sie oft in eine tiefe Nacht tauchte, blieb fortan ein ständiger Gegner ihres spirituellen Lebens.

Im August 1885 wurde das Institut offiziell der Leitung des Generalministers der Franziskaner unterstellt. Damit begann ein großartiger missionarischer Aufschwung. 1886 wurden vier Gründungen realisiert: zwei in Ceylon, je eine in China und Paris. Mutter Marie de la Passion, die jede ihrer Töchter persönlich liebte, litt sehr unter dem Abschied von ihnen, wenn sie abreisten. Doch die mütterliche und schwesterliche Liebe riss dank der umfangreichen Korrespondenz, die die Gründerin in der Kongregation ständig unterhielt, nie ab. Ab 1886 gingen immer mehr Bitten um Neugründungen ein, erst jede Woche eine, dann so gut wie täglich. Die Gründungen auf europäischem Boden versorgten nicht nur die Missionsländer mit Nachwuchs, sondern stillten auch den Evangelisierungbedarf in den armen Vierteln der großen Städte. Um den beträchtlichen finanziellen Bedarf der Kongregation zu decken, setzte Marie de la Passion auf die Arbeit: «Was wir brauchen, koste es was es wolle, ist Arbeit, und zwar genug, um davon zu leben.» Die Schwestern widmeten sich dem Zeichnen, der Malerei, dem Nähen, der Lithographie, dem Buchdruck, der Weberei usw.

1890 empfing das Institut sein Statut nach pontifikalem Recht: Es zählte zu dem Zeitpunkt 17 Häuser mit 495 Schwestern. Marie de la Passion schrieb all das Gott zu. Im Grunde ihrer Seele fand indessen ein Reinigungsprozess statt. Einerseits verlangte es sie leidenschaftlich nach Gott, seiner Liebe sowie seiner Herrlichkeit, und sie stürzte sich in die Stille der Anbetung; andererseits wusste sie nicht, was der Herr von ihr dachte, und zweifelte selbst an ihrem ewigen Heil. Pater Bernardin, der ähnliche geistliche Qualen durchzustehen hatte, sagte ihr: «Los, ziehen Sie ein für allemal einen Schlussstrich und bringen Sie das Opfer, Ihre Seele, Ihr ganzes Sein und Ihre Ewigkeit für immer Gott zu überlassen.»

«Wandelt in der Nachfolge Jesu!»

Im November 1896 begann eine Sitzung des Generalkapitels, an deren Ende die Gründerin folgenden Ruf aussprach: «Heute habe ich den dringenden Wunsch, euch die Worte des hl. Petrus an den Lahmen des Evangeliums zuzurufen: Ich habe weder Gold noch Geld, aber was ich habe, gebe ich dir: Stehe auf und geh! Ja, ich habe weder Gold noch Geld, aber was ich habe, gebe ich euch. Ich verausgabe mich ganz für euch, trotz meiner Kreuze, meiner schlechten Gesundheit, meines Elends. Erhebt euch nun und geht! Ich flehe euch an, wandelt in der Nachfolge Jesu!» Von da an nahm die Zahl der Gründungen rasch zu: im Kongo, in Mosambik, Kanada, Österreich, in der Mongolei, in Birma, Japan usw.

Durch den Kontakt mit Armen insbesondere in den Großstädten wandte sich Marie de la Passion auch der sozialen Frage zu. Die Lage der Frauen lag ihr besonders am Herzen. Sie förderte die Gründung von Berufsschulen und Werkstätten, in denen Frauen einen Beruf erlernen und dann einen gerechten Lohn erhalten konnten. «Im Christentum hat die Frau mehr als in jeder anderen Religion eine besonders würdevolle Stellung, deren zahlreichen und markanten Aspekte im Neuen Testament bezeugt sind», sagte Papst Paul VI.

Im Jahre 1900 wurde mehreren Schwestern des Instituts in China die Gnade des Märtyrertodes zuteil: In Tai-Yuan-Fu wurden im Zuge des Boxeraufstandes sieben ein Jahr zuvor angekommene Schwestern, d.h. die ganze Mission, ermordet. Unter Tränen rief die Ordensgründerin: «Jetzt kann ich sagen, dass ich sieben wahre Franziskaner-Missionarinnen Mariens habe! Ihr Martyrium spricht für sich selbst. Durch ihre Berufung hatten sie sich für die Kirche und die Seelen als Opfer dargeboten. Und sie blieben dabei bis zum Schluss, bis zu ihrem Opfertod «» Diese Märtyrerinnen wurden am 1. Oktober 2000 heiliggesprochen.

Von den Strapazen ihrer ständigen Reisen sowie ihres aufreibenden Alltags gezeichnet, starb Marie de la Passion am 15. November 1904 in San Remo (Italien) und hinterließ rund 3000 Ordensschwestern in 86 Einrichtungen auf allen fünf Kontinenten.

Bei der Seligsprechung von Mutter Marie de la Passion sagte Papst Johannes-Paul II.: «« der erste Dienst an der Mission [besteht] im echten und unablässigen Streben nach Heiligkeit. Wir können das Evangelium nicht konsequent bezeugen, wenn wir es zuerst nicht auch treu leben». Diese Worte knüpften an die Lehre des II. Vatikanischen Konzils an: «Denn alle Christgläubigen, wo immer sie leben, müssen durch das Beispiel ihres Lebens und durch das Zeugnis des Wortes den neuen Menschen, den sie durch die Taufe angezogen haben, und die Kraft des Heiligen Geistes, der sie durch die Firmung gestärkt hat, so offenbaren, dass die anderen Menschen ihre guten Werke sehen, den Vater preisen (vgl. Mt 5,16) und an ihnen den wahren Sinn des menschlichen Lebens und das alle umfassende Band der menschlichen Gemeinschaft vollkommener wahrnehmen können» (Ad Gentes, Nr. 11).

Bitten wir die selige Marie de la Passion, sie möge uns die Gnade erwirken, dass wir gemäß dem Evangelium und in heißem Bemühen um das Heil der Seelen leben können.

Dom Antoine Marie osb

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