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20. Dezember 2001 Oktave vor Weihnachten |
Marie-Marguerite Dufrost de Lagemmerais kam am 15. Oktober 1701 in Varennes bei Montreal in «Neufrankreich» (heute in Kanada) auf die Welt. Ihr Vater, ein seit 1687 in Neufrankreich lebender bretonischer Adliger, war Offizier. Marie-Marguerite (der Rufname «Marguerite» setzte sich durch) war das Älteste von sechs Kindern. Da sie bereits im Alter von sieben Jahren ihren Vater verlor, trat sie ganz jung in die Schule der Armut ein. Ihr Vater hatte zum Unterhalt seiner Familie nie etwas anderes gehabt als seinen mageren Offizierssold; das reichte gerade, um nicht zu verhungern. Nach seinem Tod sahen sich seine Witwe und seine Kinder an den Bettelstab gebracht. Sechs Jahre leidvollen Wartens vergingen, bevor Frau Dufrost eine lächerliche Rente bewilligt bekam, um ihre Kinder großzuziehen. Dank der Unterstützung wohltätiger Leute wurde Marguerite zwei Jahre lang im Heim der Ursulinen von Québec untergebracht. Dort erhielt sie eine gute religiöse Erziehung. Mit zwölf Jahren kehrte sie nach Hause zurück, um ihre Mutter in deren häuslichen Pflichten und bei der Erziehung ihrer Brüder und Schwestern zu unterstützen.
Am 12. August 1722 heiratete sie François d'Youville: Dieser war ein gut aussehender Kavalier, aber auch ein Abenteurer mit zweifelhaften Sitten, der Sohn eines Pelz- und Alkoholhändlers, der selber Handel trieb. In wenigen Jahren brachte er sein Hab und Gut durch und zerstörte sowohl seine eigene Gesundheit wie das Glück seiner Frau. Er starb 1730 achtundzwanzigjährig nach acht unglücklichen Ehejahren. Seiner Witwe, die Mutter von zwei Kleinkindern und mit dem dritten Kind schwanger war (vier weitere Kinder waren bereits in der Wiege gestorben), hinterließ er nur Schulden. Marguerite nahm all diese Prüfungen mit Mut, im Geiste des Glaubens hin. Sie wusste, dass die Fürsorge der göttlichen Vorsehung konkret und unmittelbar ist, dass sie sich um alles kümmert, von den kleinsten Dingen bis zu den größten Ereignissen der Welt und der Geschichte. Jesus selbst fordert eine kindliche Hingabe an die Vorsehung des himmlischen Vaters, der für die geringsten Bedürfnisse seiner Kinder sorgt: Macht euch also nicht Sorge und sagt nicht: Was werden wir essen, was werden wir trinken. Euer Vater im Himmel weiss ja, dass ihr all dessen bedürft. Sucht zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch dazugegeben werden (Mt 6,31-33).
«Trösten Sie sich, Madame.»
Pfarrer Normant hielt diese Frau für fähig, dem Hospital zu neuem Leben zu verhelfen; vielleicht würde Gott sie dafür sogar zur Mutter einer Ordensfamilie machen. Von solchen Gedanken bewegt, schlug er Marguerite d'Youville vor, einige Arme bei sich aufzunehmen. Dann besorgte er ihr eine Gefährtin. Bald schlossen sich ihnen zwei weitere junge Frauen an: Man zog in ein angemietetes Haus, zunächst mit fünf Armen, aus denen bald zehn wurden. Somit stand der Kern einer neuen Gemeinschaft; man schrieb das Jahr 1737. Doch diesem Werk der Barmherzigkeit standen schwere Prüfungen bevor.
Vom Alkohol benebelt?
An Allerheiligen verließen Marguerite und ihre Gefährtinnen ihr Haus, um zur Messe zu gehen. Draußen wurden sie von einer brüllenden Menge mit wüsten Schmähungen empfangen; die eingeschüchterten Frauen wurden mit Steinwürfen verfolgt. An den folgenden Tagen kam es immer wieder zu ähnlichen Szenen. Die an wilden Gerüchten stets fruchtbare Verleumdung breitete sich rasend schnell aus: Die Sulpizianer wurden beschuldigt, Frau d'Youville und ihre Helferinnen mit Alkohol zu beliefern, den diese insgeheim an die Indianer weiterverkaufen, aber auch selber trinken sollten. So wurden sie spöttisch «graue Schwestern» genannt, d.h. vom Alkohol benebelt (frz. grisées, betrunken).
Zur gleichen Zeit starb eine der treuesten Freundinnen von Marguerite bei der Arbeit; Pfarrer Normant, der fast einzige Fürsprecher der entstehenden Gemeinschaft erkrankte an einer unheilbaren Krankheit. Marguerite selbst sah sich durch hartnäckige Knieschmerzen an einen Stuhl gefesselt. Zu all dem wurde die kleine Gemeinschaft am 31. Januar 1745 durch ein Feuer halbbekleidet aus ihrem Haus in den Schnee hinausgejagt. Böse Zungen sahen darin unweigerlich eine «gerechte Strafe des Himmels». Durch eine barmherzige Fügung der göttlichen Vorsehung stellte jedoch eine mitleidige Dame ihr Haus Marguerite d'Youville zur Verfügung, sodass diese ihr Werk fortführen konnte.
Eine ebenso bedrängendewie unvermeidliche Frage
Mit der Zeit kann man erkennen, dass Gott in seiner allmächtigen Vorsehung aus den Folgen eines selbst moralischen Übels, das von seinen Geschöpfen verursacht wurde, Gutes entstehen lassen kann: Nicht ihr habt mich also hierher gesandt, sondern Gott, sagt Jakobs Sohn Joseph zu seinen Brüdern. Ihr gedachtet, mir Böses zu tun, Gott hat es aber zum Guten gelenkt, um viel Volk am Leben zu erhalten (Gen 45,8; 50,20). «Der allmächtige Gott könnte in seiner unendlichen Güte unmöglich irgend etwas Böses in seinen Werken dulden, wenn er nicht dermaßen allmächtig und gut wäre, dass er auch aus dem Bösen Guten zu ziehen vermöchte», schreibt der heilige Augustinus. Aus dem schlimmsten moralischen Übel, das je begangen worden ist, aus der durch die Sünden aller Menschen verschuldeten Zurückweisung und Ermordung des Sohnes Gottes, hat Gott im Übermaß seiner Gnade das größte aller Güter gemacht: die Verherrlichung Christi und unsere Erlösung. Freilich wird deswegen das Böse nicht zu etwas Gutem. «Die in Christus geschehene Offenbarung der göttlichen Liebe zeigt zugleich die Größe der Sünde und die Übergröße der Gnade. Wenn wir uns der Frage nach dem Ursprung des Bösen stellen, müssen wir also den Blick unseres Glaubens auf den richten, der allein dessen Besieger ist» (Katechismus, 385). Christus hat durch seine Passion und seinen Tod dem Leiden wie dem Tod einen erlösenden Wert verliehen und sie zu Mitteln der Heiligung gemacht. Mit seinem Kreuz vereint, führen die vielfachen Kreuze der Menschen zur Auferstehung.
Eine kaum beneidenswerte Übernahme
Bei den Regierenden des französischen Kanadas setzte sich die Idee durch, das Hospital von Montreal mit dem von Québec zu vereinigen. Eines schönen Morgens im Jahre 1751 erfuhr Marguerite d'Youville durch die Stimme eines öffentlichen Ausrufers, dass der Vertrag von 1747, der ihr die Verwaltung des Hospitals übertragen hatte, widerrufen worden war und sie den Nonnen aus Québec Platz machen sollte. Doch Marguerite wollte nicht: Mit unerschrockener Beredsamkeit vertrat sie ihr Anliegen bei den staatlichen und religiösen Behörden. Sie konnte sich nunmehr auf die öffentliche Meinung stützen: Seit vier Jahren konnte man die von ihren Anhängerinnen vollbrachte Arbeit beobachten; man sah, dass sie friedlich, gut und allem menschlichen Elend gegenüber barmherzig waren. Zudem fand Marguerite schließlich mit ihrer weiblichen Intuition das entscheidende Mittel zum Überwinden der Widerstände: Sie bot an, sämtliche Schulden des Staates in dieser Angelegenheit bis auf den letzten Pfennig zu begleichen, und die Schulden waren beträchtlich. 1753 durfte sie das Hospital endlich wieder übernehmen. Zwei Jahre später wurde die kleine Gruppe der Gefährtinnen Marguerites vom Bischof zur Ordensgemeinschaft erklärt. Aus dem Geiste der Demut und der Vergebung für den Spott zu Beginn der Gründung heraus, lautete der Name der Gemeinschaft «Graue Schwestern», und ihre Tracht war tatsächlich von grauer Farbe. Es hatte sechzehn Jahre Arbeit, hartnäckigen Kämpfens und Prüfungen aller Art gebraucht, um diese offizielle Anerkennung zu erlangen.
Fieberhafte Tätigkeit
Doch für die Gründerin war die Zeit der Heimsuchungen nicht vorbei. 1756 begann der Siebenjährige Krieg zwischen Frankreich und England, die sich die Neue Welt schon seit langem gegenseitig streitig gemacht hatten. Er endete mit dem Sieg Englands, der 1763 durch den Pariser Friedensvertrag besiegelt wurde «Neufrankreich» gab es nicht mehr. Der Krieg brachte zahlreiche Übel mit sich: Hunger, Preisauftrieb im von Flüchtlingen überschwemmten Montreal; Angst um die Zukunft und das Überleben der Ordensgemeinschaften; Abwanderung von Förderern, Freunden und Verwandten nach Frankreich und somit eine wesentliche Einschränkung der Hilfsmöglichkeiten trotz der Zunahme des zu lindernden Elends; Geldentwertung usw. Marguerite d'Youville und ihre Schwestern taten ihr Möglichstes.
«Seid beruhigt.»
Die Haltung der heiligen Marguerite d'Youville angesichts dieses Unglücks ist ein heroisches Vorbild für den Glauben an die göttliche Vorsehung, der nichts entgeht. Die heilige Katharina von Siena sagte denen, die sich daran, was ihnen zustieß, Ärgernis nahmen und sich dagegen auflehnten: «Alles geht aus Liebe hervor, alles ist auf das Heil des Menschen hingeordnet, Gott tut nichts außer mit diesem Ziel.» Und der heilige Thomas Morus tröstete seine Tochter vor seinem Märtyrertod mit den Worten: «Es kann nichts geschehen, was Gott nicht will. Was immer er aber will, so schlimm es auch scheinen mag, es ist für uns dennoch wahrhaft das Beste» (vgl. Katechismus 313). Der heilige Franz von Sales schrieb an eine von Prüfungen heimgesuchte Frau: «Sie müssen sich mit einer völligen Selbsthingabe in die Arme der Vorsehung stürzen, denn jetzt ist die dafür angebrachte Zeit. Sich inmitten der Milde und des Friedens persönlichen Wohlergehens Gott anzuvertrauen, das kann fast jeder; sich aber inmitten der Stürme und Gewitter auf Ihn zu verlassen, ist eine Eigenheit seiner Kinder; ich sage, mit ganzer Hingabe sich Ihm anvertrauen.»
Das Vertrauen Marguerite d'Youvilles sollte noch erstaunliche Früchte tragen. Weniger als einen Monat nach dem Feuer hatte der Wiederaufbau des Hospitals bereits begonnen. 1769, vier Jahre später, stand alles wieder an seinem Platz, und Mutter Marguerite war schuldenfrei. Auf das Unglück waren mehrere Wunder gefolgt, so die Vermehrung von benötigtem Wein in einem unter den Trümmern gefundenen Fass und das unerklärliche Auftauchen von Geldstücken in den Taschen der Gründerin, alles tröstliche Antworten der Vorsehung auf deren Unterwerfung und vollkommenes Vertrauen. Stets in der Sorge um die Armen und um ihnen Geldquellen zu erschließen, erwarb Marguerite ein großes Gut und baute darauf eine Wassermühle; um sie zu betreiben, ließ sie in den Stromschnellen einen drei Meter hohen Damm sowie einen Kanal errichten. In einer schwierigen Stunde der Geschichte Kanadas, als andere ihren Mut und Glauben verloren und sich der Verzweiflung überließen, führte diese Gründerin durch ihre Werke die unerschöpflichen Reserven christlicher Kraft vor.
Kurz davor, an allem Mangel zu leiden
Am Ende ihres Lebens sagte Mutter Marguerite zu ihren Töchtern: «Meine lieben Schwestern, bleibt dem Stand, den ihr gewählt habt, immer treu; wandelt stets auf dem Pfad der Beachtung der Regeln, des Gehorsams und der Kasteiung; vor allem aber sorgt dafür, dass unter euch die vollkommenste Einheit herrsche.»
Am 9. Dezember 1771 erlitt sie einen Schlaganfall. Sie starb am 23. Dezember im Alter von siebzig Jahren. Mehrere glaubwürdige Personen bezeugten, dass in dem Moment, in dem sich ihre Seele von ihrem Leib löste, um in den Himmel einzugehen, über dem Hospital ein helles Licht in der Form eines Kreuzes aufleuchtete. Als eine gelehrte und berühmte Persönlichkeit das sah, ohne über den Tod der Gründerin informiert zu sein, rief sie: «Ach! Welches Kreuz wird über die armen Grauen Schwestern kommen? Was wird ihnen geschehen?»
Verwurzelt im Kreuz
Wir glauben fest daran, dass Gott der Herr der Welt und der Geschichte ist. Im ewigen Leben werden wir die wunderbaren Wege der Vorsehung voll und ganz erkennen können. Hier auf Erden bleiben uns diese Wege oft unbekannt, doch das Wort Gottes versichert uns, dass denen, die Gott lieben, alles mitwirkt zum Guten (Röm 8,28). Diese Gewissheit möge unseren Gang zum Himmel unter dem Schutz der Allerseligsten Jungfrau Maria, der Mutter der Immerwährenden Hilfe, erleuchten!
Die Mönche der Abtei St. Joseph wünschen Ihnen von Herzen gesegnete Weihnachtsfeste sowie ein gutes Jahr 2002. Sie versichern Sie Ihres Gebets für all Ihre Anliegen.