Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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18. Mai 2022
hl. Johannes I., Märtyrer


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

In Pater Cormier entfaltet der vom Glauben erleuchtete menschliche Verstand eine Wirkung, die die Kirche anerkennen und würdigen möchte“, sagte der hl. Johannes Paul II. „Denn der Begründer der römischen Universität Angelicum erinnert uns daran, dass Gott uns auffordert, die Fähigkeiten unseres Geistes, der ein Abbild seines Geistes ist, zu nutzen, um ihm die Ehre zu erweisen. Pater Cormier, ein nach Wahrheit dürstender Mann, wusste sich als Prior, Provinzial und Ordensmeister des Dominikanerordens in Respekt vor dessen jahrhundertealten Traditionen seinen Mitbrüdern zu widmen. Er leitete die Söhne des hl. Dominikus mit Weisheit und Sachverstand und führte sie zu Gott, um sie zu wahren Kindern Gottes und zu wahren Zeugen seines Reiches zu machen“ (Predigt der Seligsprechungsmesse, 20. November 1994).

Henri Cormier wurde am 8. Dezember 1832, dem Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, in Orléans in Frankreich geboren und blieb stets ein großer Verehrer der Gottesmutter. Sein Vater besaß einen Lebensmittelladen und war nebenbei ein großer Musikliebhaber, der seine Liebe zur Kunst an seine beiden Söhne vererbte ; er starb wenige Jahre nach Henris Geburt. Henris Mutter Félicité musste fortan allein für die Erziehung der beiden Kinder sorgen. Henri liebte es, zu beten, insbesondere den Rosenkranz, und als Ministrant zu dienen. Besonders bewegend war für ihn das Erlebnis seiner Erstkommunion. In der Schule war er erfolgreich, aber eher faul. Nach seinem Eintritt in der bischöflichen Schule von Chapelle-Saint-Mesmin in der Nähe von Orléans 1846 probierte er erst einmal alle Musikinstrumente durch und entschied sich schließlich für die Orgel. Er hatte eine wunderbare Singstimme, widmete sich aber auch der Malerei sowie der Schriftstellerei und erhielt von der Akademie von Orléans sogar einen Literaturpreis.

Zu lange undankbar

Henris älterer Bruder Eugène starb 1847 als Seminarist. Henri erfasste nun ernsthafter den Sinn des Lebens und des Todes in Bezug auf die Ewigkeit. Aufgrund seiner Empfindsamkeit hatte er zwar des öfteren zu leiden, doch sein Schönheitssinn lenkte seine Aufmerksamkeit vor allem auf den Glanz des ewigen Lebens. Frau Cormier legte jede Woche den 10 km langen Weg von ihrem Haus zum Knabenseminar zurück, um sich nach Henris Gesundheit und seiner Arbeit zu erkundigen. Nach der Abschlussprüfung wechselte Henri auf das Priester-seminar von Orléans, wo er eine tiefe Liebe zur Disziplin entwickelte. In seinen Exerzitiennotizen aus dem ersten Jahr steht : „Ich bin durchdrungen von dem Bedürfnis, mich voll und ganz Gott zu weihen. Ich war viel zu lange undankbar.“ Das Studium der Philosophie und später der Theologie machte ihm viel Freude, doch die Frömmigkeit blieb für ihn stets vorrangig. Da er den Wunsch nach Verkündigung des Evangeliums und die Liebe zum Rosenkranz, den er täglich betete, mit den Dominikanern teilte, trat er dem Dritten Orden des hl. Dominikus bei. Um im Dienste des armen Christus selbst ärmlicher zu leben, verzichtete er auf manchen Komfort des Hauses.

„Die Geschichte des Rosenkranzes zeigt uns, wie gerade dieses Gebet in schwierigen Zeiten besonders von den Dominikanern benutzt wurde, um die Kirche vor den sich verbreitenden Häresien zu schützen“, schrieb der hl. Johannes Paul II. „Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen. Warum nehmen wir den Rosenkranz nicht mit dem Glauben unserer Vorfahren in die Hände ? Der Rosenkranz bewahrt seine ganze Kraft und bleibt ein nicht zu vernachlässigender Schatz für die pastorale Ausrüstung jeder guten Glaubensverkündigung“ (Apostolisches Schreiben Rosarium Virginis Mariæ, 16. Oktober 2002, Nr. 17).

Auf Einladung des neuen Bischofs von Orléans, Msgr. Dupanloup, verwendete der junge Seminarist viel Zeit und Energie auf die Vermittlung der christlichen Lehre sowie des Katechismus.

Das Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche erinnert an die Wichtigkeit der Katechese : Die gläubigen Laien nehmen am Prophetenamt Christi teil, „indem sie das Wort Christi immer mehr im Glauben aufnehmen und der Welt durch das Zeugnis ihres Lebens, das Wort, die Evangelisation und die Katechese verkünden. Diese Evangelisation erhält eine besondere Wirksamkeit von daher, dass sie in den gewöhnlichen Verhältnissen der Welt erfüllt wird“ (Nr. 190).

In den Ferien erholte sich Henri im Kreise seiner Familie, doch er verlor dabei weder die Frömmigkeit noch das Studium aus den Augen. Kurz nachdem er die ersten niederen Weihen empfangen hatte, legte er ein Keuschheitsgelübde ab und beschloss, demütiger zu werden : „Ich werde mir mehr misstrauen und nur auf Gott vertrauen. Was ich erstrebe, ist, ein Mann des Gebets zu werden.“

Keine Berufung

Da Henri sich von der Person des hl. Dominikus angezogen fühlte, suchte er P. Lacordaire, den Erneuerer des Dominikanerordens in Frankreich, auf. Doch die Begegnung ging eher entmutigend für ihn aus. „Keine Berufung bzw. keine reife Berufung“, hatte ihm der Pater attestiert. Ein anderer Ordensbruder urteilte jedoch anders und rief in Henri erneut den Wunsch nach dem Ordensleben wach. Am 17. Mai 1856 wurde er mit einem Altersdispens von Bischof Dupanloup zunächst zum Priester der Diözese Orléans geweiht. Gleichwohl war er nach wie vor entschlossen, in den Predigerorden einzutreten. Unterstützt vom Seminardirektor erhielt er die Erlaubnis, die Diözese zu verlassen.

Der vom hl. Dominikus Anfang des 13. Jh. gegründete Predigerorden erlebte zunächst einen raschen Aufschwung ; er wurde jedoch dann durch die Revolution von 1789 aus Frankreich vertrieben. 1839 trat der französische Priester Henri Lacordaire (1802-1861) in das römische Noviziat des Ordens ein ; er nahm 1843 die erste Neugründung eines Dominikanerklosters in Nancy vor – gegen den Widerstand der Zivilbehörden sowie einiger Teile des französischen Episkopats. 1850 wurde die französische Provinz des Ordens wieder errichtet.

Bei seinem Eintritt in das Noviziat der Dominikaner in Flavigny-sur-Ozerain wurde P. Cormier eingekleidet und erhielt den Namen Bruder Hyacinthe, dem er später den Zusatz Maria anfügte. Aufgrund seiner Sanftmut war er allseits beliebt und sagte später über diese glückliche Zeit : „Ich litt nur darunter, dass ich nicht litt.“ Von verschiedenen aufeinanderfolgenden Novizenmeistern angeleitet, erarbeitete er sich einen soliden dominikanischen Geist. Wenn er in seiner Freizeit nicht den Rosenkranz betete, las er entweder in der Regel (des hl. Augustinus) oder in den Konstitutionen des Ordens. Das Gehorsamsgebot beachtete er buchstabengetreu und suchte vor allem nach dessen Geist : „Wir müssen Gott um den Geist bitten, der uns von innen belebt.“

„Das Leben im Geist hat seinen selbstverständlichen Vorrang“, mahnte der hl. Johannes Paul II. „In ihm findet die Person des geweihten Lebens wieder ihre Identität und eine tiefe heitere Ruhe, wächst in der Aufmerksamkeit auf die täglichen Herausforderungen des Gotteswortes und lässt sich von der ursprünglichen Inspiration seines Instituts leiten. Unter dem Wirken des Heiligen Geistes werden die Zeiten des Gebetes, der Stille und der Einsamkeit fest verteidigt, und die Gabe der Weisheit wird inständig vom Himmel in der Mühsal des Alltags erfleht“ (Apostolisches Schreiben Vita consecrata, 25. März 1996, Nr. 71).

Doch der junge Mönch litt unter Bluthusten, und die Krankheit stellte seine Berufung in Frage. Seine Vorgesetzten bezweifelten, dass er seine Gelübde als Dominikaner ablegen könne. Diese Prüfung wurde dadurch weiter erschwert, dass seine Mutter ihn dazu drängte, den Orden zu verlassen und wieder als Diözesanpriester zu wirken. Doch der Novize hielt trotz allem an seinem Gottvertrauen fest und betete zu Maria um ihre Fürsprache : „Hingabe an die Heilige Jungfrau ; ihr meine Gesundheit anvertrauen. Sie hat auf die Gesundheit Jesu Christi geachtet, wie wird auch auf meine achten. Ja, Herr, mach mit mir, was Du willst.“ P. Hyacinthe durfte schließlich am 29. Juni 1857 seine Profess für zwei Jahre ablegen.

Ein freundliches und starkes Innenleben

Bei einem kurzen Besuch in Flavigny war der damalige Ordensmeister der Dominikaner, P. Jandel, so beeindruckt von P. Cormiers Frömmigkeit und vom überaus positiven Bericht des Novizenmeisters über ihn, dass er beschloss, ihn als seinen Sekretär nach Rom mitzunehmen. Der Ordensmeister hatte eine Rückkehr zur ursprünglichen Disziplin des Ordens mit ihren langen Gebets- und Gemeinschaftszeiten vor. In dieser Hinsicht war er anderer Meinung als P. Lacordaire, der vor allem das Studium und das Apostolat der Ordensbrüder fördern wollte. Um sein Ziel zu erreichen, versuchte P. Jandel, eine Synthese der einzelnen Konstitutionen herzustellen, deren Vorschriften zum Teil nicht mehr umsetzbar waren. P. Hyacinthe hatte die Aufgabe, die alten Dokumente des Ordens zu durchforsten, um das Wesentliche der einzelnen Observanzen herauszuarbeiten ; er erwarb sich dadurch profunde Kenntnisse der dominikanischen Spiritualität. Seinen Mitbrüdern wünschte er „ein erleuchtetes, freundliches und starkes Innenleben. Dieses Leben muss auf unseren Observanzen gründen, die Gott in seiner Weisheit eigens zu diesem Zweck entworfen hat.“

Am Ende der zwei Jahre, für die P. Hyacinthe seine zeitlichen Gelübde abgelegt hatte, lebte seine Krankheit wieder auf, so dass die Möglichkeit der ewigen Profess in weite Ferne rückte. Gleichzeitig versuchte seine Mutter noch einmal, ihm das Ordensleben auszureden ; doch angesichts seiner Entschlossenheit akzeptierte sie schließlich seine Berufung. Auf P. Jandels Fürsprache hin erhielt P. Hyacinthe vom seligen Papst Pius IX. die Erlaubnis, seine ewigen Gelübde abzulegen. Die Feier fand am 23. Mai 1859 in der Dominikanerkirche Santa Sabina in Rom statt. Zur allgemeinen Verwunderung erholte sich der Pater danach allmählich, obwohl er zuvor bereits an der Schwelle des Todes zu stehen schien. Nach einer Zeit der Ruhe wurde er zum stellvertretenden Novizenmeister ernannt.

Zwei Jahre später reiste P. Hyacinthe nach Korsika, wo er im neuen Noviziat von Corbara Novizenmeister wurde. Sein Verhältnis zum Prior des Hauses wurde dadurch getrübt, dass dieser keine auf Geduld und Observanz der Regel basierte Ausbildung befürwortete, sondern unmittelbare Ergebnisse sehen wollte. Schließlich bot P. Hyacinthe dem Ordensmeister seinen Rücktritt an, den dieser jedoch nicht annahm, sondern ihm vielmehr Zuspruch spendete : „Verlieren Sie nicht den Mut inmitten all dieser Stürme, bewahren Sie Ihren Frieden und Ihr Gottvertrauen. Bleiben Sie vereint mit unserem Herrn Jesus. Solche Momente der Prüfung sind Vorboten des Trostes.“ 1863 wurde P. Hyacinthe Prior des Hauses von Corbara, das nachhaltig von seinem Einfluss geprägt blieb. Er notierte in seinem Tagebuch : „Möge der exzellente Ruf der Brüder auf der Armut und der Kasteiung des klösterlichen Lebens sowie auf der praktizierten Nächstenliebe zu allen beruhen !“ 1865 wurde P. Cormier zum Provinzial der Provinz Toulouse, der erst vor Kurzem restaurierten Wiege des Ordens, ernannt ; er übte dieses Amt bis 1874 aus ; von 1874 bis 1891 war er an verschiedenen Orten als Konventualprior und Provinzial tätig.

Den guten Geist fördern

1891 fand in Lyon ein Generalkapitel statt : P. Hyacinthe wurde zum Definitor des Ordens (zum Vertreter seiner Provinz im Generalkapitel sowie in Rom) gewählt. Der neue Ordensmeister, P. Frühwirth, rief ihn an seine Seite. Die beiden grundverschiedenen Temperamente prallten zwar mitunter aufeinander, doch P. Hyacinthe stellte seinen Glaubensgeist in vielen Alltagssituationen unter Beweis. „Ein Tag ohne Opfer ist wie ein Land ohne Kirche“, sagte er. „Alles darin ist materiell und traurig.“ Bald vertraute man ihm das Amt des Prokurators an, wodurch er zum zweitwichtigsten Mann innerhalb des Ordens wurde : Der Prokurator vertritt die Anliegen des Ordens bei den kirchlichen und zivilen Behörden. P. Hyacinthe war auch als Berater in verschiedenen Kurienkongregationen tätig und wurde von den Päpsten Leo XIII. und Pius X. mit mehreren heiklen Missionen betraut. In all diesen Funktionen war er stets auf der Suche nach geistlichen Wirklichkeiten : „Es stimmt, dass ich bei meiner Tätigkeit Mittel finden kann, den guten Geist zu fördern.“ 1899 wollte ihn Papst Leo XIII. zum Kardinal ernennen, doch die Feindseligkeit der französischen Regierung Ordensleuten gegenüber zwang ihn zum Verzicht.

Am 21. Mai 1904 wurde P. Hyacinthe bei einem Generalkapitel zum Ordensmeister gewählt. Trotz seines Alters von 72 Jahren nahm er die Wahl an und übte das Amt bis 1916 aus. Der heilige Papst Pius X. äußerte sich zufrieden über seine Wahl : „Das ist ein Heiliger. Ich freue mich sehr !“ Der neue Generalobere nahm sich vor, ein intensives spirituelles Leben in den Klöstern zu fördern, dessen Grundlage in erster Linie die Befolgung der Regel sowie der Konstitutionen sollte. In seinem ersten Rundbrief legte er seine Ansichten dar : „Wir wollen im ganzen Orden, denselben Geist des Gebetes, der Demut, des Gehorsams, der Armut, der Entsagung, der Pietät gegenüber dem Nächsten sowie des Glaubenseifers wieder zum Aufblühen bringen, von dem auch unser heiliger Vater Dominikus beseelt war.“ In diesem Geist unternahm der Pater trotz seines hohen Alters eine Visitation sämtlicher Klöster des Ordens, obwohl die staatliche Kirchenfeindlichkeit die Lebensbedingungen der Mönche sehr erschwerte. 1903 wurden die französischen Dominikaner sogar aus ihren Klöstern vertrieben und mussten in anderen Ländern Zuflucht suchen.

„Sie müssen gehorchen !“

P. Hyacinthes Gesundheit blieb stets labil ; gleich-wohl schrieb er einmal : „Gott sei Dank, ist meine Gesundheit recht gut. Wenn ich meine Gewohnheiten und meine Diät befolge, kann ich den ganzen Tag arbeiten.“ Er war bemüht, sich seine gelegentliche Ermüdung nicht anmerken zu lassen ; auf Reisen wies er jeden Komfort zurück, obwohl seine Begleiter ihn beschworen, sich zu schonen. Am Ende einer Privataudienz sagte Papst Pius X. einmal zu Bruder Damiano, dem Assistenten P. Hyacinthes : „Sie müssen ihn pflegen. Wenn Sie ihn nicht gut pflegen, werde ich Sie exkommunizieren ! Sehen Sie nur, wie mager dieser arme alte Mann ist.“ Dann wandte er sich an P. Hyacinthe : „Sie müssen Bruder Damiano gehorchen !“ Aufgrund seiner Schwäche und seiner Demut wollte P. Hyacinthe gern zurücktreten, doch sowohl sein Umfeld als auch der Papst waren dagegen.

P. Cormiers Generalat fiel in die schwierige Zeit des Modernismus. Er musste seine Ordensbrüder, insbesondere P. Lagrange, gegen den Vorwurf der Untreue gegenüber der katholischen Lehre in ihrer Exegese verteidigen und zugleich einen mäßigenden Einfluss auf sie ausüben. Er wünschte, dass „der Orden seiner Tradition der eifrigen Wahrheitssuche in striktem Gehorsam dem Heiligen Stuhl gegenüber treu bleibe.“ Er verkündete eine neue ratio studiorum (Studienordnung) für den Orden und spielte eine wichtige Rolle beim Umbau des sogenannten Angelicum in Rom, einer nach dem hl. Thomas von Aquin benannten Hochschule. Den Wünschen von Papst Leo XIII. folgend, förderte er insbesondere die Treue zur thomistischen Philosophie und Theologie und gab seinen eigenen Wahlspruch als Ordensmeister, Caritas veritatis (Liebe zur Wahrheit), an das Angelicum weiter. Er beteiligte sich auch an der Gründung der Universitäten von Fribourg, Jerusalem und Leuven. Daneben belebte er den Dritten Orden der Dominikaner neu und restaurierte bzw. gründete weitere Dominikanerprovinzen in aller Welt. Doch die Hauptsorge des Paters galt den Novizen. Die Spannungen zwischen Kirche und Staat, insbesondere in Frankreich und Italien, und dann der Erste Weltkrieg, in dem viele Ordensleute zumeist als Geistliche oder Sanitäter dienten, waren für ihn sehr schmerzhaft. Kurz vor seinem Amtsverzicht hielt er am Grün-donnerstag 1916 in der römischen Universität einen Vortrag über das Leben in Verbundenheit mit Jesus, der als sein geistliches Testament für Dozenten und Studenten betrachtet wurde.

Ein zu starkes Medikament

Da P. Hyacinthe in seiner Güte nicht an die Bosheit glaubte, wurde er oft Opfer seiner edlen Gesinnung. Manch einer fand, dass er in bestimmten Situationen nicht energisch genug durchgriff ; diesen erwiderte er : „Ein zu starkes Medikament könnte nicht das Übel, sondern den Kranken dahinraffen.“ Musste er Strafen verhängen, so waren diese stets von Weisheit und Liebe diktiert. Seiner Ansicht nach genügte es, die vorhandenen Mittel gewissenhaft einzusetzen. Gott kümmere sich um den Rest und mache sich dabei selbst unsere Schwächen zunutze.

„Wenn wir hochmütig und stolz vor den anderen leben, sind wir am Ende müde und erschöpft“, versichert Papst Franziskus. „Wenn wir aber ihre Grenzen und Fehler mit Milde und Sanftmut sehen, ohne uns für besser zu halten, dann können wir ihnen zur Hand gehen und vermeiden, unsere Energie in unnützen Klagen zu verschwenden. Für die heilige Thérèse von Lisieux besteht ‚die vollkommene Liebe darin, die Fehler der anderen zu ertragen, sich nicht über ihre Schwächen zu wundern’. Paulus erwähnt die Sanftmut als eine Frucht des Heiligen Geistes (vgl. Gal 5,23). Er schlägt vor, dass wir, wenn uns die Verfehlungen des Bruders oder der Schwester Sorgen machen, uns nähern sollen, um ihn oder sie zurechtzuweisen, aber im Geist der Sanftmut (Gal 6,1). Dabei mahnt er : Gib Acht, dass du nicht selbst in Versuchung gerätst ! (ebd.) Mit demütiger Sanftmut reagieren, das ist Heiligkeit“ (Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 19. März 2018, Nr. 72-74).

Am Ende seines Generalats 1916 zog sich P. Hyacinthe in das Kloster an der Basilika San Clemente in Rom zurück, wo er lange Stunden im Gebet verbrachte. Als junger Dominikaner hatte er einmal gesagt : „Wenn ich mich nicht mehr praktischen Werken widmen kann, wenn es mir unmöglich wird, zu predigen, zu lehren und sogar zu psalmodieren, dann werde ich immer noch den Rosenkranz beten ; und wenn ich auch das nicht mehr kann, werde ich ihn in den Händen oder vor meine Augen halten. Er wird mich bei meiner Geduld im Leiden und meiner Vorbereitung auf den Tod unterstützen.“ Er feierte weiterhin jeden Tag die heilige Messe und betete zwei komplette Rosenkränze : einen für die Kirche und den Papst, einen für den Dominikanerorden und andere Anliegen. Obwohl er versuchte, die übernatürlichen Gnaden, die er empfing, geheim zu halten, wurde er mehrfach im Zustand der Entrückung oder der Levitation gesehen. Zuweilen klagte er darüber, dass er zu gut gepflegt werde : „Ich habe mich in dieses Haus zurückgezogen, damit es mir hilft, gut zu sterben. Es dient aber offenbar dazu, mich am Sterben zu hindern, da es so gut organisiert ist und man mir so sorgfältig beisteht.“ Im November verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Er blieb gelassen und beteuerte mehrmals : „Ich habe den lieben Gott gebeten, schnell zu machen, aber Er will nicht !“ Am 17. Dezember, dem 700. Jahrestag der Approbation des Dominikanerordens, erneuerte er seine Gelübde in Gegenwart des Ordensmeisters und des Konvents, sang noch das Salve Regina mit und verschied danach friedlich. Seine letzte Geste war die des Priesters, wenn er das Dominus vobiscum spricht und alle Anwesenden dem Herrn anvertraut. Seine sterbliche Hülle ruht unter dem Altar in der Kirche des Angelicum.

„Pater Cormier hat nie aufgehört, nach der Wahrheit zu leben, und er hat sie demütig und beharrlich an all seine dominikanischen Brüder weitergegeben“, erklärte der hl. Johannes Paul II. „Hatte er in seinem Wahlspruch Caritas veritatis nicht Wahrheit und Liebe miteinander verbunden ? Er sagte ja, dass die Weitergabe der Wahrheit ‚die schönste Liebe’ sei“ (20. November 1994). Bitten wir Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz um die Gnade, durch unser Leben und unsere Nächstenliebe Christus, der die Wahrheit ist, bezeugen zu können.

Dom Antoine Marie osb

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