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12. April 2022 Karwoche |
Auf die Hänge des Fuji (Japan) war der erste Schnee gefallen. Satoko wurde nicht müde, von ihrer Chaiselongue aus den vollkommenen Kegel des Vulkans zu betrachten, der sich strahlend weiß dem blauen Himmel entgegenstreckte. Doch das junge Mädchen wartete gleichzeitig ungeduldig darauf, dass seine tuberkulosebedingte Ruhephase endlich vorübergeht. Satoko wollte nach Tokio zurückkehren, unter die Lumpensammler der „Ameisenstadt“. Die Krankenschwester, die sie pflegte, ahnte nicht, dass sich das Mädchen aus der Oberschicht unter die Bewohner des Elendsviertels zurücksehnte.
Satoko Kitahara wurde am 22. August 1929 in Tokio in eine adlige Familie mit einer langen Ahnenreihe von Shinto-Priestern hineingeboren; die Shinto-Religion, in der alles als „heilig“ gilt, erhebt den Anspruch, ihre Anhänger in eine Harmonie mit den vielen althergebrachten Traditionen zu führen. Satokos Vater war als ältester Sohn seiner Familie enterbt worden, weil er sich geweigert hatte, die traditionelle Rolle des Erstgeborenen zu übernehmen, sondern lieber ein Universitätsstudium absolvieren wollte. Er studierte in der Hauptstadt Tokio und wurde erst nach dem Tod seines Vaters wieder in die Familie aufgenommen. Als sein viertes Kind Satoko auf die Welt kam, wurde er gerade zum Doktor promoviert. Satoko war ein fleißiges Mädchen und eine hochbegabte Klavierspielerin. Während des 2. Weltkrieges wurde sie als 15-jährige zur Arbeit in einer Flugzeugfabrik dienstverpflichtet, in der harte Arbeitsbedingungen herrschten. Damals zeigten sich erste Symptome einer Lungentuberkulose, die sie jedoch soweit wie möglich verbarg, da in der damaligen japanischen Gesellschaft Krankheiten als Zeichen einer inneren Disharmonie galten. Dank der guten Pflege ihrer Mutter besserte sich Satokos Gesundheitszustand, so dass sie 1946 ein Pharmaziestudium aufnehmen konnte.
Satoko wurde durch die Presse auf die japanischen Kriegsverbrechen aufmerksam. Sie hatte den mit der traditionellen Religion verbundenen japanischen Nationalismus stets in Ehren gehalten und war nun bestürzt; allmählich schwand ihre Nähe zum traditionellen Glauben. Während ihres dritten Studienjahres besuchte sie mit einer Freundin die 30 km südlich von Tokio gelegene Hafenstadt Yokohama. Aus Neugier betraten sie dort eine kleine katholische Kirche und waren auf Anhieb von der andächtigen Atmosphäre ergriffen. In einer Seitenkapelle entdeckten sie eine Statue Unserer Lieben Frau von Lourdes. Dank ihrer kunstg-eschichtlichen Kenntnisse wusste Satoko, dass es sich dabei um Maria, die Mutter Jesu Christi handelte. Später berichtete sie: „Ich erinnere mich immer noch an das erste Mal, als ich eine katholische Kirche betrat und die Statue der Heiligen Jungfrau erblickte. Ich wurde sofort von einer wundersamen, unbeschreiblichen Anziehungskraft überwältigt.“
Der klare Blick
Im März 1949 legte Satoko die Abschlussprüfung ab und bekam mehrere Arbeitsangebote, die sie allesamt ablehnte: Sie wollte sich Zeit nehmen, um sich zu besinnen und zu einer inneren Harmonie zu finden. Frau Kitahara meldete damals ihre jüngere Tochter Choko in einer von spanischen Nonnen geführten katholischen Schule an. Satoko begleitete die beiden zur Eröffnungsfeier des Schuljahres. Die Oberin hielt eine Rede in gutem Japanisch und sagte: „Gott in seiner Vorsehung hat Ihre Tochter in diese Schule geführt.“ Das von Christen oft gebrauchte Wort „Vorsehung“ stieß bei Satoko weitere Überlegungen an. Ein paar Tage später begleitete sie ihre Schwester zur Schule und lernte eine der Ordensfrauen kennen, mit der sie sich kurz unterhielt. Der klare Blick der Nonne löste in ihr eine ähnliche Reaktion aus wie einst die Jungfrau von Yokohama. Voller Verwirrung versuchte sie sich zunächst mit Kino- und Theaterbesuchen sowie mit Äußerlichkeiten abzulenken, kehrte jedoch einige Tage später in das Institut zurück. Die Schwester, die sie empfing, lud sie zur Teilnahme am Katechismusunterricht ein.
Es war sehr weise, dass die Nonne ihr zum Studium des Katechismus riet, nicht nur zur Bibellektüre. Denn „die organische Darlegung des Glaubens ist ein unverzichtbares Erfordernis. Der Katechismus des Katholischen Kirche wie auch das Kompendium desselben Katechismus bieten uns gerade dieses vollständige Bild der christlichen Offenbarung, die es in Glauben und Dankbarkeit anzunehmen gilt“ (Benedikt XVI., Generalaudienz vom 30. Dezember 2009).
Der Wunsch zu dienen
Satoko besuchte fleißig den Unterricht und nahm jeden Tag an der 6-Uhr-Messe der Schwestern teil. „Nach einigen Monaten Katechese war ich überzeugt, die Wahrheit gefunden zu haben, und ich bat um die Taufe.“, berichtete sie später. „Die Kirche in Japan pflegte die Katechumenen damals ein ganzes Jahr warten zu lassen, doch wegen meiner tiefen Überzeugung wurde ich am 30. Oktober 1949, dem Christkönigsfest in jenem Jahr, auf den Namen Elisabeth getauft. Zwei Tage danach empfing ich die Firmung.“ Die Ankündigung, dass ihre Tochter eine neue, ihnen unbekannte Religion annehmen wolle, irritierte Satokos Eltern. Doch ihr Vater erinnerte sich noch gut auf seine frühere Konfrontation mit seinem Vater und wollte sie in ihrer Freiheit nicht behindern. Er informierte sich sogar ausführlich über das Christentum und das Leben der hl. Elisabeth von Ungarn, der Schutzheiligen seiner Tochter, doch er vertiefte sein Wissen nicht weiter. In ihrer Begeisterung als Neubekehrte wandte sich Satoko der Spiritualität der hl. Franziskus von Assisi zu und wollte sich gänzlich der Nächstenliebe widmen: „Vom Tag meiner Taufe an hege ich den lebhaften Wunsch zu dienen. Ich schloss mich einer Gruppe von Frauen an, die sich regelmäßig im Kloster Unserer Lieben Frau von der Gnade traf. Wir besuchten mehrere Waisenhäuser und stellten Bilder von biblischen Szenen für den Religionsunterricht her. Trotz allem fehlte mir etwas Tieferes.“ Sie fragte sich, ob sie zum Ordensleben berufen sei, und sprach mit der Oberin darüber, die sie zu einem Aufenthalt in das japanische Noviziat der Schwestern einlud. Doch ein erneuter Ausbruch ihrer Tuberkulose zwang Satoko vorerst zu absoluter Ruhe.
Etwa zur gleichen Zeit erlitt ihr Vater, der sich in der landwirtschaftlichen Forschung stark engagiert hatte, einen Ohnmachtsanfall. Die älteste Tochter Kazuko schlug daraufhin ihren Eltern vor, in ihre Nähe nach Tokio zu ziehen. Der Umzug fand im September 1950 statt; Satoko folgte ihren Angehörigen in das neue Heim. Dort lernte sie den polnischen Franziskanermissionar Zenon Zebrowski kennen, der zusammen mit dem hl. Maximilian Kolbe 1931 nach Nagasaki gekommen war, um in Japan die Militia Immaculatae zu etablieren. Bruder Zenon hatte sich der Ärmsten angenommen, insbesondere der Bewohner eines Elendsviertels in Tokio, in dem bitterste Not herrschte und die Armen als Lumpensammler arbeiteten. Das auf städtischem Grund errichtete Elendsviertel verdankte seine Existenz einem ruinierten Unternehmer namens Ozawa, der von den Armen gesammelte Lumpen, Altpapier und Altmetall nach Gewicht aufkaufte. Ozawa, der in der Nachkriegszeit über die große Anzahl von Obdachlosen bestürzt war, hatte etliche von ihnen mit der Arbeit der Lumpensammler vertraut gemacht und ließ sie in der Nähe des Müllplatzes Hütten errichten. Um für sie eine minimale gesetzliche Anerkennung zu erreichen, hatte er ein Anwaltsbüro eingeschaltet. Dort begegnete er dem Dichter und Schriftsteller Matsui, der zugleich auch examinierter Jurist war, und gewann ihn für die Sache der Lumpensammler aus der „Ameisenstadt“, die er fortan unterstützte. „Sind Ozawa und Matsui Christen?“, fragte Satoko. „Nein“, erwiderte der Franziskaner. „Matsui ist, glaube ich, ein verbitterter Intellektueller, der es sowohl mit dem Buddhismus als auch mit dem Christentum versucht hat, ohne eine Antwort auf seine Revolte zu finden.“
„Lumpensammler mag niemand“
Bruder Zenon gab der jungen Frau Pater Kolbes Lebensgeschichte sowie eine Nummer der Zeitschrift Ritter der Unbefleckten auf Japanisch zu lesen. Nach der Lektüre beschloss Satoko, sich dem Unbefleckten Herzen Mariens zu weihen, und engagierte sich fortan für die Ärmsten der Lumpensammlergemeinschaft. „Bruder Zenon hat für mich ein Japan entdeckt, von dessen Existenz ich bislang keine Ahnung hatte“, schrieb sie. „Tausende von Menschen führten ein Leben in totaler Armut, und ein Teil von ihnen befand sich in weniger als einem Kilometer von meinem Zuhause entfernt.“ Satoko wurde bald zum „Engel der Lumpensammler“. Zunächst wirkte sie bei einer Weihnachtsfeier mit, danach nahm sie sich speziell der Waisenkinder an. Eines Tages fragte sie bei einem der Kinder nach, ob es auch in die Schule gehe. „Wir gehen schon seit Langem nicht mehr in die Schule“, erwiderte das Kind. „Die Lumpensammler mag niemand. Und wenn etwas gestohlen wird, werden wir gleich beschuldigt.“ So wurde Satoko Lehrerin. Sobald ein Kind ein hinreichendes Niveau erreicht hatte, meldete sie es an einer örtlichen Schule an und stellte sicher, dass die Hausaufgaben (unter ihrer Aufsicht) immer gut erledigt wurden. Zudem achtete sie auf die Sauberkeit ihrer Schüler, um sie vor abfälligen Bemerkungen zu schützen. Ihre Eltern mochten ihre neue Tätigkeit nicht, mussten jedoch feststellen, dass ihre aufopferungsvolle Arbeit sie glücklich machte.
Zusammen mit Matsui verfasste Satoko zahlreiche Zeitungsartikel, um die Gemeinschaft bekannt zu machen, Vorurteile zu zerstreuen und einer Zwangsräumung zuvorzukommen; sie wollten festhalten, dass es dabei um ehrbare Leute ging, die ihren Lebensunterhalt zwar mit einer ganz speziellen, aber legalen Arbeit verdienten. Eines Tages jedoch geriet Matsui in Zorn und ließ seine Wut auf die Christen an Satoko aus: „Wenn Sie aufrichtige Jünger Christi wären, wären Sie arm und würden das leidvolle Leben der Armen teilen. Sie verstehen nichts vom Elend der Leute, die 365 Tage im Jahr in extremer Armut leben! Es war schon mal die Rede davon, in der Ameisenstadt eine Kirche zu errichten. Wenn Sie und Ihresgleichen noch erleben möchten, dass dieses Projekt verwirklicht wird, gibt es eine Bedingung: Sie finden sie im 2. Brief an die Korinther.“ Satoko war sprachlos.
Mit Leib und Seele Lumpensammlerin
Einen Tag nach Ostern und nach einer Diskussion mit einem amerikanischen Missionar voller Vorurteile gegen die „Ameisen“ bekam Satoko hohes Fieber. Ihre jahrelang schlummernde Tuberkulose wurde wieder akut. Ihr wurde erneut strenge Isolation und absolute Ruhe verordnet. Die Kinder erkundigten sich regelmäßig nach ihr: Sie hörte ihre Stimmen und litt darunter, dass sie nichts für sie tun konnte. Sie fühlte sich von allen verlassen und spirituell leer. Ihr einziger Trost war der Rosenkranz. Eines Morgens jedoch schien die Gnade, die ihr vor Unserer Lieben Frau von Yokohama zuteil geworden war, wieder wirksam zu werden: Sie vertraute sich völlig dem Willen Gottes an. Ein paar Tage später normalisierte sich ihre Körpertemperatur. „Nach einem in meinem Zimmer verbrachten Monat fühlte ich mich frei. Plötzlich erblickte ich einen Lumpensammler, der gerade einen Mülleimer durchsuchte. Vor meiner Begegnung mit Bruder Zenon hätte ich diese Szene nur mit traurigem und bedrücktem Herzen betrachten können; jetzt aber bewunderte ich dieses ergebene Antlitz.“ Sie hatte zuvor lange über den 2. Brief des hl. Paulus an die Korinther nachgedacht: Ihr wisst ja, wie euer Herr Jesus Christus um euretwillen arm wurde, da er reich war, damit ihr durch seine Armut reich würdet (2 Kor 8,9). Sie beschloss nun, selbst mit Leib und Seele Lumpensammlerin zu werden und das Leben ihrer Freunde vollauf zu teilen.
Als einer der Jungen ihr erzählte, dass er mit seinem Vater die Ameisenstadt bald verlassen werde, schenkte sie ihm zum Abschied ein Neues Testament und sagte: „Ich möchte lernen, wie man eine gute Lumpensammlerin wird.“ – „Sie, eine Lumpensammlerin?“ – „Aber ja!“ Ein paar Tage später durchstöberte sie, begleitet von einer Kinderbande, die Mülleimer der Gegend. Als sie zusammen mit den anderen die „Beute“ sortierte, schauten Matsui und Ozama bei ihr vorbei: „Ich sehe, Ihre Krankheit hat Ihnen die Augen geöffnet!“ – „Stimmt! Ab heute bin ich Lumpensammlerin!“ Die Kinder, die das Gespräch mit angehört hatten, klatschten fröhlich Beifall. Satoko wurde nunmehr von allen als eine der Ihren akzeptiert. Sie musste ihre Entscheidung nur noch ihrer Familie beibringen: „Mit fester Stimme teilte ich meinen Eltern mit: Während des letzten einsamen Monats in meinem Zimmer habe ich endlich klar erkannt, dass ich, um die Lumpensammler des Dorfes wahrhaftig zu unterstützen, eine von ihnen werden musste.“ Sie schrieb später: „Als ich zum ersten Mal allein eine Karre ziehen musste, fühlte ich mich gedemütigt. Der Blick eines Passanten hat mein Unbehagen noch gesteigert. Ich schämte mich und betete zur Jungfrau Maria. Ich wollte eine fröhliche Dienerin des Herrn sein. Als ich dann den Deckel eines Mülleimers hochhob, fand ich leicht verkäufliche Waren darin. Ich spürte die Freude, die die Lumpensammler wohl in solchen Momenten empfanden. Ich war zudem glücklich, das Schwerste bewältigt zu haben.“ Sie brachte den Anderen bei, wie man die Lumpen sortieren, die besterhaltenen waschen und anständige Kleidung daraus schneidern konnte.“
„Lourdes der Ameisen“
Als Satoko an Pfingsten das Dorf betrat, sah sie zu ihrer Überraschung, dass viele Lumpensammler damit beschäftigt waren, ein Gebäude zu errichten. „Ihre Kirche, Sie werden sie bald bekommen!“, rief ihr Matsui zu. Für ihn handelte es sich um eine simple Rechnung: Dem Elendsviertel drohte der Abriss seitens der Stadtverwaltung, damit dort wieder ein städtischer Park entstehen konnte; doch die Stadt würde es niemals wagen, ein religiöses Gebäude abzureißen und somit auch die Ameisenstadt auszulöschen. Im Erdgeschoss des Gebäudes war ein Refektorium als Versammlungsort für die Lumpensammler vorgesehen, im ersten Stock ein Unterrichtsraum sowie eine Kapelle, in der eine von Bruder Zenon besorgte Marien-Statue aufgestellt wurde; die Kapelle wurde von den Kindern „Lourdes der Ameisen“ getauft. Nach und nach wurden Abwasserkanäle gebaut, bald gab es auch fließendes Wasser und ein öffentliches Bad. Satoko schlug vor, dass ein Teil des von den Lumpensammlern erarbeiteten Gewinns für die Einrichtung eines Altenzentrums verwendet werde.
Gleichwohl war Satokos Krankheit nach wie vor präsent; Anfang Dezember 1951 verordnete ihr der Arzt zu ihrem Kummer wieder vollkommene Ruhe. Satoko begab sich für sechs Monate in ein Sanatorium. Als sie eines Tages dort die Nachricht erhielt, dass die Ameisenstadt erneut gefährdet war, kehrte sie nach Tokio zurück, fest entschlossen, das Schicksal ihrer Schützlinge zu teilen. Da sie aber pflegebedürftig war, zog sie zu ihren Eltern und widmete sich hauptsächlich der Beantwortung von Briefen und dem Führen eines Tagebuchs. In der Zwischenzeit war eine andere junge Frau in die Ameisenstadt gezogen, die aus der Zeitung von der Arbeit dort erfahren hatte, und vertrat sie bei den Kindern. Als die beiden Frauen zum ersten Mal zusammentrafen, konnte die zutiefst verletzte Satoko kein einziges Wort mit ihrer Nachfolgerin wechseln. Sie erkannte, dass das Leben in der Ameisenstadt auch ohne sie weiterging. Erst als Matsui sie darauf hinwies, dass man sich dem Willen Gottes fügen müsse, konnte sie die neue, nie in Betracht gezogene Situation akzeptieren.
„Das wird nicht nötig sein“
Die Krankheit verschlimmerte sich. Satoko wurde aus Angst vor Ansteckung isoliert und stürzte wieder in ein seelisches Tief: Ihr Leben sei verfehlt, sie habe niemanden für das Evangelium gewinnen können. Ozawa freilich war von ihrem Beispiel gerührt. Als er mit Bestürzung sah, wie sie ihr Leben opferte, überraschte er Matsui mit der Mitteilung, dass er gedenke, Christ zu werden wie sie. Matsui erwiderte, er wolle ebenfalls getauft werden. „Satokos Leben voller Liebe, Vergebung und Barmherzigkeit hat mir die Augen geöffnet.“ Beide meldeten sich zum Katechismusunterricht an. An Satokos Bett trafen sie einmal auf ihre Eltern und ihren Arzt. Als Letzterer erneut eine Luftveränderung vorschlug, fragten sie sich: Warum sollte man sie nicht in die Ameisenstadt verlegen, die sie so sehr liebte? Die Lumpensammler bauten ihr in einer Ecke des Lagers aus Sperrholz ein Zimmer. Dort fand sie zwar ihr Lächeln wieder, doch ihre Kräfte kehrten nicht zurück. „Ans Bett gefesselt, habe ich nun nichts anderes zu tun als auf meinen eigenen Willen zu verzichten“, sagte sie sich. „Es ist schwer, untätig zu sein, während alle arbeiten. Jedenfalls habe ich dem Herrn alles geopfert, was ich besaß. Wie sollte ich mich über meine Krankheit und mein Leiden beklagen? Hat Jesus sein Kreuz etwa nicht getragen? Indem ich mein Leben so akzeptiere, wie es ist, kann ich wirklich eine Dienerin des Herrn sein.“ Sie konnte immerhin noch aufstehen, ein paar Schritte gehen und Matsui bei den Verwaltungsaufgaben helfen. Sie freute sich zutiefst, als man in der Nähe ihres Zimmers eine Grotte Unserer Lieben Frau von Lourdes errichtete, und ebenso, als mehrere Bewohner der Stadt getauft wurden, darunter auch Ozawa und Matsui.
1957 erfuhr Satoko, dass ein neuer Abrissplan für die Ameisenstadt existierte. Matsui reichte daraufhin bei der Präfektur eine mit Hilfe von Satoko abgefasste Petition ein, um von der Stadtverwaltung ein anderes Gelände für die Siedlung zu erhalten. Es gab auch ein geeignetes Terrain in einem dem Meer abgerungenen Teil Tokios. Die Kaufsumme betrug 25 Million Yen. Satoko hängte in ihrem Zimmer ein großes Spruchband mit der Inschrift „25 Million“ auf und betete ohne Unterlass. An Weihnachten besuchten ihre Eltern die Ameisenstadt und wohnten einem Teil der Feierlichkeiten bei. Die Besichtigung der Siedlung durch einen städtischen Beamten fiel positiv aus. Als dann im Januar die Stadt bekanntgab, dass der Preis herabgesetzt worden sei, betrachtete Matsui das als Satokos Verdienst. „Wir haben es geschafft, und zwar durch Ihre Gebete. Jetzt haben Sie nichts weiter zu tun, als um Ihre Heilung zu beten, damit Sie mit uns auf dem neuen Gelände die neue Ameisenstadt errichten können.“ Ihre Antwort war einfach: „Das wird nicht nötig sein. Gott hat uns alles gewährt, worum wir Ihn gebeten haben. Das reicht.“ Am 28. Januar 1958 empfing Satoko die Sterbesakramente und verschied einen Tag danach friedlich im Alter von 29 Jahren. Am 23. Januar 2015 erkannte Papst Franziskus die Heldenhaftigkeit von Satokos Tugenden an. Die Ameisenstadt zog 1960 auf das dem Meer abgerungenen Gelände in der Bucht von Tokio um. Als Abbé Pierre 1951 in Frankreich die Emmaus-Bewegung gegründet hatte, war einer seiner Mitarbeiter, Pater Robert Vallade, nach Tokio gereist, um dort mit Satoko zusammenzutreffen, die ihm wertvolle Ratschläge zur Etablierung der Stiftung in Japan gab. Nach Satokos Tod trat die Ameisenstadt der Organisation „Emmaus International“ bei.
„Die schlimmste Diskriminierung, unter der die Armen leiden, ist der Mangel an geistlicher Zuwendung“, schreibt Papst Franziskus. „Die riesige Mehrheit der Armen ist besonders offen für den Glauben; sie brauchen Gott, und wir dürfen es nicht unterlassen, ihnen seine Freundschaft, seinen Segen, sein Wort, die Feier der Sakramente anzubieten und ihnen einen Weg des Wachstums und der Reifung im Glauben aufzuzeigen“ (Evangelii gaudium, 24. November 2013, Nr. 200). Satoko Kitahara wurde durch das Beispiel eines Jüngers des hl. Franziskus für den katholischen Glauben gewonnen; sie ließ alle menschlichen und materiellen Vorteile hinter sich, die sie von Haus aus besaß, um den Schatz des Glaubens, des Tores zum ewigen Leben, für die Ärmsten zu erschließen. Bitten wir sie, dass sie uns hilft, unseren katholischen Glauben konkret zu bezeugen!