Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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16. Dezember 2015
Advent


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Es ist Nacht. Wir befinden uns kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Patagonien, im heutigen Südargentinien, fernab von den politischen Konfliktherden der Alten Welt. In der nächtlichen Stille ruht der Betrieb im Hafen von Viedma ; ein Radfahrer im weißen Hemd huscht wie ein Engel Gottes durch die dunklen Gassen. Jeder, der ihn zufällig sieht, weiß Bescheid : Es ist Don Zatti, eine in der Kleinstadt vertraute Gestalt auf dem Weg zu einem Hausbesuch. Als der arme Kranke schließlich den barmherzigen Salesianerbruder an sein Bett treten sieht, entschuldigt er sich dafür, ihn zu dieser späten Stunde gerufen zu haben. Die energische Antwort Don Zattis lautet : „Es ist Ihre Pflicht, mich zu rufen ; es ist meine Pflicht, zu kommen !“ Hätte jemand dem jungen Mann aus der Po-Ebene seinerzeit prophezeit, dass er eines Tages am anderen Ende der Welt den Armen als rettender Engel beistehen werde, hätte er wohl laut gelacht.

Artemide Zatti wurde am 17. Oktober 1880 in Boretto im Nordosten Italiens als das zweite der acht Kinder von Luigi Zatti und Albina Vecchi geboren. Die Eltern waren einfache Bauern, die das Land, das sie zum Broterwerb beackerten, nicht einmal ihr Eigen nannten. War die Mutter auf den Feldern, kümmerte sich die älteste Tochter um die Kleinen. Artemide half bereits als Vierjähriger seinen Eltern auf dem Hof. Bis zum Alter von neun Jahren besuchte er die Grundschule und verdingte sich anschließend als Landarbeiter bei einem Bauern in der Nachbarschaft. Er stand um drei Uhr morgens auf, schlang hastig etwas Polenta mit Milch hinunter und zog gleich hinaus auf die Felder. Gegenüber seinen Altersgenossen zeichnete er sich insbesondere durch seinen Arbeitseifer und sein Verantwortungsgefühl aus, die er sich bei der Versorgung seiner jüngeren Geschwister erworben hatte. Sein Lohn betrug nur 25 Lire im Jahr, und er war damit voll zufrieden. Als er einmal zum Dank für seinen Fleiß einen Kuchen geschenkt bekam, behielt er ihn nicht für sich, sondern brachte ihn nach Hause und erfreute sich am Anblick seiner sieben Geschwister, die die Köstlichkeit im Nu verschlangen ; denn Geben ist seliger als Nehmen (Apg 20,35).

Die Wirtschaftsflaute, in die sich Europa im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hineinmanövriert hatte, traf die Landwirtschaft überaus hart : Die Geschäfte stagnierten, es fehlte an Maschinen, die Landarbeiter waren arbeitslos. Die Unterernährung führte zum Ausbruch schlimmer Krankheiten ; in der Po-Ebene wütete vor allem das Pellagra – eine Krankheit, die Demenz und Tod nach sich ziehen konnte. Die Zattis beschlossen, nach Südamerika auszuwandern, wo bereits ein Onkel der Familie lebte. Sie gingen 1897 in Bahia Blanca im Norden Patagoniens an Land. Fast die gesamte Bevölkerung des riesigen, wüstenähnlichen Landes wohnte damals in den Städten an der Atlantikküste. Bahia Blanca war ursprünglich eine einfache Militärbasis und entwickelte sich erst nach 1885 dank der Eisenbahnverbindung mit Buenos Aires zu einem bedeutenden Umschlagplatz ; die Bevölkerung nahm durch den Zustrom spanischer und italienischer Immigranten rapide zu.

„Ich gehe zum Sterben“

Luigi Zatti fand an einem Marktstand Beschäftigung. Artemide arbeitete zunächst in einer Herberge, später in einer Ziegelei. Ganz in der Nähe der Ziegelei lag eine seit 1875 von Salesianern italienischen Ursprungs betriebene Missionsstation. In seiner Freizeit half Artemide dem Pfarrer oder ging in die Bibliothek zum Lesen. Besonders beeindruckt von der Lebensgeschichte Don Boscos (des heiligen Gründers der Kongregation der Salesianer), fühlte er sich schon bald zum Ordensleben berufen. Luigi Zatti, der vom Pfarrer darüber informiert wurde, erlaubte seinem Sohn, in das Vornoviziat der Salesianer in Bernal bei Buenos Aires einzutreten. Artemide stieß gleich zu Beginn auf Hürden. Mit seinen 19 Jahren war er der Älteste unter den Priesteramtskandidaten. Da er in erster Linie den Dialekt seiner Heimat, vermischt mit etwas Italienisch und Spanisch, sprach, fiel es ihm schwer, Latein zu lernen. Zu seinen Aufgaben gehörte die Versorgung eines schwindsüchtigen Priesters, und er steckte sich bald selbst mit Tuberkulose an. Am Tag der Einkleidungszeremonie fieberte und hustete er so stark, dass er nicht aufstehen und somit auch nicht eingekleidet werden konnte. Die Schwindsucht forderte damals viele Menschenleben ; der Arzt empfahl, den Kranken in den Süden, nach Viedma, zu entsenden, wo die Luft besser war. Artemide folgte dem Rat : „Ich gehe nach Viedma zum Sterben, wenn Gott es so will !“

Die am linken Ufer des Rio Negro gelegene und 30 km von dessen Mündung in den Atlantischen Ozean entfernte Stadt Viedma war durch eine 250 km lange Eisenbahnlinie mit Bahia Blanca verbunden. Ein Vorposten der Mission, bevölkert von Soldaten, Abenteurern und Arbeitern, die sich selbst überlassen waren ; die Salesianer unterhielten in einem umgebauten Stall eine Apotheke und ein Krankenhaus. Die Eingeborenen besaßen keinerlei Immunabwehr gegen in Europa alltägliche Krankheiten und starben mangels medizinischer Versorgung zu Hunderten. Pater Evasio Garrone, der Artemide aufnahm, war der einzige „Arzt“ (ohne offiziellen Abschluss) am Ort. Er hatte sich als Sanitäter in der italienischen Armee große Erfahrung erworben, und wurde von allen Hilfesuchenden als „Doktor“ tituliert. Er riet dem jungen Kranken, er solle zur Gottesmutter beten, um geheilt zu werden, und schlug ihm folgende Formel vor : „Wenn du mich gesund werden lässt, werde ich den Rest meines Lebens den Kranken dieser Einrichtung weihen.“ Artemide erholte sich erstaunlich schnell : „Ich habe geglaubt, habe ein Versprechen abgegeben und bin gesund geworden.“ Er schlug voller Begeisterung den nunmehr vorgezeichneten Weg ein. Am 11. Januar 1908 legte er sein erstes Gelübde als Ordensbruder und Koadjutor ab, am 8. Februar 1912 die ewige Profess. Wie versprochen, übernahm er zunächst die Apotheke und engagierte sich danach zunehmend auch in der Krankenpflege. Nach dem Tod Pater Garrones ruhte sowohl die Last des Sankt-Josefshospitals als auch die der Franziskusapotheke auf seinen Schultern.

Ohne Diplom

Der junge Bruder erwarb sich eine solche Kompetenz, dass er bald als unersetzlich galt. Allerdings besaß er kein Diplom und musste sich nach den gesetzlichen Vorgaben richten : Der Staat – der im Übrigen außer Stande war, die medizinische Versorgung Viedmas sicherzustellen – verlangte von allen im Gesundheitswesen Tätigen ein entsprechendes Diplom. Die Salesianer engagierten einen approbierten Arzt, um ihre Einrichtung auch für die Zukunft auf eine gesetzliche Basis zu stellen. Dennoch war es Artemide, der unvorhergesehene Fälle bewältigen, Verantwortung übernehmen, kurzum die ganze Einrichtung am Laufen halten musste : mitunter sogar Hausarbeiten verrichten ! 1913 konnte er dank seines unermüdlichen Engagements das ganze Krankenhaus renovieren und mit den für die Krankenversorgung notwendigen Instrumenten ausstatten. Die Kranken strömten in großer Anzahl herbei, doch nur wenige konnten die Behandlungskosten aufbringen. So fuhr Artemide immer wieder mit dem Fahrrad die ganze Stadt ab, um Spenden zu sammeln. Sah man ihn mit seinem großen Hut auf dem Kopf, wusste man gleich, dass er zu einem Bankbesitzer oder einem spendablen Wohltäter fuhr.

Da der Bruder Kranksein aus eigener Erfahrung kannte, hatte er ein sehr gutes Gespür für die Bedürfnisse der Kranken ; die Gewissheit seiner Berufung ließ ihn den Schmerz und die Not seines Nächsten nachfühlen, in dem er den Gekreuzigten erkannte.

„Daran haben wir die Liebe erkannt, dass Er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben (1 Joh 3,16). Ich wende mich besonders an die kranken Menschen und an alle, die ihnen mit ihrer Hilfe und Fürsorge beistehen“, sagte Papst Franziskus am 11. Februar 2014. „Die Kirche erkennt in euch, liebe Kranke, eine besondere Gegenwart des leidenden Christus. So ist es : Bei, ja, in unserem Leiden ist das Leiden Jesu, der zusammen mit uns dessen Last trägt und uns dessen Sinn offenbart.“

Eine triumphale Heimkehr

1914erhielt Artemide die argentinische Staat-sangehörigkeit. Da die Krankenstation des Gefängnisses von Viedma aus allen Nähten platzte, wurden immer wieder Gefangene in das Sankt-Josefskrankenhaus verlegt. Als einmal ein Häftling nachts fliehen konnte, wurde Zatti wegen „Verletzung seiner Aufsichtspflicht“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das Skandalurteil machte die Leute am Ort fassungslos. Um ihre Empörung zu zeigen, organisierten Krankenpfleger, Kollegschüler, Genesende und alle, die von seiner Fürsorge profitiert hatten, einen Demonstrationszug, angeführt von einer Musikkapelle. Nach fünf Tagen Haft wurde der Bruder freigelassen : Seine Heimkehr geriet geradezu triumphal. „Ein bisschen Ruhe konnte ich wirklich gut gebrauchen !“, scherzte er, denn er sah Gottes Hand stets zu seinem Besten walten.

1915 ließ sich ein diplomierter Apotheker in der Nachbarschaft nieder. In den Augen der Verwaltung bestand kein Anlass mehr, die von den Salesianern betriebene Franziskusapotheke weiterhin staatlich zu dulden. Artemide besaß kein Diplom und würde seine Apotheke bald schließen müssen … Er konnte sich damit nicht abfinden : Wie sollten die Armen Medikamente zu erschwinglichen Preisen bekommen ? Er reiste nach La Plata, legte die notwendigen Prüfungen ab und kehrte als diplomierter Apotheker zurück !

Bruder Artemides Tage in Viedma im Dienste Gottes und der Armen waren gut ausgefüllt. Er stand morgens um halb 5 auf, machte Feuer und ging in die Kirche zum Beten. Anschließend wohnte er der Messe bei und begab sich dann ins Krankenhaus, um seine Kranken zu besuchen, die ihn liebevoll als „Don Zatti“ begrüßten. Er trank kurz einen Milchkaffee im Speisesaal, stieg aufs Fahrrad und fuhr los, um Hausbesuche zu machen. Mittags läutete er die Glocke und sprach zusammen mit dem Konvent den Angelus. Nach dem Mittagessen spielte er mitunter eine Partie Boule mit den Patienten. Um 14 Uhr bestieg er wieder sein Fahrrad. Vor dem Abendessen erledigte er seine Korrespondenz und hielt eine Dienstbesprechung mit dem Krankenhauspersonal ab, um Anweisungen und Ratschläge zu erteilen. Das Abendessen nahm Artemide nach einem letzten Besuch bei den bettlägerigen Patienten zusammen mit dem Konvent ein. Hatte er keine weiteren auswärtigen Verpflichtungen, las er bis etwa 11 Uhr fromme Bücher und medizinische Abhandlungen. Nachts wurde er oft ans Bett eines Kranken gerufen. Getreu Don Boscos Motto „Arbeit und Mäßigung“ bewies er wahrlich heldenhaften Opfergeist : Einmal trug er im Krankenhaus den Leichnam eines Verstorbenen sogar eigenhändig hinaus, um den anderen Patienten den Anblick zu ersparen.

Im Stöhnen der Kranken vernahm Don Zatti Tag und Nacht den Ruf Christi. Er antwortete umgehend und beflissen auf die Liebe, die ihn zur Selbsthingabe aufforderte, zur Nachfolge des Herrn, der sich selbst geopfert hatte, um uns zu erretten. Papst Franziskus sagte am 11. Februar 2014 zu diesem Thema : „Jesus ist der Weg, und mit seinem Geist können wir ihm folgen. Wie der Vater den Sohn aus Liebe hingegeben hat, und der Sohn sich selbst aus derselben Liebe hingegeben hat, so können auch wir die anderen lieben, wie Gott uns geliebt hat, indem wir das Leben für die Brüder und Schwestern hingeben. Der Glaube an den guten Gott wird zur Güte, der Glaube an den gekreuzigten Christus wird zur Kraft, bis zum Äußersten zu lieben und auch die Feinde zu lieben. Der Beweis des echten Glaubens an Christus ist die Selbsthingabe, die Ausbreitung der Liebe zum Nächsten, besonders zu dem, die sie nicht verdient, der leidet, der ausgegrenzt wird.“

Selbstloser Dienst rund um die Uhr

Artemide betreute auch die benachbarten Ortschaften am Ufer des Rio Negro mit. In Notfällen machte er sich zu jeder Stunde bereitwillig auf den Weg – selbst in die elendsten Vorstadtquartiere. Sein Ruf war so gut, dass sich mitunter sogar Patienten aus dem weit entfernten Süden Patagoniens an ihn wandten. Manch ein Kranker wollte lieber von ihm behandelt werden als von einem Arzt. Bereits seine Gegenwart entfaltete eine tröstliche Wirkung ; während der Behandlung pflegte er zu singen und die Kranken mit tausend lustigen Einfällen und Späßen zu erfreuen. Er kümmerte sich persönlich um die hoffnungslosesten Fälle, um die Versorgung der abstoßendsten Krankheiten und Wunden. Er bürdete sich den Schmerz der Kranken auf und übertrug seine Lebensfreude auf sie. Er weinte nur, wenn er für jemanden nichts mehr tun konnte ; wer aber in seinen Armen starb, hatte stets ein Lächeln auf den Lippen. Machte er einen Krankenbesuch in einem armen Haus, so hinterließ er immer einen Almosen. Er ging sogar so weit, dass er eines Tages der Not gehorchend und mangels einer besseren Lösung einen Schwerkranken in sein Zimmer aufnahm, ihm sein Bett überließ und selber die Nacht auf einem Stuhl verbrachte. Statt sich darüber zu ärgern, dass er nicht schlafen konnte, weil sein Gast so laut schnarchte, pries er den Herrn dafür : „Gott sei Dank, er lebt noch !“ Da sein Innerstes von der Freude des Heiligen Geistes erfüllt war, geriet er nie in Zorn, sprach nie schlecht über andere und litt auch nicht, dass in seiner Gegenwart schlecht über andere gesprochen wurde.

Die Zuwendung, die Don Zatti den durch Leid und Gebrechen geschwächten Kranken bot, ist ein Lichtblick und ein Vorbild für das soziale Leben. „Eine Gesellschaft ist dem Leben dann wirklich zugewandt“, erklärte Papst Franziskus am Welttag der Kranken, „wenn sie anerkennt, dass das Leben wertvoll ist, selbst im Alter, bei Behinderung, in schwerer Krankheit und selbst wenn es am Erlöschen ist ; wenn sie lehrt, dass der Ruf zur menschlichen Verwirklichung das Leiden nicht ausklammert ; mehr noch, wenn sie die Ansicht vertritt, dass im kranken und leidenden Menschen ein Geschenk für die gesamte Gemeinschaft zu sehen ist, ein Dasein, das zur Solidarität und zur Verantwortung aufruft. Das ist das Evangelium des Lebens“ (11. Februar 2014).

Don Zatti hatte im Krankenhaus eine Frau in seiner Obhut, die aufgrund einer falschen Behandlung von Kindheit an stumm und in mehrfacher Hinsicht behindert war. Trotz ihres oft genug merkwürdigen Benehmens behandelte Artemide sie stets mit Nachsicht und lehnte es ab, sie zu maßregeln : „Sie hat schon genug gelitten, ich will dem nichts hinzufügen.“ Die Frau lebte 48 Jahre lang im Krankenhaus … Menschen mit schlimmen Schicksalen fanden beim Bruder eine liebevolle Aufnahme. Als eines Tages ein mit Wunden übersätes, praktisch nacktes Indiokind zu ihm kam, bat er seine Assistentin : „Schwester, sehen Sie bitte mal nach, ob wir für ein zehn Jahre altes Jesuskind etwas zum Anziehen haben.“ Armut zog in seinen Augen Gottes Segen nach sich. Obwohl er über keine Universitätsausbildung verfügte, wurde er von den Ärzten als ihresgleichen behandelt. Sie waren von seiner Intelligenz und seiner Kompetenz beeindruckt, und noch mehr bewunderten sie seine moralische Autorität. Ein atheistischer Arzt bekannte einmal : „In Zattis Gegenwart wackelt mein Unglaube. Wenn es tatsächlich Heilige auf der Erde gibt, dann ist er einer !“

Ein unauslöschlicher Eindruck

„Die Heiligen sind die Zeugen, die uns lehren, das Drama der Krankheit und des Leidens zu unserem Wohl und zum Heil der Welt zu leben“, sagte Papst Benedikt XVI. am 20. August 2011. „Diese Zeugen sprechen zu uns vor allem von der Würde eines jeden Menschenlebens, das ja nach dem Bild Gottes geschaffen wurde. Keine Trübsal ist imstande, diese Prägung auszuradieren, die ins Innerste des Menschen eingeschrieben ist. Und nicht nur das : Seit der Sohn Gottes freiwillig Schmerz und Tod auf sich genommen hat, bietet sich uns das Bild Gottes auch im Antlitz dessen dar, der leidet. Diese besondere Vorliebe des Herrn für den Leidenden bringt uns dazu, den anderen mit klaren Augen anzusehen, um ihm über die äußeren Dinge hinaus, deren er bedarf, den liebevollen Blick zu schenken, den er braucht. Das aber wird nur möglich als Frucht einer persönlichen Begegnung mit Christus.“

1934 wurde Viedma Bischofssitz, und das Hospital musste der bischöflichen Residenz Platz machen. Die unter großen Opfern beschaffte Krankenhauseinrichtung wurde zerstört. Die Salesianer stellten Don Zatti einen etwas abgelegenen Bauernhof zur Verfügung. Ohne sein freundliches Lächeln abzulegen, bereitete der heilige Bruder den Umzug vor. Alles musste neu hergerichtet werden ; aber seine „armen Vettern“ waren es ja wert ! Er krempelte die Ärmel hoch und schwang sich wieder aufs Fahrrad, um Spenden zu sammeln. Seine Bekanntheit wuchs weiter, und die Mütter brachten ihre Babys zu ihm, damit er sie segne. Angesichts der Sympathie, die ihm entgegenschlug, rief ein politischer Würdenträger aus : „Möge der Himmel uns Politikern auch soviel Einfluss bescheren !“

Eines Tages sah man den Salesianerbruder an einem Bankschalter weinen. Ein Zeuge lief eilends zum Bischof, um ihm zu vermelden, dass Don Zatti in großer Not war. Der arme Bruder hatte in der Tat hohe Schulden, und niemand war ihm zu Hilfe gekommen. „Immer derselbe, dieser Zatti !“, murmelte der Bischof und ließ ihm auf der Stelle alles überbringen, was er in seiner Kasse hatte. Don Zattis Vorgesetzte waren schon seit Langem über dessen Finanzgebaren beunruhigt. Da ihre Vorhaltungen wirkungslos verhallten, stellten sie ihm schließlich einen deutschen Buchhalter zur Seite. Letzterer war überaus pedantisch und konnte Artemides Art der Geschäftsführung nicht ertragen : Er ging vor Ablauf eines Jahres fort. Der Salesianerbruder hielt Buchhaltung für eine einfache Sache : auf der einen Seite das eingenommene, auf der anderen Seite das geschuldete Geld. Seine im ganzen Land schon sprichwörtlichen Schulden entmutigten ihn in keiner Weise ; je höher sie wurden, desto mehr schlug er über die Stränge und setzte sein Vertrauen auf die göttliche Vorsehung. „Ich bitte den lieben Gott nicht darum, mir Geld zu schicken“, sagte er, „er soll mir nur sagen, wo es welches gibt !“ Oft pflegte er zu wiederholen : „Wenn das Geld nicht dazu da ist, Gutes zu tun, dann dient es zu gar nichts.“ Es flossen beträchtliche Summen durch seine Hände, doch er selbst blieb freiwillig arm. Seit 1907 trug er dieselbe breitkrempige Mütze, um sich vor der Sonne und dem Regen zu schützen. Das Fahrrad war sein einziges Beförderungsmittel ; bot man ihm ein Mofa oder einen Kleinwagen an, pflegte er mit den Worten abzulehnen : „Mir wäre unwohl dabei !“

Zum Besten

Anfang 1951 fiel Don Zatti von einem regennassen Dach herunter, das er gerade reparierte. Doch es brauchte schon mehr, um ihn aufzuhalten : Einen Monat nach dem Unfall saß er bereits wieder im Fahrradsattel. Bald danach wurde er jedoch auf sein schlechtes Aussehen und seinen grünlich blassen Teint angesprochen. Er lachte darüber : „Ich bin halt wie eine unreife Zitrone, die noch gelb werden muss.“ Mit dem Scherz überspielte er seine eigene Diagnose : bösartiger Pankreastumor. Er grämte sich nicht darüber, sondern sagte : „Ich bin vor 50 Jahren zum Sterben hierher gekommen und jetzt, wo es soweit ist, was sollte ich noch mehr wollen ? Ich habe mich mein ganzes Leben lang darauf vorbereitet.“ Fragte ihn der Arzt, wie es um ihn stehe, blickte er zum Himmel hinauf und antwortete : „Zum Besten, Doktor, zum Besten !“ Stets gut gelaunt, pflegte er alle, die ihn bedauerten, liebenswürdig zurechtzuweisen. Am 8. März schrieb er auf ein Blatt, wie man ihn in den nächsten sieben Tagen pflegen solle. Das wurde seine letzte Verordnung, und er legte sie, wie immer, dem Arzt zur Billigung vor. Die Behandlung endete am 14. März. Als der Arzt ihn am Morgen des 15. aufsuchte, fand er einen vom Kranken selbst ausgestellten Totenschein vor, auf dem nur noch der Todeszeitpunkt einzutragen war. Die Friedhofskapelle füllte sich nach Don Zattis Tod überreich mit selbstgepflückten Wiesenblumen. Am 16. März 1951, dem Tag seiner Beerdigung, trauerte die ganze Stadt : Fabriken, Werkstätten und selbst die Verwaltung hatten geschlossen.

Artemide Zatti wurde am 14. April 2002 vom heiligen Johannes-Paul II. seliggesprochen : Er war der erste salesianische Koadjutor (d.h. Laienbruder), dem diese Ehre erwiesen wurde. Mögen sein Vorbild und seine Fürsprache uns helfen, stets die Gegenwart des Herrn zu suchen und ihn in all unseren Brüdern, insbesondere den Schwächsten, zu begrüßen.

Dom Antoine Marie osb

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