Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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15. Oktober 2003
Hl. Theresia von Ávila


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

«Hallo, du Dynamit!», rief eines Morgens im Jahre 1973 eine Studentin ihrer Freundin entgegen. Bei letzterer lag unter dem übermütigen Äußeren eines feurigen Temperaments ein überaus reiches Innenleben verborgen. 1975, im Alter von 21 Jahren, sagte sie im Vertrauen zu ihrer Mutter: «Ich bin so glücklich, ich glaube, wenn ich jetzt sterben müsste, käme ich schnurstracks in den Himmel, denn der Himmel ist das Lob Gottes, und ich bin schon dort!».

Claire (Klara) de Castelbajac wurde am 26. Oktober 1953 als letztes Kind einer fünfköpfigen Familie in Paris geboren. Bei ihrer Taufe, drei Tage nach der Geburt, wurde sie dem Schutz der heiligen Klara und der Unbefleckten Gottesmutter anheimgestellt. Die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte sie mir ihrer Familie in Rabat in Marokko, bis sie 1959 endgültig nach Frankreich zurückkehrten. Ihre Mutter brachte ihr sehr früh bei, wie man das Kreuzzeichen macht und wie man betet. Auf ihren Wegen und Spaziergängen kehrte Claire oft in der Kirche ein, um ein kurzes Gebet zu sprechen, denn sie wusste wohl, dass die Kirche das «Haus Jesu» war. Schon bald enthüllte sich das Ungestüm ihres Charakters: Sie kannte keinerlei Maß in dem, was sie liebte, wünschte oder schenkte. Sie litt im Alter von etwa drei Jahren unter heftigen Wutanfällen, denen jedoch stets unmittelbar ebenso heftige Anwandlungen von Reue folgten. Trotz aller Lebhaftigkeit wurde das Kind bald von einer Krankheit heimgesucht: Mit vier Jahren wurde es von einer Toxikose an die Schwelle des Todes gebracht. Bald darauf machte eine Darminfektion, gefolgt von einer von Viren hervorgerufenen Angina eine Behandlung mit Spritzen notwendig. Jedesmal, wenn Claire die Krankenschwester erblickte, verwandelte sie sich in eine regelrechte Furie, sie schrie und geriet völlig außer sich. Erst im folgenden Winter, vor ihrer Erstkommunion, begriff sie, was es bedeutet, sein Leid Jesus als Opfer darzubieten, und sie lernte nach und nach, sich zu beherrschen, um den Schmerz zu ertragen.

Ab 1959 wohnt Claire am alten Familiensitz in Lauret (im Südwesten Frankreichs), in dem «großen, ganz zerbrochenen Haus», wie sie sagt. Im Juni 1959 empfing Claire die heilige Eucharistie zum ersten Mal, nachdem sie sich für die Vorbereitung große Mühe gegeben hatte. Ihr Großmut, mit dem sie sich Gott in kleinen Dingen zum Opfer darbot, dauerte auch in den folgenden Jahren fort. Sie notierte zum Beispiel: «1.) Ich habe kein Wasser genommen; – 2.) Akt der Liebe; – 3.) Ich habe Mama schnell gehorcht; – 4.) Ich habe nicht über mein Bauchweh geklagt» usw... Für ihre erste Beichte wollte Claire ihr Gewissen sorgfältig erforschen. Sie nahm ihr Gebetbuch für Kinder und betrachtete «alle Sünden auf der Liste» aufmerksam; dann sagte sie zu ihrer Mutter: «Ich verstehe nichts davon, daher weiß ich nicht, ob ich diese Sünden begangen habe. Aber erkläre sie mir ... Auch wenn ich all diese Sünden kennen würde, würde ich keine von ihnen mehr begehen, weil ich Jesus keinen Kummer bereiten möchte.»

Sie sollen alle in den Himmel kommen!

Claire war noch keine 6 Jahre alt, als sie eines Abends folgendes Gebet verfasste: «Jesus, mach, dass alle bösen Leute und alle, die dich nicht lieben, und alle, die dich nicht kennen, nett werden und dich kennenlernen und dich lieben, und sie sollen dreimal am Tag ihre Gebete sprechen und sie sollen alle in den Himmel kommen.» Sie wurde von ihrer Mutter gefragt: «Hast du daran gedacht, heute Morgen dein Herz und deinen Tag darzubringen?» – «Aber gewiss! Ich denke immer daran! Wozu wäre ich sonst gut?» Diese lebendige Frömmigkeit war allerdings nicht ohne Kämpfe. Eines Tages sagte sie brutal zu ihrer Mutter: «Warum hast du mich geboren? Warum hast du mich so früh zur Erstkommunion gehen lassen?» Und sie beklagte sich über die Mühen, die sich daraus für ihr Leben ergaben...

Am Morgen ihres zehnten Geburtstages bestand Claire trotz ihrer Müdigkeit darauf, zur hl. Messe zu gehen. Am Abend sagte sie im Vertrauen zu ihrer Mutter: «Weißt du, worum ich heute Morgen gebetet habe? Dass ich immer so rein bleiben möge, wie ich nach meiner Taufe gewesen bin.» Sie gewöhnte sich daran, jeden Morgen beim Erwachen die Seligste Jungfrau anzurufen: «O Unbefleckte Maria, ich vertraue dir die Reinheit meines Herzens an. Sei du ihre Hüterin für immer.» Mit elfeinhalb Jahren beging sie ihre feierliche Firmung. Während ihre Internatsfreundinnen eine Lawine profaner Geschenke erhielten, bedankte sich Claire bei ihren Eltern dafür, dass sie ihr kein solches gemacht, sondern ein Erinnerungsbild gegeben hatten, auf welches die Mutter folgenden Text geschrieben hatte: «Habt den innigen Wunsch, der Herr möge euch alles geben, was euch, wie er weiß, zu seiner Ehre und seinem Ruhm fehlt» (Hl. Johannes vom Kreuz).

Claires Grundausbildung hatte zu Hause unter der Aufsicht ihrer Mutter stattgefunden; 1964 kam sie in ein Internat zu den Ordensschwestern vom Sacré-Coeur nach Toulouse, wo sie große Lebensfreude, leidenschaftliche Selbstlosigkeit und eine ganz besondere Vorliebe für die Angelegenheiten Gottes an den Tag legte: «Das ist großartig!», schrieb sie. «Heute Morgen bin ich zur Messe und zur Kommunion gegangen ... Ich habe an euch gedacht, liebe Eltern, die ihr mir den katholischen Glauben gelehrt habt, die ihr mich beten gelehrt habt, die ihr mich habt taufen lassen. Ich verdanke euch alles und ich danke euch dafür mehr als ich sagen oder auch nur denken kann.»

Sie werden von Kindern gebeten

Während der Unruhen im Mai 1968 hörte Claire aufmerksam zu und dachte viel nach. Sie war von dem politischen und gesellschaftlichen Durcheinander, dessen Zeugin sie wurde, sehr betroffen und sah nur ein einziges Mittel dagegen: Das Beten zu Unserer Lieben Frau nach den Forderungen von Fatima. Aus eigenem Antrieb brachte sie die Schülerinnen ihrer Klasse dazu, einen Brief an alle Bischöfe Frankreichs zu schreiben: «Euer Hochwürden, Unsere Liebe Frau hat 1917 um folgende Dinge gebeten: den täglichen Rosenkranz, die Hingabe an ihr Unbeflecktes Herz und die Kommunion zur Versöhnung an jedem ersten Samstag im Monat. ‚Wenn man auf meine Bitten hört, wird sich Russland bekehren, und wir werden Frieden haben, wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt ausgießen.' Bis zu diesem Augenblick verbreitet Russland seine Irrlehren weiter, und der Frieden ist alles andere als vollkommen. Wahrscheinlich haben Frankreich und die katholischen Länder nicht genug für die Bekehrung der Sünder zur heiligen Jungfrau Maria gebetet ... Aus diesem Grunde flehen wir Sie inständig an, Euer Hochwürden, bitten Sie Ihre Priester, all ihren Pfarrkindern die Botschaft Unserer Lieben Frau zu übermitteln ... Sie werden ebenso wie alle anderen französischen Bischöfe von Kindern darum gebeten, diesen Ruf an unsere heimatliche Kirche zu richten. Wir sind sicher, dass Sie das berücksichtigen werden, und danken Ihnen dafür.»

Mit dem ganzen Ungestüm ihrer fünfzehn Jahre empörte sich Claire gegen den Wind des Protestes, der der Kirche entgegenwehte und der die Vergangenheit restlos fortzufegen drohte. Sie litt so stark, dass sie darüber krank wurde und die Sekunda zu Hause beenden musste. Als sie in ihrem Heimatdorf bemerkt hatte, dass die Jugendlichen dort kaum Gelegenheit hatten, zu gemeinsamen Vergnügungen zusammenzukommen, organisierte sie zuerst einen Chor; dann nahm die Gruppe zwei Theaterstücke in Angriff, um die Bewohner des nahegelegenen Altenheims, Behinderte oder einfach die Bewohner der Gemeinde zu unterhalten. Für die Unterprima kam Claire zu den Dominikanerinnen nach Seilh in der Nähe von Toulouse. Zunächst war sie nicht sonderlich begeistert, doch dann obsiegte ihre gute Laune. «Es ist komisch», schrieb sie an eine Freundin, «wenn man bedenkt, wie viele Gründe zum Glücklichsein man finden kann! Das Leben besteht aus lauter Glück! Es wird nur von den Menschen zum Unglück gemacht.» Doch Claire hatte nach wie vor zu kämpfen. Am 8. September 1970, dem von ihr sehr geliebten Fest von mariä Geburt, weigerte sie sich, mit einer guten Freundin zur Messe zu gehen. Ihr verschlossenes Gesicht verriet an jenem Tag, dass sie von einem anderen Einfluss beherrscht wurde.

Schwer aber schön

In diesem Jahr wurde Claires Mutter krank. Sie kam ins Krankenhaus und blieb dann über ein Jahr lang ans Bett gefesselt. Claire besuchte sie jeden Abend in der Klinik. Sie litt grausam unter dieser familiären Heimsuchung: «Ich habe es satt ..., und nochmal satt ...», schrieb sie an eine ihrer Schwestern am 15. Februar 71; doch sie fügte hinzu: «Auf jeden Fall gehe ich aus dieser traurigen Zeit gereifter und erwachsener hervor, denn ich habe gesehen, dass man nicht für sich selbst lebt, sondern für die anderen und dass jeder dazu da ist, für die anderen zu leben und sie glücklich zu machen. Das ist zutiefst schwer, aber auch schön, wenn es gelingt.» Im April danach musste Claire wegen eines Ischiasleidens selbst ins Krankenhaus. Sie schrieb viel vom Bett aus: bilderreiche Briefe über alles, nur selten über ihre Krankheit. Sie nutzte die Gelegenheiten, die sich boten, um das Christentum zu predigen. Einer Nachtschwester, die ihr vertrauliche Mitteilungen machte und vorgab, keine Zeit für die Anliegen Gottes zu haben, hielt sie entgegen: «Aber wissen Sie nicht, dass der Glaube hilft, besser zu handeln? Verlieren Sie ruhig eine Stunde damit, den Glauben wiederzufinden, und Sie werden glücklich sein und nicht mehr leer, wie Sie im Moment zugegebenermaßen sind!» – «Welch kostbarer Schatz ist doch der Glaube!», sagte sie zu ihren Eltern. «Ich möchte so sehr, dass diese Frau ihn entdeckt!»

Im August wurde nach fünfmonatigem Leiden eine Wirbelsäulenoperation beschlossen und erfolgreich durchgeführt. Claire kam zwar rasch auf die Beine, doch die Ischiasanfälle kehrten in Abständen immer wieder. Drei Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus bestand sie erfolgreich das Abitur; anschließend entschied sie sich dafür, Restaurateurin für Bilder und Fresken zu werden. Dieser Beruf würde ihr einen in ihren Augen sehr wichtigen Vorteil verschaffen: Unabhängigkeit bei der Arbeit und später die Möglichkeit, zu Hause bleiben zu können.

Claire beschloss, sich zur Aufnahmeprüfung am Zentralen Institut für Restauration in Rom anzumelden, einem staatlichen Institut, an dem jedes Jahr drei Plätze für ausländische Studenten reserviert waren. Zur Vorbereitung wollte sie kunstgeschichtliche Vorlesungen an der Universität Toulouse besuchen. Sie begann mit der Arbeit. Als sehr kontaktfreudiger Mensch machte sie viele Besuche und ging regelmäßig bei Alten und Kranken in ihrem Viertel vorbei. Ihre Frömmigkeit ließ nicht nach. «Ich habe gestern Abend beschlossen, jeden Tag zur Messe zu gehen ... Danach habe ich gerade noch gut Zeit, zur Uni zu kommen; ich fühle mich so gut, so rein, so heilig nach einer Stunde in der Kirche!»

Fürchte nichts

An Ostern 1972 beschloss Claire, nach Rom überzusiedeln, um sich besser auf die Prüfung vorzubereiten. Sie war achtzehn Jahre alt. Die Zeit bis zum Herbst füllte sie zunächst vom Mai bis zum Juli 1972 mit drei Monaten Arbeit in einer Werkstatt und in der Bibliothek, dann folgten zwei arbeitsreiche Ferienmonate in Lauret, die lediglich durch die nationale Wallfahrt vom 15. August nach Lourdes unterbrochen wurden. Im Oktober war Claire wieder in Rom, wo auch zwei Brüder ihrer Mutter seit längerem lebten. Einer der beiden war Karmelitermönch, der andere Vater von acht Kindern, der sie oft in seinem Haus bewirtete. In Claires vertraulichen Aufzeichnungen steht: «Heiligkeit ist die Liebe, die gewöhnlichen Dinge für Gott und mit Gott zu leben, mit seiner Gnade und seiner Kraft» (17. Oktober 72). An ihre Eltern schrieb sie: «Ich bin ganz terrorisiert bei dem Gedanken, ich könnte aufgenommen werden! Ich weiß zwar, dass in der Bibel 366-mal steht: Fürchte dich nicht! Einmal für jeden Tag des Jahres; ebenso weiß ich, dass im gegebenen Fall die Gnade für diesen Zustand schon vorhanden sein wird. Doch ich habe panische Angst davor, in zwei Monaten mein Erwachsenenleben zu beginnen ...» Das hielt sie allerdings nicht davon ab, für den Erfolg zu arbeiten.

Der wegen Streiks verschobene Prüfungstermin war auf den 1. Dezember festgesetzt. Claire bestand die Prüfung als dritte der drei aufgenommenen Ausländer. Sie war vor Begeisterung ganz hingerissen, doch bald zeichneten sich neue Kämpfe ab. «Die Hand Gottes beschützt mich nach wie vor», schrieb sie an ihre Eltern. «Was mich ärgert, ist mein, glaubt mir, unbeabsichtigter Erfolg bei den Jungs. Einer ist ganz klar verliebt in mich. Dann gibt es einen Libanesen, der sehr zuvorkommend ist ...; ich möchte noch zwei Italiener dazuzählen, die besondere Komplimente machen und mir wie treue Hunde folgen. Nach neun Tagen ist das viel ... Bestimmt werden sie mich aber bald besser kennenlernen!... Es ist so schwer, seine Wesensart zu ändern und sich das Lachen zu verkneifen, alles als Spaß aufzufassen und alle Nase lang Wortspiele zu machen ... Doch ich bin sicher, dass ich von Gott, der Jungfrau Maria und vom heiligen Benedikt (dessen Medaille sie trug) beschützt werde, ganz abgesehen von meinen Schutzengeln.»

Einige Tage später fügte sie hinzu: «Ich beeile mich, mich richtig einzurichten, damit ich meine Briefe schreiben und jeden Tag eine halbe Stunde geistlicher Lektüre widmen kann. Mein Rosenkranz ist beschlossene Sache durch die zwei- oder auch viermal fünfzehn Minuten, die ich in der U-Bahn zubringe. Ich brauche euere Gebete ... Je besser ich die Leute kennenlerne, desto enttäuscht werde ich; ich dachte immer, die Kunst um der Kunst willen und das Schöne um der Schönheit willen, also der Sinn für die Zwecklosigkeit der Dinge, den Leuten Tiefe verleihen würden und noch etwas mehr ... Natürlich sind abgesehen von zwei oder drei Snobs alle daran interessiert, was sie machen, ja sie sind sogar leidenschaftlich begeistert davon: Aber sonst: Fehlanzeige! Das einzige, was sie interessiert, ist das Vergnügen in all seinen Formen. Das aber deprimiert und entmutigt mich ein bisschen. Ich darf nicht über sie urteilen, aber abgesehen von zwei Leuten sind alle, mit denen ich spreche, so. Sie leben alle mehr oder weniger mit einem ‚Partner' zusammen ... Ich bin darüber enttäuscht ... Alle Jungs sind hinter mir her! Nur ruhig Blut! Ich laufe nicht im Minirock herum ... und lasse Kälte und Bosheiten auf die niederprasseln, denen man aus dem Wege gehen muss. Doch je mehr ich davon versprühe, desto hartnäckiger werden sie ... Momentan habe ich vor mir selber am meisten Angst; denn ich werde euch alles sagen. Ich werde kaum von guten Leuten ermutigt, wie in Toulouse; wenn ich mitunter diejenigen betrachte, die mich umgeben, dann sage ich mir, es dürfte nicht unangenehm sein, so zu handeln wie sie ... Dann bete ich und bete, dass ich den Mut habe, manchmal könnte ich sogar sagen, den Heldenmut, Widerstand zu leisten, keinen ‚Partner' vor meiner Hochzeit zu haben ...»

Der innere Kampf

Claire berauschte sich mehr und mehr an ihrer Freiheit. Mitte März 73 zog sie mit zwei Freundinnen in eine eigene Wohnung. Sie begannen, Besuch zu empfangen und abends auszugehen, amüsierten sich viel, indem sie reichlich «Blödsinn» machten, wie Claire sagte, und arbeiteten wenig. «Ich habe euch eine Menge Sachen zu berichten», schrieb sie an ihre Eltern ... «Wenn ich vom Unterricht nach Hause komme, ist die Wohnung voll von Freundinnen, und wir fallen erst gegen Mitternacht oder ein Uhr morgens todmüde ins Bett. Meine Sicht der Dinge ändert sich: Wer wird meinen Lebensdurst stillen?»

Bei dieser Lebensführung wurden die Noten Claires im «Restauro» immer schlechter; sie stand kurz davor, einen Verweis zu bekommen. Einer ihrer Onkel machte ihr eines Tages Vorhaltungen: «Deine Eltern tun mir leid, vor allem dein betagter Vater, weil du dein Leben so vergeudest ...» Sie erwiderte: «Das ist mir so was von egal!» Doch insgeheim war sie mit sich selbst unzufrieden. Ihr geschärfter Sinn für Gott, ihr Beinahe-Scheitern im Studium und folgende Überlegung einer Mitstudentin bewirkten schließlich einen heilsamen Schock: «Du wirst schon sehen, mein armes Kind, du wirst dich unserem Atheismus noch anschließen. Ich gebe dir kein Jahr mehr, bis du so bist wie wir ...» Der Sommer brachte glückliche Ferien in Lauret mit sich, unterbrochen von der nationalen Wallfahrt nach Lourdes. Anfang Oktober fuhr sie mit neuem Arbeitseifer nach Rom. Sie schrieb an ihre Eltern: «Ich erkenne, bis zu welchem Punkt der Eitelkeit und des leichtfertigen Egoismus ich gesunken bin unter dem trügerischen Ruf der Emanzipation ...» Die hervorragenden Ansätze, unter deren Zeichen das neue Jahr begann, verloren nicht an Kraft. Gott stand erneut im Mittelpunkt ihres Lebens, trotz gelegentlicher «geistiger Auflehnung».

Ein Jahr danach, am 16. September 1974, fuhr Claire mit einer Gruppe von etwa zehn jungen Leuten unter der Leitung eines Dominikanerpaters für drei Wochen ins Heilige Land. «Sind in Bethlehem. Marschieren stundenlang in der Wüste. Große Müdigkeit und Hunger. Askese: Unübertrefflich für die Reinheit, das stimmt.» Sie schrieb an ihre Eltern: «Ich bin dabei, mich völlig zu bekehren, meinen Glauben zu vertiefen, seinen wahren Sinn zu finden, und ich lerne unentwegt das ABC meiner Religion. Ich speichere möglichst viele Elemente der Inbrunst, der Frömmigkeit, des Vorbilds und der geistigen Armut in mir, damit ich in Rom mein Leben so einrichten kann, wie ich es jetzt vorhabe, und nicht so, wie ich es früher tat. Ich beginne, den Sinn des Wortes ‚Gottesliebe' zu begreifen: Ich glaube, man darf sich nicht für nebensächliche Fragen begeistern, sondern muss alles auf Gott ausrichten, und nur auf Ihn!»

Ein ganz neues Glücksgefühl

Einige Tage nach ihrer Rückkehr aus dem Heiligen Land wurde Claire nach Assisi entsandt, wo sie an der Restaurierung der Fresken in der St. Franziskus-Basilika mitwirken sollte. Sie kam bei Benediktinerinnen unter und berichtete ihren Eltern: «Ich werde ein klösterliches Leben führen: Nach dem Abendessen schlafen gehen, jeden Morgen um 7 Uhr 30 Messe, um 8 Uhr zur Arbeit. Was wir machen, ist für mich das Höchste! Die Sankt-Martinskapelle von Simone Martini. Das ist die schönste. Ich empfinde ein ganz neues Glücksgefühl dabei, wenn ich unter der Woche zur Messe gehe, den heiligen Ignatius von Antiochien oder den heiligen Johannes lese und selbst wenn ich mich jeden Tag meiner fünfzehnminütigen Besinnung widme.»

Am 10. Dezember meldete sie sich erneut: «Ich schwimme noch mehr in Glückseligkeit, seit ich die Tage zählen kann, die uns voneinander trennen. Unterdessen ersticke ich fast vor Erregung: Der Überschwang, den Ihr an mir kennt, erstrahlt in vollem Glanze ... Die Studienleiterin lässt mich frei überall auch dort hingehen, wo am nächsten Tag die Bretter entfernt werden, um den letzten Pinselstrich anzubringen. Und sie sieht hinterher noch nicht einmal nach, was mir viel ausmacht, denn die Verantwortung ist größer, als ich übernehmen kann. Sei es drum: Ich habe freie Hand. Was ist das Leben schön!»

Claire kam am 18. Dezember für die Weihnachtsferien nach Lauret. Ihren Angehörigen erschien sie ganz verwandelt. Am 30. Dezember verbrachte sie den ganzen Tag in Lourdes. Sie lag auf Knien vor der Grotte hingestreckt und berührte mit ihrer Stirn den Boden; so verharrte sie sehr lange unbewegt. Als sie sich erhob, war ihr Antlitz ganz anders, wie abwesend, unendlich fern; zwischen der Unbefleckten Mutter Gottes und ihr war etwas vorgefallen ... Am 4. Januar kündigte sich bei Claire eine tödliche virale Hirnhautentzündung an. Am 17. empfing sie bewusstlos die Krankensalbung. Am 19., einem Sonntag, sagte sie plötzlich, während sie zu schlafen schien, ganz deutlich und ganz laut: «Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade ...»; dann hielt sie erschöpft inne. Ihre Mutter setzte das Gebet fort; am Ende eines jeden Ave Maria murmelte Claire: «Und dann ... und dann ...», um ihre Mutter zum Weiterbeten des Rosenkranzes zu bewegen. Am Abend des 20. fiel sie in ein immer tieferes Koma. Dem Ruf Gottes folgend ging sie am Mittwoch, dem 22. Januar 1975, gegen fünf Uhr nachmittags in die Ewigkeit ein. Sie wurde einundzwanzig Jahre und drei Monate alt. Die offizielle Untersuchung für ihre Seligsprechung ist 1990 eröffnet worden.

Claire wollte «geradewegs in den Himmel kommen». Sie hatte über den ersten Brief des heiligen Johannes viel nachgedacht: Darin ist die Liebe [Gottes] bei uns vollkommen geworden, dass wir am Tag des Gerichtes Zuversicht haben (1 Joh 4,17). 1970 hatte sie an eine Freundin geschrieben: «Findest du wirklich, das die immer wachsende Nähe zum Tod beängstigend ist? Ich glaube es nicht; man darf den Tod nicht fürchten. Der Tod ist nur der Übergang von einem Leben – das de facto lediglich eine Prüfung ist – voller Freuden und kleiner Unglücke ... zum vollkommenen Glück, zum ewigen Schauen Desjenigen, der uns alles geschenkt hat. Der Tod beängstigend? Nein, das darf er nicht sein, sondern vielmehr erhofft und erwartet (und folglich auch vorbereitet ...) Erinnerst du dich daran, dass im Sacré-Coeur mehrere Mädchen (darunter auch du) mir vorhergesagt haben, dass ich jung sterben werde? Und zwar ohne vorherige Absprache? Also, ich sage dir, dass mir das vollkommen egal ist, denn was sind schon 50 Jahre irdisches Leben mehr oder weniger in der Ewigkeit?»

Bemühen wir uns nach dem Vorbild von Claire de Castelbajac, «alles nach Gott auszurichten», indem wir nur danach trachten, Ihm zu gefallen, und der Herr wir uns über alle Maßen dafür belohnen.

Dom Antoine Marie osb

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