Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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13. Januar 2012
Hl. Hilarius


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Am 15. September 1864 betritt ein 18 Monate zuvor zum Priester   geweihter, 32 Jahre alter Dominikaner namens Jean-Joseph Lataste   zum ersten Mal eine Strafanstalt. Sie liegt im ehemaligen herzoglichen Schloss von Cadillac-sur-Garonne, dem Weinbaustädtchen, in dem er aufgewachsen war; es sind rund 400 Frauen dort inhaftiert – je nach Art und Dauer ihrer Strafe in drei Gruppen aufgeteilt. Pater Lataste ist vom Prior seines Klosters in Bordeaux entsandt worden, um Exerzitien abzuhalten: Der viertägige Aufenthalt sollte seinem Leben die entscheidende Richtung geben.

Alcide Vital Lataste wurde am 5. September 1832 in Cadillac geboren und einen Tag später getauft. Er hatte sechs ältere Geschwister. Sein Vater Vital besaß ein paar Weinberge, betrieb aber auch einen Tuchhandel, der ihm einen gewissen Wohlstand bescherte. Er bezeichnete sich gern als Freidenker; obwohl er selbst kein Kirchgänger war, hatte er nichts gegen die Frömmigkeit seiner Frau und ließ ihr freie Hand bei der christlichen Erziehung der Kinder. Alcide sorgte sich sein ganzes Leben lang um das ewige Heil seines Vaters.

Der Junge erkrankte bald nach seiner Geburt schwer und wurde einer Amme anvertraut, bei der er drei Jahre verbrachte. Als er zu seinen Eltern zurückkehrte, war die Umstellung für ihn wiederum sehr schmerzlich; sie wurde dadurch noch verschärft, dass seine Lieblings–schwester und Patin ins Kloster ging.

Eine Zeit der Entmutigung

Nach Beendigung der Grundschule wurde Alcide im  September 1841 von seinen Eltern an der bischöflichen Schule von Bordeaux eingeschrieben. Seinem Wunsch, Priester zu werden, stand allerdings ein starkes Gefühl der eigenen Unwürdigkeit entgegen: „Ich wagte es nicht, mich zu erklären, denn die Mission des Priesters erschien mir übergroß, und ich betrachtete mich als ihrer unwürdig.« Nach einigen Jahren ließ man ihn auf das Collège von Pons wechseln, „um seine Berufung zu prüfen«. Es begann eine unruhige Zeit für ihn. Am Ende der dritten Klasse teilte der Präfekt seinen Eltern mit, er glaube nicht, dass das Kind „zum geistlichen Stand berufen« sei. Entmutigt schloss sich der Junge zu Beginn des nächsten Schuljahres einer Gruppe leichtsinniger Mitschüler an. „Nach und nach vergaß ich den lieben Gott, und meine Liebe zur Gottesmutter erlahmte ... Ich glaubte leichter, dass ich nicht berufen sei, weil ich es weniger wollte.« Gleichzeitig hatte er alterstypisch mit dem Dämon der Unreinheit zu kämpfen. Eine starke, wenn auch nicht immer angenehme Stütze fand er in der apostolischen Beharrlichkeit seiner im Kloster lebenden Schwester. Er klammerte sich an das Gebet. Ab seinem zwanzigsten Lebensjahr fand sich in seinem Briefwechsel keine Spur dieser Kämpfe mehr. 1850 machte er Abitur und begann 1851 eine Ausbildung in der Finanzverwaltung, in der er bis 1857 als Beamter tätig war. In Bordeaux freundete er sich mit einem jungen Kollegen, Léon Leyer, an, einem eifrigen Katholiken, der ihn nachhaltig beeinflusste.

Léon Leyer führte Alcide in die Vinzenzkonferenz der Pfarrgemeinde Saint-André ein. Dem Neuling lagen von Anfang an die Armenbesuche besonders am Herzen. Er begnügte sich nicht damit, den Bedürftigen Brotgutscheine oder warme Kleidung zu bringen; er dehnte seine Besuche aus, bis er mit den Leuten so vertraut war, dass er die christliche Botschaft an sie weitergeben konnte. Daneben widmete er viel Zeit der Katechisierung und hielt Abendkurse für Soldaten. Nach einer Begegnung mit dem Karmeliterpater Hermann Cohen, einem ehemals berühmten Pianisten, nahm Alcide die nächtliche Anbetung des Allerheiligsten auf. Von Bordeaux wurde er nach drei anderen Städten versetzt. Der rote Faden seines Lebens war sein unermüdliches Engagement für die Vinzenzkonferenzen, die in seinen Augen einen fruchtbaren Boden für die Entstehung wahrer Freundschaften sowie für ein „Familienleben« über alle gesellschaftlichen Schranken hinweg boten. In Nérac stellte er eine Art Suppenküche auf die Beine, die innerhalb eines Jahres über 46000 Mahlzeiten an Bedürftige austeilte.

Als Alcide im März 1853 nach Privas kam, war ihm innerhalb der Vinzenzfamilie ein schmeichelhafter Ruf vorausgeeilt. Ein junges Mädchen aus einer verarmten adligen Familie brachte ihm auf Anhieb große Bewunderung und Zuneigung entgegen. Alcide deutete seine erwachende Gegenliebe als Fingerzeig Gottes und wollte das Mädchen heiraten. Da er allerdings noch minderjährig war, lehnte sein Vater eine Heirat ab und ließ ihn nach Pau versetzen. Alcide sah Cécile de Saint-Germain nie wieder. Er schrieb an seinen Bruder Émile: „Wenn die Pflicht ruft, ist sie für mich die Stimme Gottes, und ich gehorche ... Deswegen habe ich mich ohne Murren zu allem bereit erklärt, was mein Vater wollte.«

Ein doppelter Schicksalsschlag

Nach zwei Jahren in Pau erhielt Alcide die schreckli- che Nachricht, dass seine im Kloster lebende Schwester und engste Vertraute von Gott abberufen worden war. Sie hatte zuvor ihr Leiden und ihr Leben als Opfer für die Berufung ihres Bruders dargeboten. Der Schock führte bei ihm zu einer vollkommenen Umkehr: „Vierzehn Tage nach dem Tod meiner Schwester beschloss ich, Geistlicher zu werden.« Unmittelbar darauf erfuhr er, dass Cécile an Typhus gestorben war. Er war am Boden zerstört. Just in dieser Zeit kamen drei Dominikaner nach Pau, um Exerzitien abzuhalten. Eine Predigt über den Triumph des Lebens über den Tod bestärkte ihn in seinem Entschluss, sich Gott zu weihen; er schwankte allerdings noch, ob er in ein Kloster gehen oder ehelos in der Welt bleiben und den Armen dienen sollte.

Eine Zufallsbegegnung im Zug mit Pater Edmond Boulbon, dem Erneuerer des Prämonstratenserordens in Frankreich, gab schließlich den entscheidenden Anstoß. Alcide wandte sich an Pater Lacordaire, der dem Dominikanerorden gerade wieder auf die Beine geholfen hatte; dieser empfahl ihm, die Lebensgeschichte des hl. Dominikus zu lesen. Im März 1857 erkannte Alcide, dass das Ordensleben ihm die beste Möglichkeit bot, seine Liebe ganz auf Gott auszurichten. Auf den Einwand „Und deine Freiheit? Willst du sie für immer aufgeben?« entgegnete er in seinem Inneren: „Was suchst du und was willst du? Das Heil! Die Gewissheit zu lieben und eines Tages mit einer unendlichen Liebe geliebt zu werden.« Am 4. November 1857 meldete sich Alcide im Noviziat der Dominikaner in Flavigny-sur-Ozerain an, einem mittelalterlichen Städtchen Burgunds, dessen Ursprung auf ein 720 gegründetes und bis zur Revolution 1790 bestehendes Benediktinerkloster zurückgeht.

Das von Pater Lacordaire in Flavigny angesiedelte Noviziat zählte über dreißig Mitglieder. Alcide freute sich über das von eifrigem Gebet und gegenseitiger Liebe geprägte Klima. Er wurde bereits am 13. November unter dem Namen Bruder Jean-Joseph eingekleidet und erneuerte sein Versprechen der Hingabe an Maria. Der Novizenmeister war sowohl von seiner Seelenstärke als auch von seiner innigen Verehrung für das Allerheiligste beeindruckt. Alcide war sehr zielstrebig und wollte ein Heiliger werden. Eine einzige Praxis wirkte abschreckend auf ihn: die vorgesehenen körperlichen Bußübungen. „Wenn du willst, dass ich leide«, sprach er zu Gott, „so schicke mir Leiden ..., aber zähle bitte nicht darauf, dass ich sie mir selbst zufüge!« Bald klemmte er sich beim Möbelrücken den Zeigefinger ein und bekam ein Nagelgeschwür, das immer schlimmer wurde, bis man sogar eine Amputation erwog. In der damaligen Zeit hätte das bedeutet, dass er später keine Messe zelebrieren durfte. Sobald sich Alcide mit dieser Möglichkeit abfand, verschwand das Geschwür. Kurz danach bekam er eine schmerzhafte Knochenmarkentzündung an der Hüfte, die später zu einer Gehbehinderung führen konnte. Seine Vorgesetzten stellten die Profess des Novizen in Frage. Dieser ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen; obwohl er das Gemeinschaftsleben liebte und sich darum bemühte, nutzte er sein zwangsläufig zurückgezogenes Leben zum Beten und wurde 1863 nach einem Aufenthalt in einem Kloster in Toulouse in der Wärme des Südens wieder völlig gesund. Am 10. Mai 1859 war Bruder Jean-Joseph zur Profess zugelassen worden.

„Verzweifelt nie!«

In der Gewissheit zu lieben und vom Inbegriff der  Liebe geliebt zu werden, genoss Bruder Lataste nunmehr einen nie verspürten Frieden. Gleich am nächsten Tag brach er zum Studienkloster von Chalais bei Grenoble auf, wo damals 17 Mitbrüder studierten. Im Juli zogen alle zusammen in das von Pater Lacordaire reaktivierte frühere Kloster von Saint-Maximin in der Provence um. Die Ausbildung rückte das Wissen um Jesus Christus und die Liebe zu ihm in den Mittelpunkt des Seelenlebens. Entscheidend für Bruder Lataste wurde die Begegnung mit der hl. Maria Magdalena, deren Reliquien im Kloster ruhten. „Welchen Platz nimmt Magdalena wohl im Himmel ein?«, fragte er. „Ich meinerseits wäre nicht überrascht, wenn ich die reuige Sünderin eines Tages unmittelbar neben der unbefleckten Gottesmutter erblicken würde.« Am 10. Mai 1862 legte Bruder Jean-Joseph die ewige Profess ab; am 8. Februar 1863 wurde er in Marseille zum Priester geweiht. Seine erste öffentliche Predigt am folgenden Karfreitag brachte seinen Eifer für die Seelen zum Ausdruck: „All eure Vergehen, und mögen sie noch so groß sein, werden niemals an die Größe seiner unendlichen Liebe und seiner unendlichen Barmherzigkeit heranreichen! Was auch immer ihr getan habt, was auch immer ihr tut, liebe Brüder, verzweifelt bitte nie an der Barmherzigkeit Gottes; setzt euch nicht der Gefahr der Verzweiflung aus, indem ihr Gottes Gnade, die just in diesem Augenblick bei euch anklopft, erbitterten Widerstand entgegensetzt.«

Pater Lataste wurde dem Kloster von Bordeaux zugewiesen. Auf dem Wege dorthin hatte er in Lourdes eine Begegnung mit Bernadette Soubirous und war danach fest von der Echtheit der Erscheinungen überzeugt. Nach etwa einem Jahr wurde er in das Frauengefängnis von Cadillac entsandt, um dort Exerzitien zu predigen. Im 19. Jh. setzten die Strafbehörden aus Angst vor Rückfällen auf die therapeutische Wirkung der Haft. Zur Betreuung und moralischen Besserung der Häftlinge riefen sie gerne religiöse Orden zu Hilfe. So waren am 1. Mai 1835 zwölf „Töchter der Weisheit« nach Cadillac gekommen, um unter der Leitung des Direktors die Krankenpflege und die Aufsicht im Gefängnis zu übernehmen. Die Gefangenen hatten absolutes Stillschweigen zu wahren: Dadurch sollte vor allem verhindert werden, dass sie sich gegenseitig im Bösen unterweisen. Die häufigsten Haftgründe waren den Dokumenten zufolge Kindesmord und Diebstahl.

Ein brüderlicher Ton

Beim Betreten des Gefängnisses fragte sich Pater  Lataste, ob er für die sogenannten „gefallenen Mädchen« überhaupt etwas tun könne. Dennoch begann er seine Predigt mit den Worten „Meine lieben Schwestern«. Er schlug einen brüderlichen Ton an, der ihnen helfen sollte, über die Wurzel ihrer Sünden nachzudenken, um sie zur Umkehr zu bewegen. Das nahm drei Predigten in Anspruch, eine davon über die Hölle. Am dritten Tag stellte er eine Parallele zwischen Judas und dem guten Schächer her, der nicht an der Barmherzigkeit Gottes gezweifelt hatte, und hielt eine Meditation über Maria Magdalena. Die matten Gesichter belebten sich allmählich und blühten wieder auf. Der letzte Tag brachte eine Predigt über die Eucharistie sowie eine weitere über den Himmel. Während der langen Stunden, die der Pater im Beichtstuhl verbrachte, verfolgte er ergriffen das Werk der Barmherzigkeit in den Seelen. Voller Verwunderung entdeckte er, dass diese Frauen zu einem tiefen christlichen Leben und zu aufrichtiger Vergebung fähig waren. Als dann am letzten Abend das Allerheiligste in der Kapelle ausgestellt wurde, wurde es von allen angebetet und verehrt. Diese Erfahrung inspirierte den Pater zu der Idee, ein Werk zur Rehabilitation weiblicher Häftlinge zu gründen. Denn die harte Prüfung, die diese zunächst erzwungenermaßen über sich ergehen lassen mussten, konnte sich mit Hilfe der Gnade in eine freiwillige Opfergabe verwandeln.

Im September 1865 kehrte Pater Lataste nach Cadillac zurück, um auf Bitten der Gefangenen ein zweites Mal Exerzitien durchzuführen. Er hielt diesmal nur eine Predigt pro Tag, um mehr Zeit für Beichten und seelsorgerliche Gespräche zu haben. Sein Themenplan war einfach: Tod, Gericht, Himmel und Eucharistie. Ein düsterer Plan, der jedoch der Realität entsprach, denn durchschnittlich wurde alle neun Tage ein Sarg aus dem Gefängnis getragen; diese Realität musste im Licht des Glaubens betrachtet werden. Der Pater verkündete eine Hoffnung, die über jede irdische Hoffnung hinauswies: Die Schönheit des auf ihn wartenden himmlischen Erbes könne dem Christen helfen, seine Umkehr zu bewerkstelligen und Strafen sowie Demütigungen zu ertragen. Am letzten Abend gab es erneut eine Anbetung des ausgestellten Allerheiligsten; manche Frauen harrten schweigend bis Mitternacht, andere sogar bis zur Morgendämmerung aus. Ihr Anblick beeindruckte den Pater beim Verlassen des Beichtstuhls so sehr, dass er seine Abschlusspredigt auf die glühenden Worte der hl. Katharina von Siena aufbaute: „Ich habe die Geheimnisse Gottes gesehen; ich habe Wunder gesehen!« Der Kontrast zwischen dem moralischen Niveau, das er im Gefängnis vorfand, und der Verachtung, die diese Frauen bei ihrer Entlassung erwartete, schien ihm unerträglich. „Was wird aus ihnen?«, fragte er sich.

Ende September 1865 wurde Pater Lataste für ein Jahr zum Präfekten der in Flavigny studierenden Domi–nikaner ernannt. Da er das Werk, zu dessen Gründung er sich berufen fühlte, der Öffentlichkeit präsentieren wollte, verfasste er in dieser Zeit eine Schrift mit dem Titel „Les Réhabilitées«. Er zeigte darin, dass wahre Rehabilitation sich aus Gottes Angebot der Vergebung ergibt.

Menschliche Gerechtigkeit begnügt sich damit, die Schuldigen zu bestrafen; „göttliche Gerechtigkeit sucht das Gute und bringt es durch die Vergebung hervor, die den Menschen verwandelt, ihn zur Umkehr führt und ihn rettet«, sagte Benedikt XVI. am 18. Mai 2011. „Wenn die Bösen Gottes Vergebung annehmen, ihre Schuld bekennen und sich retten lassen, dann werden sie nichts Böses mehr tun und ebenfalls gerecht werden, so dass es nicht mehr nötig sein wird, sie zu bestrafen.«

Ein verkanntes Drama

Das Heftchen Pater Latastes erschien im Mai 1866.  Seine Grundidee bestand im Wesentlichen darin, weibliche Haftentlassene, die der Welt den Rücken kehren und sich Gott, ihrem Erretter, weihen wollten, ins Ordensleben zu integrieren. Der Pater plante also die Gründung einer Kongregation, deren kontemplativ lebenden Mitglieder solche Frauen nach einer Probezeit in ihre Reihen aufnehmen, wobei er durchaus wusste, dass es nur um wenige Personen ging. Durch die Versendung des Heftchens an Abgeordnete und Journalisten wollte er seine Mitbürger jedoch sowohl auf das Drama aufmerksam machen, das die Häftlinge nach ihrer Entlassung erwartete, als auch auf die Verantwortung der Gesellschaft für diese Leute. Der Pater nannte die Gründung zunächst Maison de Béthanie (Haus von Bethanien); aus ihr wurde später die „Kongregation der Dominikanerinnen von Bethanien«. Bethanien hieß das Dorf in Judäa, in dem die mit Jesus befreundeten Geschwister Lazarus, Martha und Maria wohnten, wobei Pater Lataste – der lateinischen Tradition des hl. Augustinus und des hl. Gregors des Großen folgend – die bekehrte Sünderin Maria Magdalena mit Maria von Bethanien gleichsetzte.

Die Leitung des Dominikanerordens reagierte zwar positiv auf Pater Latastes Projekt, doch sie lehnte eine Trägerschaft des Ordens ab. Grundstein des Werkes wurde Mutter Henri-Dominique Berthier, eine Ordens–schwester aus Tours, die sich zur Betreuung weiblicher Strafgefangener berufen fühlte. 1866 erhielt sie die Erlaubnis, an den von Pater Lataste geleiteten Exerzitien teilzunehmen, und sie willigte ein, die Gründung mitzutragen. Das war der Beginn einer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem um 10 Jahre jüngeren Pater. Am 14. August bezogen Mutter Henri-Dominique und Schwester Marguerite-Marie, eine jüngere Nonne ebenfalls aus Tours, ein Haus in Frasnes-le-Château in der Nähe von Besançon. In der französischen Gesellschaft des 19. Jh. wirkte die Neugründung befremdlich, ja sogar skandalös. Feindliche Reaktionen kamen insbesondere aus dem regulierten Dritten Orden der Dominikanerinnen, in den Pater Lataste sein Bethanien ursprünglich hatte einbetten wollen. Diese Nonnen widmeten sich zumeist der Erziehung von Mädchen und waren nun durch die Aussicht aufgeschreckt, von der öffentlichen Meinung mit „reuigen Sünderinnen« gleichgesetzt zu werden. Das Provinzialkapitel des Ordens teilte dem Pater mit, seine Gründung sei prinzipiell problematisch. Doch dieser ließ sich nicht entmutigen. Der Widerspruch erschien ihm sogar als Zeichen göttlichen Segens, der sich im Kreuz äußerte. Schließlich verblassten die Probleme, und die Gründung nahm ihren Lauf.

Für den Pater bedeutete die Gründung Bethaniens keine Veränderung: Er blieb Bruder des Predigerordens. Da ihm viel am Gemeinschaftsleben lag, lehnte er es ab, nach Frasnes überzusiedeln. In den Predigten, die er auf Wunsch seiner Vorgesetzten hielt, tat er sich nicht als kunstvoller Redner hervor, sondern rührte die Herzen durch seine Überzeugung, die er mit Zurückhaltung, Humor und Großherzigkeit präsentierte.

Bald erhört

Die Gesundheit des Paters war durch verschiedene  Krankheiten geschwächt. Seiner Gebrechlichkeit bewusst, verfasste er überraschend einen Brief an den Papst; er bot darin sein Leben zum Opfer dafür dar, dass der hl. Josef zum Schutzpatron der Weltkirche erklärt und sein Name in den Kanon der Messe aufgenommen werde; zugleich bat er den großen Heiligen um seinen Schutz für das Werk der „Rehabilitierten«. Als der selige Pius IX. den Brief zu lesen begann, rief er: „Ach, ach! Der gute heilige Ordensmann! Er wird bald erhört!« Beim Weiterlesen fügte er hinzu: „Das wird nicht einfach!« Gemeint war die Aufnahme des hl. Joseph in den Kanon der Messe; sie erfolgte denn auch erst 100 Jahre später unter dem seligen Papst Johannes XXIII.

Ende Juli 1868 wurde der Pater in Frasnes plötzlich von einer großen Erschöpfung übermannt und war von da an fast völlig ans Bett gefesselt. Zu Weihnachten konnte er noch einmal die Mitternachtsmette zelebrieren, doch er ahnte bereits, dass das seine letzte Messe sein würde. Am nächsten Tag hatte er die Freude, einer Bekehrten aus Cadillac die Ordenstracht einer „Kleinen Schwester« überreichen zu können. In Gesprächen forderte der Pater seine Töchter zu Gottvertrauen auf; einen Einblick in sein Inneres gewährte er durch die Worte: „In mir vollzieht sich eine ewige Anbetung Gottes; sie ist ein einfacher, sich stetig wiederholender und erneuernder Akt meiner Seele, ohne Anfang, ohne Mitte, ohne Ende: Sie ist gleichsam ein Widerschein, ein Licht der Ewigkeit.« Er dankte dem Dominikanerorden für die Jahre, in denen er dessen Habit tragen und so viele Wohltaten empfangen durfte, und vergab den Brüdern, die seine Gründung missbilligt oder gar bekämpft hatten. Als seine Todesstunde nahte, legte er seine Töchter in Anlehnung an die Fürbitte Jesu (vgl. Joh 17) Gott ans Herz, bot sein Leben für sein Bethanien zum Opfer dar und vertraute sein Werk dem hl. Josef an. Am 10. März gab er seine Seele friedlich an Gott zurück.

Die kontemplativ lebenden Dominikanerinnen von Bethanien, die Frauen ungeachtet ihrer Vorgeschichte in ihre Reihen aufnehmen, unterhalten heute vier Häuser: zwei in Frankreich, eine in der Schweiz und eine in der Nähe von Turin. Sie betreuen Haftanstalten in der Nähe ihrer Klöster. „Bindemittel« ihres Gemeinschaftslebens ist dem Wunsch Pater Latastes gemäß die auf die Anbetung des Allerheiligsten ausgerichtete Betrachtung der göttlichen Barmherzigkeit. Es wird erwartet, dass Pater Lataste bald seliggesprochen wird, da alle notwendigen Voraussetzungen für eine Seligsprechung erfüllt sind.

Folgen wir der Einladung Pater Latastes und schöpfen wir aus dem eucharistischen Herzen Jesu die göttliche Liebe, die wir brauchen, um uns zugunsten derer zu vergessen, die halbtot am Wegesrand liegen (vgl. Lk 10,30).

Dom Antoine Marie osb

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