Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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15. Juni 2011
in der Pfingstoktave


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Wenn wir das Antlitz Gottes ehrlich kennenlernen wollen, brauchen wir nur das Antlitz Jesu zu betrachten! In seinem Antlitz sehen wir wirklich, wer Gott ist und wie Gott ist!« (Benedikt XVI., 7. September 2006). Das Abbild des heiligen Antlitzes Jesu wurde die ganze Kirchengeschichte hindurch von vielen Christen verehrt. Zu diesen zählt auch Léon Papin-Dupont, ein frommer Laie des 19. Jahrhunderts, den man schon zu Lebzeiten „den heiligen Mann von Tours« nannte. Er gründete 1851 eine Bewegung zur Verehrung des heiligen Antlitzes, die sein Haus zu einer Pilgerstätte und zu einem Ort der Gnade machte.

„Der Marquis der Rücksichten«

Léon Papin-Dupont wurde am 24. Januar 1797 auf  Martinique geboren. Seinen Vater, einen Offizier bretonischer Abstammung, hatte er kaum gekannt, denn dieser starb 1803 und hinterließ die Verantwortung für den riesigen Grundbesitz sowie für die Erziehung der beiden Kinder seiner jungen Frau. Léon zeichnete sich von Kindheit an durch Aufrichtigkeit und Treuherzigkeit aus. Von 1811 bis 1815 besuchte er zusammen mit seinem Bruder Théobald das Privatgymnasium von Pontlevoy in der Touraine (Frankreich). 1818 zog Léon nach Paris, um dort Jura zu studieren. Die Hauptstadt war nicht ungefährlich für den vornehmen jungen Kreolen, der von seinen Kameraden „der Marquis der Rücksichten« genannt wurde; er war wohlhabend und führte ein großzügiges Leben, blieb jedoch dabei stets ein treuer Kirchgänger. Léon amüsierte sich gern, liebte das Tanzen und Reiten und war immer extrem freigebig. Die Vorsehung ließ ihn das „Hilfswerk der kleinen Savoyarden« entdecken, das 1666 zur Katechisierung von Lehrlingen gegründet worden war und von jungen Laienmitgliedern der Kongregation der Heiligen Jungfrau betrieben wurde. Er war tief gerührt: Es gab also Menschen, die dem Glauben gemäß, den er nur oberflächlich kannte, wirklich lebten, die ihre Freiheit dem Heil dieser armen Kleinen opferten? Sein eigenes Leben kam ihm auf einmal leer und armselig vor. Einem Freund schrieb er: „Ganz plötzlich ging mir ein großes Licht auf. Sein Strahl ließ mich die Bedeutung des christlichen Lebens, die unverzichtbare Sache des Heils erkennen. Doch dazu hatte es der Gnade bedurft!« Die Wirkung der Gnade war stark und überwältigend: Léon brach mit seinen mondänen Gewohnheiten und führte fortan ein frommes, wohltätiges Leben.

Er beschloss, dem Hilfswerk beizutreten, und erhielt zunächst Religionsunterricht, um seine Kenntnisse zu vertiefen. Am 12. November 1820 durfte er sein Gelöbnis für die Aufnahme in die Marienkongregation ablegen und verpflichtete sich zur Einhaltung aller Regeln. So suchte er eines Sonntags während einer Reise eine Kirche auf und bat den dortigen Geistlichen, er möge ihm die Beichte abnehmen, damit er anschließend die Kommunion empfangen könne. Da es damals absolut unüblich war, dass ein junger Mann an einem gewöhnlichen Sonntag um die heilige Kommunion bittet, zögerte der Pfarrer und dachte an einen Scherz. Der Student erklärte ihm daraufhin, dass er einer Kongregation angehöre und es sich zur Regel gemacht habe, einmal pro Woche die Sakramente zu empfangen. - Léons Großherzigkeit äußerte sich in heroischen Opfern: Eines Tages traf er im Laden eines armen Schreibwarenhändlers und Familienvaters auf dessen Gläubiger, die eine Bankrotterklärung forderten. Sobald Léon erfuhr, worum es ging, wies er zur Straße hinaus: „Nehmen Sie mein Pferd und meine Kutsche, verkaufen Sie sie und zahlen Sie die Leute aus.« Der Händler war gerettet. Ein Jahr danach machte Léon Examen, kehrte nach Martinique zurück und wurde Regierungsrat in Saint-Pierre, der Hauptstadt der Insel.

Léon war sich unsicher über seinen zukünftigen Weg: Priesteramt oder Laienstand? Der Tod seines Bruders im Jahre 1826 sowie der Wunsch seiner Mutter gaben schließlich den Ausschlag. Am 9. Mai 1827 heiratete er Caroline d'Audiffredy, eine junge Kreolin. 1832 wurde Léon Vater einer kleinen Tochter, Henriette; seine Frau starb acht Monate nach der Geburt an Tuberkulose – ein harter Schlag und ein Riesenkummer für den jungen Mann. Bald darauf beschlossen Léon und seine Mutter, nach Frankreich überzusiedeln; sie wollten sich in Tours niederlassen, wo Henriette später die Ursulinenschule besuchen konnte. Nach seinem Umzug 1835 gewann Dupont, wie er sich der Einfachheit halber nennen ließ, zwei wichtige Freunde in Tours: den Pfarrer der Kathedrale sowie die Oberin der Ursulinen. Zusammen mit ihnen dachte er von neuem über seine Berufung nach: Beide Freunde beschworen ihn nach reiflicher Überlegung, Junggeselle zu bleiben, da sie der Ansicht waren, er würde so mehr gesellschaftlichen Einfluss entfalten können. In der Stadt erregte Dupont großes Aufsehen. Ohne sich um die Meinung der Leute zu scheren, zeigte er überall beherzt, was er war und was er sein wollte: ein aufrechter, frommer Christ, der täglich zur Messe ging, der gern auch mal als Messdiener einsprang, der regelmäßig beichtete und die Kommunion empfing. Er selbst führte seine „Bekehrung« auf eine am 22. Juli 1837, dem Fest der hl. Maria Magdalena, empfangene Gnade zurück: eine Gotteserfahrung, die sein ganzes Wesen veränderte. Er wurde ein Mann des Absoluten, ein Büßer; da er die unendliche Majestät Gottes ein Stück weit erfahren hatte, empfand er fortan ungeheuren Abscheu vor der Sünde und wollte nur noch für Gott leben; er hielt zwar weiter an den höflichen, kultivierten Umgangs–formen wohlerzogener Menschen fest, machte sich jedoch ansonsten von allen weltlichen Gepflogenheiten frei.

Das Glück des Lebens

Léon nährte die Gottesliebe in seinem Herzen durch  fleißiges Lesen und Studieren der Heiligen Schrift. In der Mitte seines Zimmers lagen auf einem breiten Lesepult zwei dicke Bibeln, eine lateinische und eine französische. „Was wäre aus mir geworden unter der Last meiner Leidenschaften und meiner Unwissenheit ohne dieses Buch, das mich viele Jahre hindurch beglückte und das mir jeden Tag eine Erleuchtung über die himmlischen Dinge schenkte?«, fragte er am Ende seines Lebens.

„Wer das göttliche Wort kennt, kennt auch die tiefste Bedeutung eines jeden Geschöpfs«, bestätigt auch Papst Benedikt XVI. „Das Wort Gottes drängt uns zu einer Änderung unseres Begriffs von Realismus: Realist ist der, der im Wort Gottes das Fundament von allem erkennt. Das brauchen wir besonders in unserer Zeit, in der viele Dinge, auf die man für den Aufbau des Lebens vertraut und seine Hoffnung zu setzen versucht, ihr vergängliches Wesen offenbaren. Haben, Genuss und Macht erweisen sich früher oder später als unfähig, das tiefste Verlangen des menschlichen Herzens zu stillen ... Herr, dein Wort bleibt auf ewig, es steht fest wie der Himmel, und die Treue des Herrn währt von Geschlecht zu Geschlecht (Ps 118,89-90): Wer auf dieses Wort baut, baut das Haus seines Lebens auf Fels« (Apostolisches Schreiben Verbum Domini, 30. September 2010, Nr. 10).

Bei seinen Betrachtungen über die Heilige Schrift entdeckte Léon Dupont den Weg der geistlichen Kindheit. Er fasste das Prinzip dieser Spiritualität mehrfach und bereits 40 Jahre vor der hl. Therese von Lisieux in Worte: „Unser wichtigstes Anliegen besteht unter allen Umständen darin, in der heiligen Gottesliebe voranzukommen und mit aller Kraft nach der Einfalt christlicher Kindheit zu streben. Blicken wir auf das Kind: Es tut nichts ..., es weiß nicht einmal, dass es nichts tut, und doch lebt es in ständiger Aktion in den Armen seiner Mutter. So müssen wir in den Armen Gottes versinken.« Léon schätzte alle äußeren Zeichen der Frömmigkeit: Skapuliere, Schnüre, Medaillen; mit besonderer Verehrung hing er an der Medaille des hl. Benedikt zur Bekehrung der Sünder und zur Befreiung von allem möglichen Ungemach und versuchte, überall für sie zu werben. Sein Glaubenseifer schlug sich in häufigen Wallfahrten nieder - eine damals in Vergessenheit geratene Andachtsübung. So gehörte er nach der Nachricht von den Erscheinungen von La Salette (19. September 1846) zu den ersten Besteigern des heiligen Berges. Er sprach persönlich mit den Hirtenkindern und brachte wundertätiges Wasser mit nach Hause.

Im Anschluss an seinen Besuch der Kathedrale von Santiago de Compostela am 6. November 2010 fragte sich Papst Benedikt XVI., „was so viele Menschen bewegt, die tägliche Arbeit niederzulegen und den Bußweg nach Compostela anzutreten, einen manchmal langen und mühsamen Weg: Es ist der Wunsch, zum Licht Christi zu gelangen, nach dem sie sich aus tiefstem Herzen sehnen ... In Augenblicken der Verwirrung, der Suche, der Schwierigkeiten und mit dem Wunsch, den Glauben zu stärken und konsequenter zu leben, treten die Jakobspilger einen tiefen Weg der Umkehr zu Christus an, der die Schwachheit, die Sünde der Menschheit, das Elend der Welt auf sich genommen und dorthin getragen hat, wo das Böse keine Macht mehr hat, wo das Licht des Guten alles erleuchtet. Es ist ein Volk stiller Wanderer, die die altehrwürdige mittelalterliche und christliche Tradition der Pilgerreise wiederentdecken.«

„Du wirst mich nicht verlassen«

1847 erlebte Léon die schwerste Prüfung seines Lebens. Henriette war zu einem schönen Mädchen von 15 Jahren herangewachsen; sie war ein lebendes Abbild ihrer Mutter und außerordentlich begabt. Sie verfügte über einen wachen Verstand, viel Phantasie und Sensibilität sowie einen starken Glauben; sie war von ihrem Vater und ihrer Großmutter allerdings so verwöhnt worden, dass ihre Willenskraft zu wünschen übrigließ. Die wachsamen Augen des Vaters stellten bei ihr eine gewisse Hinwendung zur Welt und ihren Genüssen fest. „Mein Gott, wenn Du voraussiehst, dass sie vom rechten Weg abweichen wird, nimm sie mir lieber, als dass sie vor meinen Augen irdischen Eitelkeiten huldigt.« Gott scheint das selbstlose Gebet erhört zu haben: Henriette erkrankte schlagartig an Typhus. Als jede Hoffnung verloren war, bereitete Dupont seine Tochter selbst auf einen guten Tod vor und erzählte ihr mit frommer Begeisterung vom Himmel. Nachdem sie die letzten Sakramente empfangen hatte, fragte er sie: „Bist du jetzt zufrieden, meine Tochter, nach dem Empfang so vieler Gnaden?« – „Ja, Papa!« – „Tut es dir um etwas auf Erden leid?« – „Ja, Papa!« – „Worum denn?« – „Dass ich dich verlassen muss!« – „Nein, du wirst mich nicht verlassen; wir werden nicht getrennt. Gott ist überall, du wirst mit Ihm im Himmel sein und wirst Ihn schauen können; ich werde hier beten und durch Ihn bei dir sein.« Nach dem letzten Atemzug seines Kindes sagte er zum Arzt: „Doktor, meine Tochter hat gerade Gott erblickt!« – und betete das Magnificat.

Angesichts des großen moralischen und materiellen Elends, das ihn umgab und tief berührte, fühlte sich Léon zum Handeln verpflichtet. Neben der stillen Förderung von Jugendlichen, die sich zu einer „Vinzenzkonferenz« zusammengeschlossen hatten, finanzierte er eine Gründung der Kleinen Schwestern der Armen, die er selbst nach Tours geholt hatte: ein Altersheim, in dem er sich so wohl fühlte, dass er jeden Sonntagabend dort verbrachte und den Schwestern bei allem zur Hand ging. In der Touraine lebte eine ganze Kolonie von Engländern; auf Grund seiner guten Kontakte zu ihnen konnte Léon mehrere Anglikaner in die katholische Kirche zurückführen. Drei Werke lagen ihm besonders am Herzen: die nächtliche Anbetung des Allerheiligsten, die Wiederbelebung der Wallfahrten zur Martinsbasilika sowie die Verehrung des heiligen Antlitzes Jesu als Zeichen der Sühne.

Zu Füßen unseres Herrn

Die nächtliche Anbetung des Allerheiligsten geht auf  eine Pariser Initiative während der Unruhen von 1848 zurück: Ein paar junge Mädchen und Frauen versammelten sich regelmäßig zu Gebetswachen - zunächst vor einem Bild des heiligen Antlitzes, später vor dem Allerheiligsten der Karmelitinnenkapelle in der Rue d'Enfer. Ihr Anliegen war, Gott eine Wiedergutmachung für die Sünden der Menschen darzubringen und für diese die Gnade der Umkehr zu erwirken. Auf Initiative eines konvertierten Juden, Hermann Cohen, nahm am 6. Dezember 1848 eine entsprechende Gruppe von Männern die nächtliche Anbetung in der Kirche Notre-Dame-des Victoires auf; zwei Monate später, am 2. Februar 1849, erhielt Léon Dupont von Erzbischof Morlot die Erlaubnis, sie mit den ersten Freiwilligen auch in Tours einzuführen; Léon sorgte minuziös für einen reibungslosen Ablauf der Anbetungen. Bald dehnte er seinen Wirkungskreis auf zahlreiche Städte aus, wobei er sich selbst möglichst im Hintergrund hielt. „Die beste Art zu beten ist, sich nachts mit Gleich-gesinnten zu Füßen unseres Herrn zusammenzufinden, ihn anzubeten, ihm wieder die ihm gebührende Ehre zu erweisen und ihm unsere Nöte vorzulegen«, sagte er. „Ach, was wäre die heutige Generation glücklich, wenn das in ganz Frankreich praktiziert würde!«

Die Martinsbasilika in Tours war während der Revolution zerstört worden, und an Stelle des ehemaligen Klosters hatte man ein neues Viertel erbaut. 1849 ließ indes eine Choleraepidemie die Verehrung des Heiligen wieder aufleben; seine Reliquien wurden in Prozessionen durch die Stadt getragen. Ein Jahr später gründete Léon Dupont ein Hilfswerk zu Ehren des hl. Martin, des größten Missionars Galliens im 4. Jahrhundert: Man sammelte Kleidungsstücke, arbeitete sie auf und verteilte sie an die Armen. Das war die Geburtsstunde der „Kleiderkammern des hl. Martin«. Der Verein nahm auch den Wiederaufbau der Basilika in Angriff. Am 14. Dezember 1860 wurde das Grab des hl. Martin freigelegt. Bis zur Fertigstellung der Basilika, die Dupont nicht erlebte, behalf man sich mit einem provisorischen Oratorium.

Das heilige Antlitz

Im Karmel von Tours hatte eine junge Nonne namens  Schwester Marie de Saint-Pierre (1816-1848) von 1843 an himmlische Botschaften empfangen, die sie aufforderten, die Kränkungen unseres Herrn wiedergutzumachen, indem sie für die Verehrung des heiligen Namens Gottes, der Kindheit Jesu sowie des während der Passion geschundenen und geschmähten heiligen Antlitzes warb. Nach dem Tod der Schwester setzte Léon Dupont ihre Mission fort. Dieses Apostolat begann eigentlich erst in der Karwoche 1851. Am Palmsonntag ließ ihm die Priorin des Klosters eine Abbildung des heiligen Antlitzes zukommen: eine Kopie des damals im Petersdom verehrten „Veronikabildes«. Er stellte sie in seinem Salon auf und zündete eine kleine Öllampe daneben an, die zu Fragen anregen und ihm so Gelegenheit geben sollte, von Gott, von der Sünde und von der Pflicht der Gläubigen zur Wiedergutmachung zu sprechen. Am Karsamstag wurde Dupont von einer jungen Dame besucht, die von einem schmerzhaften Augenleiden befallen war. Er betete mit ihr vor dem heiligen Antlitz und schlug ihr vor, ihre Augen mit etwas Öl aus der Lampe zu salben. „Meine Augen tun nicht mehr weh!«, rief sie. Bald gab es eine Vielzahl von Wunderheilungen bei Pilgern, die den „heiligen Mann von Tours« aufsuchten, um im Geiste der Sühne und der Liebe zu beten. An manchen Tagen zogen an die dreihundert Personen erst durch den Salon, danach zur Beichte und zur Kommunion. Bald drang der Ruf des Salons in der Rue Saint-Étienne über Frankreichs Grenzen hinaus in die ganze Welt: Er wurde nach Ars die am häufigsten besuchte Pilgerstätte Frankreichs. Dupont versuchte die enorm angewachsene Korres-pondenz zu bewältigen, indem er andere Aktivitäten – mit Ausnahme der nächtlichen Anbetung - einschränkte. Die Leute baten um einige Tropfen Öl aus der Lampe, die Tag und Nacht vor dem Heiligen Antlitz brannte. 1854 hatte er bereits über 60 000 Fläschchen verschenkt bzw. verschickt und 25 000 Bilder des Heiligen Antlitzes verteilt.

Für Léon Dupont war die Verehrung des Heiligen Antlitzes etwas ganz Besonderes, richtete sie sich doch an das fleischgewordene Wort persönlich in seiner bei der Passion gedemütigten Menschheit, und er gelobte dem zärtlich verehrten Herrn Gefolgschaft. Im selben Geiste sprach Papst Johannes-Paul II. vor dem heiligen Grabtuch in Turin: „Das heilige Grabtuch bildet gleichermaßen die Liebe Gottes wie die Sünde des Menschen ab. Es lädt uns ein, die letzte Ursache für den Erlösungstod Jesu wiederzuentdecken ... Als Echo zum Wort Gottes und zu den langen Jahrhunderten christlichen Bewusstseins raunt uns das heilige Schweißtuch zu: Glaube an die Liebe Gottes, an den größten Schatz, der der Menschheit je geschenkt wurde, und meide die Sünde, das größte Unglück der Geschichte« (24. Mai 1998).

Der „heilige Mann von Tours« setzte den Weg der Demut und der geistigen Armut in der Nachfolge des leidenden Christus fort. Nach dem Krieg von 1870 ging die Zahl der Pilger zurück. Léon Dupont konnte sie ohnehin bald nicht mehr selbst empfangen, denn sein Körper wurde von einer fortschreitenden Lähmung befallen. Bald konnte er nicht mehr lesen und schreiben, lebte völlig abgekapselt und litt starke Schmerzen; er betete Tag und Nacht, ohne zu klagen. Immer wieder sprach er das Stoßgebet: „Möge der Tod meinen heftigen Durst nach dem ersehnten Anblick des Antlitzes unseres Herrn Jesus Christus stillen«. Sein letztes Wort galt der Bitte um den Gott der Eucharistie, danach verfiel er in eine acht Tage währende Agonie. Er verschied friedlich am 18. März 1876 im Alter von 79 Jahren. Bei seiner Beerdigung gab ihm die ganze Stadt das letzte Geleit. Am 29. Juli 1876 weihte Erzbischof Collet das Haus in der Rue Saint-Étienne zur Kapelle. Um die Pilgerströme zu empfangen, wurde eine Gesellschaft von Hilfsgeistlichen mit der Betreuung der Kapelle beauftragt. Erzbischof Collet gründete dort eine Bruderschaft zur Wiedergutmachung von Gotteslästerungen sowie der Entheiligung des Sonntags, deren Auftrag darin bestand, die Verehrung des heiligen Antlitzes im Geiste von Schwester Marie de Saint-Pierre zu verbreiten. Das Werk nahm einen schnellen Aufschwung.

„Du wirst erkennen, wie Er uns liebt«

In Lisieux z.B. wirkten die Karmelitinnen an der  Ansiedlung der Bruderschaft mit, der am 26. April 1885 auch der Vater der hl. Therese von Lisieux zusammen mit seinen Töchtern beitrat. Das Bild des heiligen Antlitzes prägte nachhaltig das geistliche Leben von Therese Martin. Die Gründerin des Karmels von Lisieux, Mutter Geneviève, warb bei ihren Novizinnen ebenfalls für eine tiefe Verehrung des heiligen Antlitzes: Zu deren ersten Lektüren gehörte die Biographie von Schwester Marie de Saint-Pierre. Nach ihrem Eintritt ins Kloster zog Therese dieses Bild allen anderen Bildern vor. Es erinnerte sie daran, dass Jesus sich ohne zu zögern schmähen und peinigen ließ, um uns zu retten: „Schau Jesus ins Gesicht«, schrieb sie ihrer Schwester Céline am 4. April 1889. „Du wirst erkennen, wie sehr Er uns liebt.« Die Betrachtung des Bildes führte Therese dazu, dass sie selbst vergessen und geringgeschätzt werden wollte. Einen Monat nach ihrer Einkleidung als Schwester Therese vom Kinde Jesu und vom Heiligen Antlitz wurde ihr Vater in ein Hospital in Caen eingewiesen und verbrachte über drei Jahre dort: Er litt unter einer schweren Arteriosklerose und war dement. Die Krankheit ihres Vaters gab Schwester Therese einen neuen Anstoß zur Verehrung des heiligen Antlitzes. Im Lichte von Jesaia, Kapitel 53, schrieb sie: „Wie das anbetungswürdige Gesicht Jesu während seiner Passion getrübt war, musste sich das Gesicht seines treuen Dieners (ihres Vaters) in den Tagen seines Leidens ebenfalls trüben, damit es in der himmlischen Heimat bei seinem Herrn, dem Ewigen Wort, umso heller erstrahlen kann« (Manuskript A, 20 v). Am 6. August 1896 weihte sich Schwester Therese zusammen mit zwei Novizinnen dem heiligen Antlitz. Als sie wegen ihrer Krankheit am 8. Juli 1897 auf die Krankenstation umziehen musste, ließ sie an ihrem Bettvorhang das von Léon Dupont verbreitete Bild des heiligen Antlitzes befestigen und sagte: „Wie viel Gutes hat mir dieses heilige Antlitz in meinem Leben schon getan!«

1891, kurz nach Schwester Thereses Profess, wurde das Seligsprechungsverfahren für Léon Papin-Dupont eröffnet. Am 21. März 1983 wurde durch ein Dekret von Papst Johannes-Paul II. der heroische Tugendgrad des „heiligen Mannes von Tours« bestätigt.

Möge der ehrwürdige Léon Papin-Dupont uns lehren, unter dem Blick des Vaters der Barmherzigkeit zu leben, der uns im heiligen Antlitz seines Sohnes Jesus Christus sein eigenes Antlitz offenbart hat.