Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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20. August 2009
Hl. Bernhard v. Clairvaux


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Was braucht unsere geliebte und heilige Kirche vor allem und mehr als alles andere?«, fragte Papst Paul VI. „Sie braucht den Heiligen Geist, der sie beseelt und heiligt ... Sie braucht den Heiligen Geist in uns, in jedem Einzelnen von uns« (29. November 1972). Der Heilige Geist lenkt uns in unserem geistlichen Leben. Manchmal lässt er uns eigenverantwortlich handeln; wie sind dann wie ein Ruderboot: Wir werden zwar vom Heiligen Geist zum Handeln bewegt, doch wir behalten die Kontrolle über unser Leben, wir lenken es selbst. Bei anderen Gelegenheiten lenkt Er uns durch seine Eingebungen, die seinen „Gaben« entsprechen; wir sind dann wie ein Segelboot: Mit Rückenwind kommen wir schneller und müheloser vorwärts. Wir brauchen dem Werk des Heiligen Geistes nur zuzustimmen, und es wird wie von selbst vollendet. Besonders bemerkenswert war das Wirken des Heiligen Geistes durch „Gaben« im Leben der von Johannes-Paul II. am 1. November 1987 seliggesprochenen Ulrika Nisch.

Franziska Nisch wurde am 18. September 1882 in Oberdorf bei Biberach/Riss (Würtemberg) unehelich geboren und einen Tag danach getauft. Die tief gläubige Familie litt sehr unter ihrer unehelichen Geburt. Die Mutter und der Vater Franziskas hatten sich in der Herberge kennengelernt, in der beide arbeiteten. Da sie sehr arm waren, widersetzten sich ihre Eltern einer Heirat. Die jungen Leute hofften, durch die Geburt eines Kindes den ersehnten elterlichen Segen zu bekommen. Ulrich und Clotilde Nisch konnten erst ein Jahr nach der Geburt der kleinen Franziska heiraten. Sie ließen sich in Unterstadion, einem kleinen Dorf an der Donau, nieder und bekamen noch 13 weitere Kinder. Bald nach ihrer Geburt wurde Franziska ihrer Großmutter und ihrer Patentante Gertrud anvertraut, die sie liebevoll und christlich erzogen. Mit sechs Jahren kehrte sie zu ihren Eltern zurück, doch es fiel ihr überaus schwer, sich in die Familie einzufügen. Herr Nisch war streng und legte seiner Ältesten gegenüber mitunter große Härte an den Tag. Da diese bereits damals ihre Kraft aus dem Gebet schöpfte, blieb sie dennoch stets pflichtbewusst, respektvoll und höflich zu ihren Eltern. Ein besonderer Anziehungspunkt waren für sie der Tabernakel und das Bild Unserer Lieben Frau in der nahegelegenen Kapelle.

In der Grundschule erzielte Franziska durchschnittliche Leistungen; nur beim Katechismus zeigte sie großen Eifer. Nach der Schule trug sie, so gut sie konnte, zum Unterhalt der Familie bei. „Franziska war richtig gutmütig«, sagte eine ihrer Freundinnen, „Sie war ruhig und ein bisschen unbeholfen ... Sie dachte nie an sich und fiel durch nichts weiter auf.« Nach fünf Jahren Schule kehrte das junge Mädchen zu seiner Tante Gertrud zurück, um in deren Gasthaus als Küchenhilfe zu arbeiten und die drei Söhne der Familie zu versorgen.

Die Gaben des Heiligen Geistes

Am 21. April 1895 empfing Franziska die Erstkom–munion und wurde noch im gleichen Jahr gefirmt. Von da an konnten sich die Gaben des Heiligen Geistes, die sie zusammen mit der heiligenden Gnade und den ihr gewährten Tugenden bereits bei der Taufe empfangen hatte, in ihrem Inneren mit voller Kraft entfalten. Diese Gaben wirken gleichsam als „Empfänger« für die Eingebungen des Heiligen Geistes - wie Segel, die den Wind einfangen und das Schiff vorwärts bewegen. Sie befähigen die Seele, beharrlich, mühelos und freudig die vollkommensten Werke christlichen Lebens zu vollbringen, trotz aller notwendigen Opfer und Schwierigkeiten. Diese Gaben sind keine außergewöhnlichen Phäno–mene; sie helfen uns bei allen Handlungen unseres Lebens, im Kleinen wie in Großen.

1898 zog Franziska nach Sauggart zu einem Onkel, der dort ein Lebensmittelgeschäft betrieb. Sie wurde nun für ihre Arbeit entlohnt und konnte ihre Eltern finanziell unterstützen. Doch sie war völlig überfordert und wurde dabei Tag für Tag grundlos kritisiert und beschimpft. Nach einem Jahr nahm sie eine Stelle in einer Konditorei in Biberach an. Als ihr dann zu Ohren kam, dass deutsche Kräfte in der Schweiz besser bezahlt wurden als in ihrer Heimat, verdingte sie sich im Oktober 1901 bei einer Schweizer Familie in Rorschach (Kanton St. Gallen) als Hausan––gestellte und Kindermädchen.

1904 bekam Franziska eine lebensgefährliche Gesichtswundrose und lernte im Krankenhaus die Ingenbohler Schwestern kennen. Ursprünglich war die Kongregation der Kreuzschwestern 1844 vom Kapuzinerpater Theodosius Florentini in der Schweiz gegründet worden und widmete sich dem Unterricht sowie der Armenfürsorge. Aus ihr ging 1856 unter Mutter Therese Scherer (1995 seliggesprochen) ein neuer, der Krankenpflege geweihter Zweig hervor: Diese zunächst in Ingenbohl ansässigen „Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz« breiteten sich bald in andere Länder aus. Der Geist der Aufopferung, des Gebets und der Hingabe an Gott bei diesen Schwestern beeindruckte Franziska so sehr, dass sie beschloss, Nonne zu werden. Oktober 1904 trat sie in das Kloster der Kreuzschwestern in Hegne am deutschen Bodensee ein. Sie wurde dem Küchendienst zugeteilt. Die Arbeit war anstrengend und mit Opfern verbunden: Franziska musste unter der Woche oft auf die Messe, die Kommunion, das gemeinsame Gebet und ihre Freizeit verzichten. Für die zweite Hälfte ihres Postulats wurde sie in ein anderes Haus nach Zell-Weierbach versetzt. Dort lebten nur drei Schwestern, und die alte, kranke Oberin brauchte dringend Unterstützung. Franziska übernahm die Küche, kümmerte sich um das Haus und widmete sich auch der Krankenpflege. Ihre Frömmigkeit wurde immer intensiver.

Der liebe Name des Vaters

Franziska wurde von der Gabe der Frömmigkeit gestützt: Diese hilft uns, im Innersten unserer Seele den lieben Namen des himmlischen Vaters mit einem Anklang an den Tonfall Jesu auszusprechen. Das Gefühl der Vaterschaft Gottes lässt uns in unserem Nächsten ein Kind desselben Vaters erkennen: Wir begegnen ihm daher mit der gleichen Milde, mit der gleichen Liebe wie dem Vater. Das Bewusstsein ihrer Kindschaft befreite Franziska von jeder Angst, von jedem Argwohn gegen Gott und seine Vorsehung. Zudem lernte sie vom Heiligen Geist, die Arbeit zum Gebet zu machen. Dabei geht es nicht darum, mit aller Kraft immer an Gott zu denken oder auch nur so zu tun, sondern einfach darum, Gottes Gegenwart stets ohne Zwang bewusst zu sein. Die Gabe der Frömmigkeit verhalf Franziska zu der Gewissheit, dass Christus ihr Bräutigam war; sie fühlte sich mit dem Heiligen Geist besonders innig verbunden, verehrte aber auch die Seligste Jungfrau Maria, den heiligen Josef, den heiligen Franziskus von Assisi sowie ihren Schutzengel sehr. Bereits seit ihrer Kindheit war ihr im Übrigen ein besonderes Vorrecht zuteil geworden: Sie konnte ihren Schutzengel sehen. Treuherzig, wie sie war, glaubte sie, dass das bei jedermann so sei. Als sie ihren Irrtum bemerkte, war sie zunächst mehrere Tage lang ganz verunsichert.

Für ihr Noviziat kehrte Franziska nach Hegne zurück und wurde am 24. April 1905 unter dem Namen „Schwester Ulrika« eingekleidet. Bereits am folgenden Tag trat sie ihren Dienst in der Küche wieder an. Es war nicht das, was sie sich erträumt hatte, doch sie konnte sich mit der Situation abfinden. Auf die Frage „Wie können sie nur die Hitze des Ofens ertragen, die Demütigungen aushalten und dabei so tüchtig arbeiten?« pflegte sie zu antworten: „Aus Liebe zum Heiland; für den Heiland kann man alles.« Schwester Ulrika war bisweilen so zerstreut, dass ihr von Zeit zu Zeit ein Missgriff unterlief. Einmal versprach sie einer Novizin, an ihrer Stelle den Ofen zu befeuern, warf die Kohle aber dann nicht ins Feuer, sondern in den Aschekasten. Sie wurde dafür streng getadelt, doch sie nahm das ganz ruhig hin. „Sie lässt sich wenigstens was sagen«, bemerkte Schwester Adama, die Leiterin der Küche, „und regt sich nicht darüber auf.«

Die Wohltaten des Gemeinschaftslebens

Schwester Ulrika legte ihre Ordensprofess am 24. April 1907 ab. Vom Heiligen Geist geleitet, führte sie ihr Leben innerhalb der Gemeinschaft demütig fort. Das Gemeinschaftsleben schützt vor den Gefahren einer trügerischen Askese und einer falschen Frömmigkeit; Schwester Ulrikas Seele, die zu einem mystischen Leben erhoben worden war, wo sie sich in Egozentrik zu verlieren drohte, hatte diese Sicherung besonders nötig. Das ehrlich gelebte Gemein–schaftsleben verhindert nämlich, dass man sich abkapselt: Die Tatsache, dass man sich von morgens bis abends an eine feste Ordnung hält, sich selbst und seine Wünsche zurücknimmt, den Ansichten, Wünschen und Interessen des Nächsten mit rücksichtsvoller Aufmerksamkeit begegnet, lässt die Liebe wachsen; diese Liebe übt, wie der Apostel Paulus sagt, Nachsicht und handelt in Güte; sie macht sich nicht groß, sie bläht sich nicht auf. Sie benimmt sich nicht ungehörig; sie sucht nicht das Ihre; sie lässt sich nicht erbittern; sie rechnet das Böse nicht an (1 Kor 13,4-5). Schwester Ulrika, die eifrig am Gebet, an der Tafel und an der Freizeit der Gemeinschaft teilnahm, wenn ihre Pflichten sie nicht in der Küche festhielten, war sehr gesellig und lachte gern mit den anderen. Innerlich neigte sie allerdings eher zur Besinnlichkeit: „Ja«, schrieb sie in ihren persönlichen Aufzeichnungen, „ich habe sogar Mühe damit, das Brevier zu beten. Es drängt mich dabei immer zur Besinnung.« Sie ließ sich von der Gabe der Weisheit leiten, die die Seele erleuchtet und die sie die unendliche Vollkommenheit der göttlichen Dinge erkennen ließ: das Leben der Dreifaltigkeit, die Barmherzigkeit, die Gerechtigkeit, die Ewigkeit, die Einfachheit usw.

Gleich nach ihrer Profess kam Schwester Ulrika nach Bühl, wo sie in der Krankenhausküche eingesetzt wurde. Die Schwestern dort hatten ständig Ärger mit einem störrischen, widerspenstigen, aber auch gewiss überlasteten Küchenmädchen. Ganz unerwartet gelang es Schwester Ulrika, mit diesem Mädchen friedlich zusammenzuarbeiten, denn sie konnte je nachdem entweder nachgeben oder schwierigen Situationen zuvorkommen: eine große Erleichterung für die Oberin. Da Schwester Ulrika die Gabe des Rates besaß, wusste sie stets mit erstaunlicher Sicherheit günstige Gelegen–heiten zu nutzen, das richtige Wort zu finden und das Notwendige zu tun. Der Rat ergänzt die Tugend der Klugheit und befähigt den Menschen, klar zu erkennen, was für ihn selbst bzw. für die anderen gut ist; er lässt die Tugend der Klugheit selbst im Alltäglichen sofort wirksam werden.

Als Schwester Ulrika einmal gefragt wurde, worüber sie nachsinne, antwortete sie: „Die Eigenschaften Gottes. Und am liebsten betrachte ich die Einfachheit Gottes.« Die Gabe der Einsicht, die den Glauben ergänzt, erschloss ihr weitgehend sowohl das Mysterium Gottes als auch den verborgenen Sinn der Schrift. Insbesondere erkannte sie den tieferen Sinn des heiligen Messopfers: Es war für sie „die größte Danksagung, das höchste und mächtigste Anbetungsopfer, die größte Freude und das höchste Glück«. Sie „sprach in so erhabenen Worten von den Eigenschaften Gottes«, berichtete eine ihrer Mitschwestern, „dass ich sie mit meinem schwachen menschlichen Verstand gar nicht verstehen konnte, und ich fragte mich verwundert: Woher hatte diese einfache Schwester ein so großes Wissen?«

Eine erstaunliche Gelassenheit

Im Oktober 1908 wurde Schwester Ulrika nach Baden-Baden in das St.-Vinzenz-Haus versetzt, dessen Leitung bald eine Schwester namens Bonaventura übernahm. Die neue Oberin war fähig, energisch und peinlich genau. Je besser sie die junge Küchenschwester kennenlernte, desto mehr war sie von deren außer–ordentlicher Tugendhaftigkeit angetan. Schwester Ulrika arbeitete unter der Aufsicht einer Mitschwester, die sich häufig unbeherrscht und barsch benahm. Eines Tages geriet sie so außer sich, dass sie Schwester Ulrika hart demütigte. Diese blieb still, doch sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie stahl sich unauffällig davon und lief in die Kapelle, kehrte jedoch schon bald mit einem ruhigen, lächelnden Gesicht wieder, obwohl auf ihren Wangen noch Tränen glänzten. Eine zufällige Zeugin des Zwischenfalls berichtete: „Am liebsten hätte ich Schwester Ulrika ausgeschimpft, weil sie sich so behandeln ließ, ohne sich zu wehren.« Die Oberin sagte nachträglich: „Wären Schwester Ulrika vorher nicht ganz besondere Gnaden zuteil geworden, hätte sie die schweren Prüfungen nicht so gelassen ertragen können.« In diesem Fall war die Gabe der Stärke in ihr am Wirken. Diese hilft uns, allen Schwierigkeiten und Hindernissen auf unserem Wege zum Trotz, Werke des christlichen Lebens zu vollbringen. Sie wappnet unsere Seele gegen zügellose Regungen, Leiden–schaften, Wankelmut und Launen und schenkt ihr Selbstbeher–rschung sowie Beharrlichkeit im Streben nach dem Guten. Ohne diese Gabe ist man weder einer schwierigen Aufgabe noch einem vollkommen christlichen Leben gewachsen, und man wird seine Zeit, seine Gesundheit und sein Leben nie für seine - wie auch immer geartete – Berufung opfern können. Die Gabe der Stärke kann dem Menschen eine Kraft und eine Beharrlichkeit verleihen, die seine Möglichkeiten bei Weitem übersteigen - etwa bei den Märtyrern.

Als Schwester Ulrika einmal an einer eitrigen Kiefernhöhlenentzündung erkrankte, ließ sie die notwendig gewordene Operation mutig über sich ergehen und ging danach ruhig wieder an ihre Arbeit. Sie war überzeugt, dass man nie im Stich gelassen wird, wenn man auf Gott und seine Hilfe vertraut. „Misstrauen gegen sich und Vertrauen zu Gott, das ist das Beste überhaupt«, sagte sie. Dank ihrer Kontemplation kannte sie den Wert der Demut und der Demütigung genau. Sie wusste, dass die vielen Anlässe, getadelt bzw. ausgeschimpft zu werden, ihre tiefste Daseins–berechtigung darin haben, dass Gott sie zulässt; in erster Linie sind sie ein Weg zu einer engeren Vereinigung mit Jesus, dem selbst oft mit Verachtung begegnet wurde.

Kleine Aufmerksamkeiten

Mit ihrer friedfertigen und fröhlichen Art verbreitete Schwester Ulrika überall gute Laune. Ihre Nächstenliebe kam besonders im Umgang mit einer unglücklichen Magd namens Gusti zum Tragen. Diese hatte als blutjunges Mädchen in einer Herberge gearbeitet, wo sie an einen Verführer geriet und schwanger wurde. Verlassen, von Angst und Verzweiflung gebeutelt, brachte sie ein Kind zur Welt und warf es in einen Graben. Sie wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, jedoch schon bald wegen guter Führung auf Bewährung entlassen. Die Kreuzschwestern nahmen sie bei sich auf, doch ihre Umgebung hatte stets ein Auge auf sie und hielt sie auf Distanz. Als Schwester Ulrika das sah, begann sie sich besonders intensiv um Gusti zu kümmern. Das war nicht einfach, weil die kleine Magd jedem mit unverhüllter Abneigung begegnete. Schwester Ulrika betete und bot Gott für die Bekehrung ihres Schützlings ihre täglichen Demütigungen und Leiden zum Opfer dar. Durch ihre kleinen Aufmerksamkeiten, ihr freundliches Lächeln und ihre tröstenden Worte wurde Gusti nach und nach immer umgänglicher und behauptete: „Schwester Ulrika hat mir eine neue Seele geschenkt.« Gusti ging später eine glückliche Ehe ein.

Eine ihrer wichtigsten Sorgen formulierte Schwester Ulrika so: „Trotz der vielen Gnadengaben immer noch so viele Schwächen!« Sie meinte damit die Unzulänglichkeiten, die dem Blick der anderen verborgen blieben: Verfehlungen aus Schwäche, aus Vergesslichkeit, aus Eile – alle der menschlichen Anfälligkeit geschuldet. Einem Priester gestand sie: „Die Beziehung zu meinen Mitschwestern wird von Tag zu Tag schwieriger. Ich kann – vor allem morgens – nicht viel ab. Wenn nur niemand etwas sagte ... ich bin oft so missgelaunt!« Sie notierte einmal: „Ich bin gar nicht mit mir zufrieden ... Wie kann ich in diesem Punkt (Naschhaftigkeit) nur so schwach sein!« An eine Schwester wiederum schrieb sie: „Man kann und muss seine Sünden beklagen, aber man darf nicht den Mut verlieren und ängstlich werden. Jeder Fehler soll Sie in Ihrer Demut bestärken und Ihnen nützen, indem er Sie Ihrer eigenen Nichtigkeit bewusst macht.« Schwester Ulrika war ganz durchdrungen von der Gabe der Gottesfurcht, d.h. der Furcht, Gott zu missfallen und seine Liebe zu verlieren. Diese Gabe vermittelt ein intensives Fühlen der Heiligkeit Gottes, das die Seele mit all ihren Fähigkeiten und den Körper mit all seinen Sinnen erfasst und im Menschen Abscheu vor der Sünde erzeugt. Schwester Ulrika bat um Barmherzigkeit für alle Sünder: „O süßes Herz Jesu, errette sie! Lass dein Volk gesunden! Wenn ich ihnen allen nur die Augen öffnen könnte für die Liebe, wenn ich in ihnen nur den brennenden Durst nach Jesus wecken könnte!«

„Wir kehren heim«

1912 kam eine große Schwäche über Schwester Ulrika, und sie musste alle ihre Kräfte mobilisieren, um weiterzuarbeiten. Eine medizinische Untersuchung ergab, dass sie an fortgeschrittener Tuberkulose litt. Die Kranke schien nicht weiter überrascht; als einziger Kommentar sagte sie: „Wir kehren doch heim. Unsere Heimat liegt dort oben und nicht hier unten. Ich sterbe gern.« Ihr Streben nach dem Himmel ließ sie sagen: „Man muss sich um so mehr um das künftige Leben bemühen, als das irdische Leben vergeht, das künftige aber ewig währt.« Durch die Gabe der Erkenntnis erleuchtet, hatte Schwester Ulrika die Kürze und die Kleinheit alles Irdischen erfasst, und wusste, dass dieses das Verlangen unseres Herzens nach dem wahren Glück nicht stillen kann. Sie sah, wie unbeständig alles ist, wonach die Menschen streben: Geld, Ehren, Wissen, sogar die Gesundheit. Dieses Wissen, das den Menschen aus dem übermächtigen Griff des Geschöpflichen befreit, schenkt uns zugleich die Fähigkeit, in den Geschöpfen die Schönheit, die Güte und den Wert zu entdecken, die Gott in sie gelegt hat. Die Gabe der Erkenntnis schärft unseren Blick und zeigt uns in den Geschöpfen das Abbild der Güte, der Weisheit, der Schönheit und der Heiligkeit des Schöpfers; die schwachen Geschöpfe werden so zu einem Mittel, sich zu Gott zu erheben. Das Gebet Schwester Ulrikas erinnerte Schwester Bonaventura an den heiligen Franziskus, der in der ganzen Schöpfung Gott sah.

Schwester Ulrika kam ins Krankenhaus. Auf Mitleidsbekundungen erwiderte sie mit einem Lächeln: „Wenn ich einmal im Paradies bin, bete ich für Sie.« Sie konnte sich über ihren Zustand sogar lustig machen: „Jetzt habe ich es ebenso gut wie die Kurgäste hier: gut essen, spazieren gehen, schlafen!« Im September 1912 wurde sie auf Bitten der Ärzte nach Hegne verlegt. Dort musste sie auf jede geistliche Führung verzichten, was ihr sehr schwer fiel. „Ich habe niemanden, mit dem ich über mein Inneres sprechen könnte«, schrieb sie an Schwester Bonaventura. „Jetzt habe ich keinen Trost mehr, weder göttlichen noch menschlichen Trost, und das ist manchmal sehr hart.« Zudem litt sie manchmal unter der Vorstellung, dass alle ihre Erlebnisse mit dem Herrn nur eine vom Feind ins Werk gesetzte Einbildung gewesen seien.

Ihre letzten Tage verbrachte Schwester Ulrika in ununterbrochenem Gebet. Sie legte den Rosenkranz nie aus der Hand. Wurde sie von Husten geschüttelt, sagte sie: „Alles für meinen geliebten Herrn!« Am 8. Mai 1913 trat eine Krankenschwester an ihr Bett, um zu sehen, ob sie etwas brauchte; da bekam im Nachbarzimmer eine andere Kranke einen Hustenanfall. „Gehen Sie doch zuerst zu ihr«, murmelte Schwester Ulrika. Als die Krankenschwester zurückkam, war sie tot.

„Die Lehre von den Gaben des Heiligen Geistes«, sagte Papst Johannes-Paul II., „bleibt eine sehr nützliche Schule des geistlichen Lebens, denn sie leitet uns zu einem ständigen Dialog mit dem Heiligen Geist an, zu einer vertrauensvollen und liebenden Hingabe an seine Führung ... Deswegen ist es von grundlegender Bedeutung, dass wir in Einklang mit Ihm leben« (3. April 1991). Bitten wir die selige Ulrika Nisch, sie möge uns dazu verhelfen, dass wir dem Wirken des Heiligen Geistes in unserem Leben willig folgen. Möge Maria, die Königin aller Heiligen, die Mutter und Zuflucht aller Sünder, diese Gnade für uns erwirken!

Dom Antoine Marie osb

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