Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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15. März 2017
im Monat des hl. Josef


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Um das Jahr 1244 war Donna Theodora auf Schloss Roccasecca im damals zum Königreich beider Sizilien gehörenden Kampanien sehr besorgt. Ein Diener hatte ihr mitgeteilt, dass ihr jüngster Sohn Thomas, Student an der kaiserlichen Akademie von Neapel, sich einem kurz zuvor gegründeten Bettelorden mit schwarz-weißem Habit angeschlossen habe. Dieser Sohn sollte eigentlich Abt von Monte Cassino werden, und nun bettelte er auf der Straße um Brot wie ein Landstreicher. Die ganze Familie fühlte sich durch ihn entehrt! Von solchen Gedanken erfüllt brach die Gräfin eilends nach Neapel auf, um Thomas zur Besinnung zu rufen. Vergeblich! Er hatte die Stadt bereits verlassen … Ausgerechnet dieser verlorene Sohn, der den guten Ruf der Familie zu gefährden schien, sollte ihr höchste Ehre einbringen: Seine Heiligkeit und sein Wissen erleuchten die Weltkirche bis in unsere Tage.

Thomas wurde um 1225 als jüngstes Kind des mit der kaiserlichen Familie der Staufer verwandten Grafen Landulf von Aquino und seiner normannischen Frau Theodora, Gräfin von Teate, geboren. Die Adelsfamilie gehörte zu den Vasallen des von Papst Innozenz III. gekrönten Kaisers Friedrich II. Die älteren Söhne Raynald und Landulf dienten bis zur Absetzung des Staufers durch Innozenz IV. im Jahre 1245 als kaiserliche Offiziere, starben jedoch beide schließlich als Verteidiger des Papsttums. Der jüngste Sohn sollte Abt von Monte Cassino werden und wurde bereits mit fünf Jahren als Oblate dem Benediktinerkloster anvertraut. Möglicherweise wollte der Graf dadurch auch seine Reue darüber zum Ausdruck bringen, dass er sich einige Jahre zuvor auf Befehl des Kaisers an der Zerstörung des Klosters beteiligt hatte. Thomas verfolgte das Leben der Mönche voller Bewunderung und war von allem tief beeindruckt – von der Ruhe, dem stillen Gebet, dem Studium sowie dem Gottesdienst, der stets mit den Worten begann: Deus in adjutorium meum intende (O Gott, komm mir zu Hilfe!). Im Geiste des Kindes keimte die Frage auf: Was ist Gott?

An andere weitergeben

Als Thomas 15 Jahre alt war, wurde Monte Cassino erneut von Friedrich II. bedroht. Der Junge wurde zur weiteren Ausbildung nach Neapel geschickt. Dort lernte er die armen, gelehrten und frommen „Dominikaner“ des Predigerordens kennen, der sich seit seiner Gründung durch Dominikus Guzman im Jahre 1216 stetig ausgebreitet hatte. Die evangelische Armut der Mönche sowie ihr Wunsch, die Früchte ihrer Betrachtungen an andere weiterzugeben (contemplata aliis tradere), beeindruckten Thomas so sehr, dass er im Alter von 20 Jahren um Aufnahme in den Orden ersuchte. Seine Redlichkeit, seine Willensstärke, sein scharfer Verstand sowie sein unfehlbares Gedächtnis waren so vielversprechend, dass der Orden ihn gerne aufnahm. Da seine Vorgesetzten mit einer heftigen Reaktion der Familie Aquino rechneten, schickten sie Thomas nach Rom. Donna Theodora bat um eine Audienz beim Papst, um ihren Sohn zurückzubekommen. Der Heilige Vater versuchte vergeblich, ihr das Ansinnen auszureden. Sie beauftragte daraufhin ihre beiden älteren Söhne, Thomas nach Hause zu bringen. Raynald und Landulf fanden ihn bald, konnten ihm jedoch wegen seiner Körpergröße und seiner imposanten Statur die Ordenstracht nicht ausziehen. Sie hievten ihn auf ein Pferd und brachten ihn in das im Besitz der Familie Aquino befindliche Schloss San Giovanni. Thomas saß in Gefangenschaft, wurde jedoch gut behandelt; er war nun den Schmeicheleien, Drohungen und Versprechen seiner Mutter und seiner drei Schwestern ausgesetzt, die ihm die Mahlzeiten brachten. Um ihn von seinem Plan abzubringen, führten seine beiden Brüder eines Nachts sogar eine Prostituierte in das Zimmer des gefangenen Novizen. Thomas erhob sich, griff nach einem glühenden Scheit aus dem Ofen und ging damit entschlossen auf das Mädchen zu, das erschrocken davonlief. An die Tür, die er hinter ihr geschlossen hatte, malte Thomas mit dem glimmenden Holzscheit ein großes Kreuzzeichen. Die Überlieferung sagt, dass er an jenem Abend die Zusicherung ewiger Keuschheit empfing. Die Haft des Gefangenen wurde nach und nach gelockert. Seine Schwestern brachten ihm eine Bibel, die er bald auswendig konnte, und ein paar theologische und philosophische Bücher. Marrota, die Älteste, wurde Benediktinerin und später Äbtissin des Klosters Santa Maria in Capua; Adelasia und Theodora heirateten und führten in der Ehe ein frommes Leben. Ihnen hatte es Thomas zu verdanken, dass er Verbindung zu den Dominikanern aufnehmen und schließlich nach über einem Jahr Gefangenschaft fliehen konnte.

Der „große Ochse“

Um 1245 begleitete Thomas den Ordensmeister Johannes Teutonicus nach Paris, um dort beim heiligen Albertus Magnus Theologie zu studieren; 1248 reiste er nach Köln, wo er zum Priester geweiht werden sollte. Die Studenten machten ihren frommen und fleißigen Kommilitonen Thomas bald zur Zielscheibe ihres Spotts: Sie nannten ihn „großer stummer Ochse“. Der junge Dominikaner revanchierte sich gelegentlich. Einmal wurde er von seinen Gefährten ans Fenster gerufen: „Schau, Bruder Thomas, ein fliegender Ochse!“ Alle lachten laut los, als er gutmütig herbeieilte und nachschaute. Seine Antwort: „Mir kam es wahrscheinlicher vor, einen Ochsen fliegen als Mönche lügen zu sehen!“ Ein andermal bot ein Student dem „großen Ochsen“ an, die gerade gehörte Lektion zu erklären, verlor jedoch schon bald den Faden. Thomas griff ihn wieder auf, fand heraus, wo der Fehler lag, fasste die Frage klar zusammen und eröffnete seinem Kommilitonen neue Perspektiven. Dieser bat ihn sogleich voller Bewunderung, den Stoff weiterhin mit ihm zu wiederholen. Thomas’ Ansehen stieg allmählich. Er verhielt sich allen gegenüber mild und freundlich, wenngleich er oft in Gedanken versunken war. Albertus Magnus wagte einmal folgende Prophezeiung auf der Kanzel: „Ihr nennt ihn ‚stummer Ochse’, und ich sage euch, dass das Muhen seines Wissens die Welt erschüttern wird!“ Ein andermal bat er Bruder Thomas, einen heiklen Punkt in dem Dionysius Areopagita zugeschriebenen Buch „Die göttlichen Namen“ zu erklären. Nach dessen glänzendem Vortrag sagte Albertus: „Sie sprechen mehr wie ein Lehrmeister, nicht wie ein befragter Schüler.“ – „Ich weiß wirklich nicht, wie ich es anders machen könnte“, entschuldigte sich Thomas.

1252 wurde Thomas trotz seines jugendlichen Alters Dozent an der Universität von Paris. Er kommentierte zuerst die Propheten Jeremia und Jesaia, danach das Buch Sententiae von Petrus Lombardus, das an den Universitäten des Mittelalters als grundlegendes theologisches Werk galt. 1256 wurde er zum Magister regens im Kloster Saint-Jacques berufen. Da er für seine Antrittsvorlesung kein Thema hatte, verbrachte er die Nacht davor im Gebet; plötzlich erschien ihm ein ehrwürdiger alter Dominikaner, den er nicht kannte, und riet ihm, über Vers 13 von Psalm 103 [104] zu predigen: Rigans montes de superioribus suisDu bist es, der die Berge tränkt aus seinen Kammern. Vom Segen deiner Schöpfungswerke wird die Erde satt. Thomas kommentierte diesen Vers und erklärte, die Weisheit eines Magisters könne nur von Gott kommen, der sie durch Vermittler an ihn weitergebe: „Sicherlich kann niemand behaupten, von sich aus und aus eigenen Kräften genügend Fähigkeiten zu besitzen, um ein solches Amt auszufüllen; doch diese Fähigkeit kann man von Gott erhoffen – nicht weil wir von uns aus fähig wären, etwas als eigene Leistung uns anzurechnen, unsere Fähigkeit stammt vielmehr von Gott (2 Kor 3,5). Um sie aber von Gott zu erhalten, müssen wir ihn darum bitten: Mangelt es aber jemand von euch an Weisheit, so bete er zu Gott, der allen ohne weiteres und ohne Widerrede gibt, und sie wird ihm gegeben werden (Jak 1,5). Beten wir zu Christus, dass er sie uns gewähre. Amen.“

Ans Licht gebracht

Die Aufgabe eines Magisters der Theologie bestand zunächst darin, die Heilige Schrift zu kommentieren, sodann schwierige Fragen zu erörtern, um sie zu klären, und schließlich vor dem versammelten Volk sowie der Universität zu predigen. In fast allen seiner Werke benutzte der heilige Thomas die scholastische Methode, d.h. er stellte jedes Problem vollständig und systematisch dar – einschließlich der vorliegenden unterschiedlichen Meinungen dazu. So wurde die Wahrheit ans Licht gebracht und von den Irrtümern getrennt, die sie verdunkelt hatten. Neben den Vorlesungen für die Studenten wurden auch öffentliche Sitzungen abgehalten, in denen Fragen zu jedem beliebigen Thema gestellt werden konnten. Diese Veranstaltungen waren gefürchtet, da die Magisterkollegen es oft darauf anlegten, den Redner in Verlegenheit zu bringen.

Thomas von Aquins literarische Fruchtbarkeit war beeindruckend. Neben seinen Vorlesungen und Predigten verfasste er zahlreiche Schriften. Seine Organisiertheit, geistige Klarheit sowie außergewöhnliche Konzentrations-fähigkeit gestatteten es ihm, mitunter vier Sekretären parallel grundverschiedene Werke zu diktieren. Thomas war nicht im Geringsten eingebildet auf seine Fähigkeiten: Er nutzte sie, um Gott und seinen Schöpfungsplan zu erkennen. Für ihn bezog die Theologie ihre Daseinsberechtigung aus der Frage des ewigen Heils, des höchsten Ziels menschlichen Lebens. Dieses Ziel bestehe in der ewigen Gottesschau und liege jenseits der natürlichen Fähigkeiten des Menschen. Der Mensch sei also auf eine höhere Erleuchtung angewiesen als auf die bloße menschliche Vernunft; er brauche das göttliche Licht, um den Weg zu finden, der zum höchsten Ziel führt, aber auch, um die Wahrheit über die Dinge dieser Welt besser zu erkennen. Die offenbarte Lehre, die uns dieses Licht schenkt und uns über die wesentliche und entscheidende Frage für unser Leben Auskunft gibt, sei wichtiger als jedes andere menschliche Wissen; sie heiße Theologie, d.h. Wissenschaft von den göttlichen Dingen.

Thomas von Aquins eifrige Tätigkeit wurde jedoch schon bald durch offene Anfeindungen seitens der Weltgeistlichen unter den Universitätsdozenten gestört. Wilhelm von Saint-Amour und Siger von Brabant publizierten ein Büchlein gegen die „Bettelorden“ (Dominikaner und Franziskaner), deren Mitglieder ihren Lebensunterhalt von den Gläubigen erwarteten, da sie ihre Zeit gänzlich dem Studium und der Lehre der heiligen Wissenschaften widmeten. Der Angriff ließ Neid auf das stetig wachsende wissenschaftliche Ansehen der Ordensleute erkennen. Thomas nahm diese Umtriebe mit Demut und Nachsicht hin. Doch eines Tages gingen die Gegner soweit, die Legitimität des Dominikanerordens sowie seine Lehrberechtigung vor dem Papst in Abrede zu stellen. Mit der Verteidigung des Ordens wurde Thomas von Aquin beauftragt. Nach langem Beten untersuchte er zunächst Wilhelm von Saint-Amours Abhandlung „Von den Gefahren der letzten Zeit“, die voller Bosheit, Falschheit und Arglist steckte, und publizierte dann seine Erwiderung Contra impugnantes (Widerlegung derer, die die Gott gebührende Verehrung und das religiöse Leben attackieren). Er legte dar, das das Lehren von Theologie ein Werk der Barmherzigkeit sei, denn es weise dem Menschen den Weg zum ewigen Heil und könne somit die Gründung eines religiösen Ordens legitimieren; er halte das Betteln im Falle dieses Ordens für zulässig, denn es gestatte eine radikalere Nachfolge Christi. Wilhelm wurde schließlich vom Papst verurteilt und von der Universität verwiesen. Im Hinblick auf die Wahrheit zeigte sich Thomas stets kompromisslos, doch gegen seine Widersacher trat er stets überaus höflich und beherrscht auf. Er war ihnen sogar dankbar, denn für ihn gab es „kein besseres Mittel, die Wahrheit zu enthüllen und den Irrtum zu widerlegen, als das Diskutieren mit Leuten, die eine Gegenmeinung vertreten“.

Lieber Chrysostomus als Paris!“ 

Der heilige Thomas wurde 1257 – zusammen mit dem heiligen Bonaventura, seinem Freund und franziskanischem Mitbruder – offiziell unter die Magister der Pariser Universität aufgenommen. Die beiden Heiligen schätzten einander sehr. Als Thomas einmal Bonaventura aufsuchte, traf er ihn in einem entrückten Zustand an: Sein Freund war gerade dabei, die Lebensgeschichte des heiligen Franziskus niederzuschreiben. Thomas zog sich sofort zurück und sagte zu einem Bruder, der ihm entgegenkam: „Lassen wir einen Heiligen die Lebensgeschichte eines Heiligen aufschreiben!“ Stieß Thomas auf Schwierigkeiten, fand er Hilfe im Gebet. Er verfasste mehrere Gebete, in denen er um die Erleuchtung Gottes für seine geistige Arbeit bat, und betete stets zu Gottes Geist, bevor er sich ans Werk machte. Sein Mitbruder, Mitarbeiter und Vertrauter Reginald von Piperno berichtete, dass er einmal angesichts eines Problems beim Erklären einer Passage aus dem Buch des Propheten Jesaja tagelang gefastet und gebetet habe; die Lösung erhielt er dann bei einer Erscheinung der heiligen Petrus und Paulus. Es kam regelmäßig vor, dass Thomas so intensiv mit der Wahrheitssuche beschäftigt war, dass er die Wirklichkeit und seine Umgebung ganz vergaß. Die Sorge um sein leibliches Wohl wurde daher Bruder Reginald anvertraut. Einmal kehrte Thomas zusammen mit seinen Schülern von Saint-Denis nach Paris zurück; die Gruppe betrachtete die Hauptstadt Frankreichs mit ihrer kurz zuvor fertiggestellten, herrlichen gotischen Kathedrale. „Was würden Sie tun, wenn der König Ihnen die Herrschaft über diese schöne Stadt schenkte?“, wurde Thomas gefragt. Er antwortete: „Ich hätte viel lieber das Manuskript des heiligen Johannes Chrysostomus über das Evangelium des heiligen Matthäus zur Verfügung!“

In seiner Pariser Zeit begann Thomas sein erstes theologisches Überblickswerk zu schreiben, die Summa contra gentiles (Summa gegen die Heiden). Das Werk stellte die katholische Lehre in apologetischer Weise für Nichtchristen dar und ist heute noch maßgeblich für den Dialog mit ihnen. Mangels eines gemeinsamen Bezugssystems auf der Grundlage der Heiligen Schrift, wie bei Juden oder Christen, lasse es sich nicht so leicht argumentieren, sagte Thomas; bei Nichtgläubigen könne man sich einzig und allein auf die allen verfügbare menschliche Vernunft berufen. Benedikt XVI. bemerkte dazu: „Es gibt in der christlichen Perspektive der Moral einen Platz für die Vernunft, die fähig ist, das natürliche Sittengesetz zu erkennen. Die Vernunft kann es erkennen, indem sie darüber nachdenkt, was zu tun und was zu vermeiden ist, um jene Glückseligkeit zu erlangen, die einem jeden Menschen am Herzen liegt und die auch eine Verantwortung gegenüber den anderen und somit die Suche nach dem Gemeinwohl auferlegt. Mit anderen Worten: sowohl die theologalen als auch die sittlichen Tugenden des Menschen sind in der menschlichen Natur verwurzelt. Die göttliche Gnade begleitet, stützt und drängt das ethische Bemühen, aber an sich sind dem hl. Thomas zufolge alle Menschen, Gläubige und Nichtgläubige, aufgerufen, die Erfordernisse der menschlichen Natur, die im Naturrecht zum Ausdruck kommen, zu erkennen und sich an diesem bei der Formulierung der positiven Gesetze auszurichten, also der Gesetze, die von den zivilen und politischen Autoritäten erlassen werden, um das menschliche Zusammenleben zu regeln“ (Audienz vom 16. Juni 2010).

Theologie und Poesie

1259 wurde Thomas nach Italien entsandt. Er hielt dort Vorträge in Klöstern und Universitäten und setzte nebenbei seine intensive literarische Tätigkeit fort. 1263 schuf er auf Bitten von Papst Urban IV. das großartige Fronleichnamsoffizium, das alle Texte für Messe und Stundengebet umfasst und heute noch in der römisch-katholischen Liturgie verbreitet ist. Es enthält die Sequenz Lauda Sion, in der der Heilige ebenso präzise wie poetisch die Theologie der Eucharistie zusammenfasst. Die Vesper enthält den Hymnus Pange Lingua, dessen letzten beiden Strophen als Tantum ergo bei der Begrüßung des Allerheiligsten gesungen werden.

Des Weiteren legte Thomas die von einem Mitbruder neu übersetzten Traktate des Aristoteles aus. Es ging ihm darum, die von dem griechischen Philosophen des 4. vorchristlichen Jahrhunderts entdeckten Wahrheiten herauszuarbeiten und dessen Handwerkszeug, das er für die Erarbeitung einer guten Theologie für unerlässlich hielt, für die Nachwelt festzuhalten. „Der Beweis dieser Unabhängigkeit zwischen Philosophie und Theologie und gleichzeitig ihrer gegenseitigen Bezogenheit war die historische Sendung des großen Meisters“, sagte Benedikt XVI. „Und so versteht man, warum Papst Leo XIII. im 19. Jahrhundert, als die Unvereinbarkeit von moderner Vernunft und Glauben nachdrücklich behauptet wurde, auf den hl. Thomas als eine Leitfigur im Dialog zwischen den beiden verwies. In seiner theologischen Arbeit setzt der hl. Thomas diese Bezogenheit voraus und legt sie konkret dar. Der Glaube festigt, ergänzt und erleuchtet das Erbe der Wahrheit, das die menschliche Vernunft erwirbt. Das Vertrauen, das der hl. Thomas in diese beiden Werkzeuge der Erkenntnis – Glaube und Vernunft – legt, kann auf die Überzeugung zurückgeführt werden, dass beide der einen Quelle der Wahrheit entspringen, dem göttlichen ‚Logos’, der sowohl im Bereich der Schöpfung als auch in dem der Erlösung wirkt“ (ibid.).

2669 Artikel !

1265 begann der heilige Thomas seine Summa Theologiae zu schreiben, ein monumentales Werk mit 2669 Artikeln, das eine meisterhafte Synthese des theologischen Wissens auf der Grundlage einer soliden, realistischen Philosophie erstellte. Unter Berufung auf den Aquinat erklärte Benedikt XVI., durch die Offenbarung habe Gott selbst zu uns gesprochen und uns somit gestattet, von ihm zu sprechen. „Ich halte es für wichtig, diese Lehre in Erinnerung zu rufen. Sie hilft uns nämlich, einige Einwände des zeitgenössischen Atheismus zu überwinden, der das Vorhandensein einer objektiven Bedeutung der religiösen Sprache verneint und vielmehr die Auffassung vertritt, dass sie nur einen subjektiven oder einfach nur gefühlsmäßigen Wert besitzt. Dieser Einwand kommt aus der Tatsache, dass das positivistische Denken (Lehre, die einzig die Erkenntnis von Fakten, von wissenschaftlicher Experimenten gelten lässt) davon überzeugt ist, dass der Mensch nicht das Sein, sondern nur die erfahrbaren Funktionen der Wirklichkeit erkennt. Zusammen mit dem hl. Thomas und mit der großen philosophischen Überlieferung sind wir der Überzeugung, dass der Mensch in Wirklichkeit nicht nur die Funktionen erkennt, die Gegenstand der Naturwissenschaften sind, sondern dass er etwas vom Sein selbst erkennt – er erkennt zum Beispiel die Person, das Du des anderen und nicht nur den physischen und biologischen Aspekt seines Seins“ (ibid.).

Zwischen 1269 und 1272 lehrte Thomas ein zweites Mal an der Universität von Paris. Er wehrte erfolgreich die letzten Angriffe weltgeistlicher Kollegen gegen die Bettelorden ab. Danach wurde er nach Neapel entsandt, wo er ein neues Studienkloster gründen sollte. Dort trafen ihn einmal Zeugen in der Kirche über dem Boden schwebend an, während eine Stimme vom Kruzifix herab erklang: „Du hast gut über mich geschrieben, Thomas, was möchtest du zum Lohn?“ Die Antwort sprudelte geradezu aus ihm hervor: „Dich allein, Herr!“

Am 6. Dezember 1273 beschloss Thomas nach einem mystischen Gnadenerlebnis aus Demut, künftig auf das Schreiben und Lehren zu verzichten. Dennoch wurde er vom Papst zum zweiten ökumenischen Konzil nach Lyon entsandt. Unterwegs erkrankte er und wurde in die Zisterzienserabtei Fossanova transportiert, wo er auf Bitten der Mönche noch das Hohelied für sie auslegte. Als Reginald ihm gegenüber seine Schriften rühmte, erwiderte er: „Videtur mihi ut palea. – Es kam mir vor wie Stroh.“ Das Viatikum begrüßte er mit folgenden Worten: „Ich empfange dich in der heiligen Kommunion, du unermesslicher Preis für die Erlösung meiner Seele; du, dem zuliebe ich studiert, gewacht und gearbeitet habe; du, den ich gepredigt und gelehrt habe! Ich habe nie etwas willentlich gegen deine Wahrheit gesagt, und ich beharre nicht auf meine Gedanken. Wenn es mir also passiert ist, dass ich gegen dieses Sakrament verstoßen habe, so überlasse ich alles der Korrektur der heiligen römischen Kirche; ihr gehorchend verlasse ich nun dieses Leben.“ Thomas von Aquin starb am 7. März 1274.

Der heilige Thomas, der van der katholischen Kirche als Doctor Angelicus genenut wird, hat deswegen so viel geschrieben und gelehrt, weil er seine Mitmenschen an den Früchten seiner Betrachtungen teilhaben lassen und zum schönsten Unterfangen ermuntern wollte, das dem Herzen des Menschen angemessen ist: die Gottessuche.

Dom Antoine Marie osb

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