Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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11. Juni 2009
Fronleichnam


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Herbst 1793. Die gewalttätigste Phase der Französischen Revolution hatte gerade begonnen, die sogenannte Terreur. Priester, die dem Heiligen Stuhl treu geblieben waren, wurden gejagt und vor Gericht gestellt. Am Abend des 12. Oktober kehrte der 37 Jahre alte Prämonstratenserpater Pierre Toulorge strahlend aus dem Gerichtshof in seine Zelle zurück, die er mit anderen inhaftierten Priestern und Laien teilte. „Und, was gibt es?« – „Gute Nachrichten! Der Prozess ist zu meinen Gunsten ausgegangen!« Alle dachten, er sei freigesprochen worden. Doch bald stellte sich die Wahrheit heraus: Man hatte ihn zum Tode verurteilt. Die allgemeine Freude schlug in Schmerz um. Schwester Saint-Paul, eine Nonne, die gleichzeitig mit ihm verhaftet worden war, brach in Tränen aus. Der künftige Märtyrer wies sie energisch zurecht: „Die Tränen, die Sie vergießen, sind Ihrer und meiner unwürdig, Schwester! Was sollen die weltlichen Leute sagen, wenn sie erfahren, dass wir zwar der Welt entsagt haben, aber doch große Mühe haben, sie zu verlassen? Wenn wir widerstrebend sterben, werden wir ein schlechtes Beispiel geben, und Ihre Verzagtheit mag vielen Seelen, die sich in der gleichen Situation befinden, den Zugang zum Heil verschließen. Lehren wir sie durch unsere Standhaftigkeit, was sie zu tun haben. Zeigen wir ihnen, dass der Glaube über die Marter siegt, und bahnen wir uns inmitten der letzten Anstrengungen der Hölle einen Weg in den Himmel.« - Wer war dieser unerschrockene Zeuge Christi und seiner Kirche?

Der am 4. Mai 1757 in Muneville-le-Bingard auf der Halbinsel Cotentin geborene und getaufte Pierre-Adrien war das dritte Kind eines Gutsbesitzerehepaars. Die Diözese Coutances, in der er aufwuchs, blieb auch in der Zeit, in der Voltaire allenthalben triumphierte, eine Hochburg religiösen Eifers; so gut wie alle Einwohner gingen zur österlichen Kommunion, und es herrschte kein Mangel an geistlichem Nachwuchs. Pierre-Adrien war fromm; als sich bei ihm die ersten Anzeichen des Wunsches, Priester zu werden, zeigten, erteilte ihm ein Kaplan Lateinunterricht. Bald wurde der junge Mann auf ein Gymnasium geschickt, um dort zunächst seinen humanistischen Schulabschluss zu machen und anschließend Philosophie zu studieren. 1776 wurde er auf das von Eudisten geleitete Große Seminar von Coutances aufgenommen. Pierre-Adrien Toulorge wurde 1782 zum Priester geweiht und danach zum Vikar in Doville ernannt, einer Gemeinde mit sechshundert Einwohnern, deren Pfarrer ein frommer Prämonstratenser war. Viele Einwohner der Gemeinde waren arm, da der amerikanische Unabhängigkeitskrieg die ganze Seefahrt ruiniert hatte. Dem Pfarrer und seinem Vikar war es ein Herzensanliegen, den Bedürftigen zu helfen.

Glückliche Lage

In einer Predigt des jungen Vikars man kann folgende, wahrhaft prophetische Passage lesen: „In welch glücklicher Lage befinden sich doch die Kinder Gottes, liebe Brüder! Gott prüft sie zwar, aber Er prüft sie aus Liebe. Er bereitet ihnen Kummer, doch Er macht ihnen den Kummer liebenswert; sobald sie leiden, ist sein liebendes Herz sogleich gerührt, und es eilt, ihnen Linderung zu verschaffen. Ja, liebe Brüder, spürt man die zärtliche Zuwendung des tröstenden Geistes, ist man sogleich von göttlicher Wonne, von einer unermesslichen Freude erfüllt, die man gar nicht in Worte fassen kann. Das Missgeschick wird anders wahrgenommen, man gewinnt es lieb, man würde geradezu darunter leiden, wenn man nicht mehr zu leiden hätte, und eine getreue Seele wünscht nichts weiter, als dass sie ihr Opfer fortsetzen und vollbringen kann.«

Pierre Toulorge besuchte oft die nahegelegene Prämonstratenserabtei Blanchelande. Der Prämonstra–tenserorden war 1120 vom hl. Norbert gegründet worden; sein zentrales Anliegen war die gemeinsame Feier des Gottesdienstes und die Gemeindeseelsorge. Die Prämonstratenser wurden auch „Regularkanoniker« genannt und trugen eine weiße Tracht. Pierre-Adrien bat den Prior um Aufnahme in den Konvent. Er wollte beides: sich sowohl der priesterlichen Seelsorge auf dem Lande widmen, als auch am Leben der Gemeinschaft teilnehmen, um dort geistlichen Rückhalt zu finden. Er wurde aufgenommen und legte im Juni 1788 seine Ordensprofess ab. Er arbeitete als Seelsorger in den umliegenden Gemeinden, insbesondere als Prediger.

Im Januar 1789 wurden von König Ludwig XVI. die Generalstände (eine Art Nationalversammlung des Königreichs) nach Versailles einberufen. Bald nahmen die Ereignisse eine revolutionäre Wendung. Die verfassunggebende Versammlung, die mit einem gewagten Handstreich die Macht an sich gerissen hatte, orientierte sich ideell an Voltaire: Sie verachtete Ordensleute und begehrte zugleich deren Besitztümer. So wurden am 13. Februar 1790 die religiösen Orden verboten, ihr Besitz wurde verstaatlicht. Im April sandte die Stadtver–waltung von Saint-Sauveur eine Gruppe von Vertretern nach Blanchelande, die eine detaillierte Inventurliste des gesamten Besitzes der Abtei mit Blick auf einen geplanten Verkauf erstellen sollte – das nahm zwei Monate in Anspruch. Anschließend wurde jeder der fünf Kanoniker einzeln befragt, ob er „von den gesetzlichen Vorschriften profitieren und das Kloster verlassen wolle«. Der Prior und der Subprior antworteten mit Ja; die drei anderen Brüder baten darum, weiterhin zusammenleben und ihre Ordensregel befolgen zu können. Letzteren wurde mitgeteilt, dass sie sich in ein „Konzentrationskloster« zurückziehen dürften, wo im Rahmen des Départements die Mönche sämtlicher Orden von Amts wegen zusammengezogen wurden. Angesichts dieser wenig ermutigenden Aussicht tauchten die drei Kanoniker diskret unter, um ihren Dienst in den Gemeinden versehen zu können. Pierre Toulorge fand eineinhalb Jahre lang auf einem benachbarten Bauernhof Unterschlupf.

Fehleinschätzung der Lage

Im Juli 1790 verkündete die Nationalversammlung die sogenannte „Zivilkonstitution des Klerus« - ein schismatischer Akt, der die Kirche in Frankreich der Kontrolle der Zivilverwaltung unterstellte. Bischöfe und Pfarrer mussten fortan vom Volk gewählt werden; dem Heiligen Stuhl wurde jede Autorität abgesprochen. Im November folgte ein weiteres Gesetz: In ihrer Eigenschaft als Staatsbeamte mussten Bischöfe, Pfarrer und Vikare einen Treueeid auf die Zivilverfassung leisten; sonst wurde ihnen mit Absetzung und strafrechtlicher Verfolgung gedroht. Im März 1791 verurteilte Papst Pius VI. die Zivilkonstitution und verbot dem Klerus, den schismatischen Eid abzulegen.

Die „Walze der Revolution« bewegte sich erbarmungslos vorwärts, und so wurden am 26. August 1792 alle verbeamteten Geistlichen, die keinen Treueeid geleistet hatten, per Gesetz des Landes verwiesen. Von nun an zeigten die Verfolger unverhohlen ihren Hass gegen die Priester und gegen die Religion. Die in Frankreich verbliebenen bzw. aus der Emigration zurück--kehrenden „Eidverweigerer« wurden bald mit der Todesstrafe belegt. Der kirchentreue Klerus machte sich in großer Zahl auf den Weg ins Exil. Pater Toulorge unterlag einer Fehleinschätzung: Er dachte, er falle unter das Verbannungsgesetz, obwohl dieses sich nur auf verbeamtete Pfarrer bezog. Er beantragte Reisedokumente für sich und setzte am 12. September auf die nahegelegene englisch-normannische Insel Jersey über. Er fand dort über 500 Priester aus der Diözese Coutances vor und führte mit ihnen fünf Wochen lang das kärgliche Leben eines mittellosen Emigranten. Da machte ihn ein Confrater auf seinen Irrtum in Bezug auf das Verbannungsgesetz aufmerksam. Pierre-Adrien dachte über sein Land und den dortigen Mangel an getreuen Priestern nach und beschloss in der Hoffnung, dass seine Abwesenheit unbemerkt geblieben war, so bald wie möglich zurückzukehren. Er ging heimlich auf einem Küstenstreifen des Cotentin an Land und tauchte sogleich unter; von November 1792 bis September 1793 lebte er im Untergrund und zog verkleidet von einem Dorf zum anderen, um bei Privatpersonen die Messe zu lesen und die Sakramente zu spenden. Oft feierte Pater Toulorge die heilige Messe in behelfsmäßigem Ornat, und die Hauptgebete hatte er eigenhändig aus dem Missale kopiert. Seine Tätigkeit konnte er trotz aller Störmanöver der örtlichen Kommissare und Revolutionsvereine fortsetzen. Jeder, der einen Eidverweigerer erkannte, war aufgerufen, diesen zu denunzieren; es wurde sogar ein Kopfgeld ausgesetzt.

Ein armer Landstreicher

Am Abend des 2. September 1793 sah eine Frau in der Nähe des Dorfes Saint-Nicolas im Vorbeigehen einen „verdreckten, durchnässten und erschöpften« Landstreicher aus einem Dickicht auftauchen. Aus Mitleid lud sie ihn zu sich ein und zündete ein Feuer an. Da der arme Landstreicher nun Vertrauen fasste, gab er sich zu erkennen: Er war Pater Toulorge. Daraufhin gab sich auch die Gastgeberin zu erkennen: Sie war Schwester Saint-Paul, eine durch die Revolution aus ihrem Kloster vertriebene Benediktinerin. Der Priester nahm ihre Einladung für die Nacht an. Am folgenden Tag wurde er als Frau verkleidet, und die Nonne führte ihn zu einer Freundin namens Marotte Fosse; sie dachte, er wäre dort sicherer untergebracht. Doch als einige Arbeiter die seltsame „Bürgerin« vorbeigehen sahen, fielen ihnen ihre Männerstrümpfe und Männerschuhe auf ... Sie dachten an die versprochene Belohnung und folgten den beiden Verdächtigen in einigem Abstand bis Marottes Haus; danach benachrichtigten sie den Revolutionsrat. Pierre-Adrien ruhte sich gerade in der Scheune aus, als drei Mitglieder der Nationalgarde heftig gegen die Haustür donnerten: „Im Namen des Gesetzes, machen Sie auf!« Der Pater war mucksmäuschenstill. Einer der Männer ging Marotte holen, die zur Arbeit gegangen war; man zwang sie, die Tür zu öffnen. Das Haus wurde vom Keller bis zum Dach durchsucht. Der Priester hatte sich unter einem Stapel trockener Flachsballen versteckt; die Gardisten stachen mit ihren Bajonetten auch auf den Stapel ein. Nichts!... Sie wollten gerade unverrichteter Dinge davonziehen, als einer von ihnen noch einmal in die Scheune zurückkehrte und Pierre-Adrien beim Verlassen seines Verstecks entdeckte. Der Priester wurde auf der Stelle verhaftet, und die Beweisstücke (die heiligen Gewänder, der Kelch usw.) wurden beschlagnahmt.

Zwei Tage danach wurden die Verhafteten dem Direktorium des Bezirks Carentan vorgeführt, das über sie urteilen sollte. Um nicht zum Tode verurteilt zu werden, wie gegen die „Rückkehrer aus der Emigration« beschlossen, verschwieg Pierre-Adrien die Tatsache, dass er Frankreich verlassen hatte. In der Hoffnung, ihn zu einer widersprüchlichen Aussage zu verleiten, fragte ihn Kommissar Le Canut geradeheraus: „Sind Sie weder jetzt noch überhaupt jemals auf Jersey oder einem anderen fremden Territorium gewesen?« – „Nein.« – „Aber einer der Eidverweigerer, den wir vor Kurzem befragt hatten, erklärte uns, er hätte Sie auf Jersey gesehen« (Das war von Le Canut frei erfunden). – „Ich habe das französische Territorium nie verlassen, und wenn jemand Ihnen so etwas gesagt hat, so hat er sich entweder getäuscht, oder er war nicht ganz bei Trost.« Als dem Pater anschließend die heiligen Gewänder und die liturgischen Gegenstände vorgehalten wurden, gab er zu, deren Besitzer zu sein.

„Es sei euer Jawort ein Ja, euer Nein ein Nein«

Pater Toulorge hatte also seinen Aufenthalt auf Jersey geleugnet, um seinen Kopf zu retten. Aber das Wort Jesu, Es sei euer Jawort ein Ja, euer Nein ein Nein (Mt 5,37), hallte in seinem Herzen wieder. Er fühlte sich verpflichtet, die ganze Wahrheit zu sagen, welche Folgen das auch immer haben mochte. Am 8. September, dem Festtag von Mariä Geburt, gestand Pierre-Adrien in aller Frühe von sich aus seinen Aufenthalt auf Jersey; dieses Geständnis begleitete ihn nun nach Coutances, wohin er noch am selben Tag verlegt wurde. Der Prämonstratenser traf im ungünstigsten Moment in der Hauptstadt des Départements Manche ein: Denn dort hielt sich gerade der Abgeordnete Lecarpentier als Abgesandter der Convention (des Parlaments der Republik) auf, und zwar mit dem Auftrag, „alle Maßnahmen zu ergreifen, um jede Spur des Königtums und des Aberglaubens auszumerzen«; Lecarpentier wurde unter dem Beinamen der „Henker der Manche« berühmt. In wenigen Tagen waren 140 Personen verhaftet worden.

Am 22. September 1793 erschien Pierre-Adrien vor der Verwaltungskommission von Coutances, die darüber zu befinden hatte, ob er als „Rückkehrer aus der Emigration« einzustufen sei oder nicht. Trotz seiner körperlichen Erschöpfung wurde er ausführlich befragt und er gab seinen kurzen Aufenthalt auf Jersey zu. Die Richter, die sich zwar vor Lecarpentier fürchteten, den Kopf des Priesters jedoch trotzdem retten wollten, erklärten, dass „der Angeklagte als emigriert zu bewerten« sei; als Beweis führten sie jedoch nur die auf seinen Namen ausgestellten Reisedokumente an; seine Aussage wurde nicht in die Akten aufgenommen, um ihm eine Chance zu geben, sich zu entlasten; danach wurde der Priester dem Strafgericht überstellt, das ein Urteil zu fällen hatte. Der vorsitzende Richter dieser Instanz, Loisel, war kein fanatischer Vertreter der Terreur – in der Basse-Normandie war man nicht blut-rünstig. Vor der Sitzung versuchte er noch einmal, den Angeklagten zu retten, indem er ihm empfahl, sein Geständnis in Bezug auf den Aufenthalt in Jersey zu widerrufen und statt dessen irgendeinen beliebigen Aufenthaltsort in Frankreich anzugeben; das Gericht würde sich damit zufriedengeben, und Toulorge könne der Guillotine entgehen. Die Richter waren sogar bereit, an Stelle des Priesters auf die Fragen zu antworten, damit er sein Gewissen nicht zu belasten brauchte; er hätte lediglich zu schweigen. Toulorge jedoch wollte lieber sterben als nicht die ganze Wahrheit zu sagen, selbst vor einem Revolutionsgericht.

Das von Papst Benedikt XVI. veröffentlichte Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche antwortet auf die Frage, „Welche Pflicht hat der Mensch gegenüber der Wahrheit?«: „Jeder Mensch ist in seinen Taten und Worten zur Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit berufen. Jeder hat die Pflicht, die Wahrheit zu suchen, an der Wahrheit festzuhalten und sein ganzes Leben an den Forderungen der Wahrheit auszurichten. In Jesus Christus hat sich die Wahrheit Gottes voll und ganz gezeigt: Er ist die Wahrheit. Wer ihm nachfolgt, lebt im Geist der Wahrheit und hütet sich vor Doppelzüngigkeit, Falschheit und Heuchelei« (Nr. 521). Pater Toulorge wurde durch die Wahrheitsliebe zu seiner heroischen Entscheidung geführt.

Im schriftlichen Urteil des Strafgerichtes vom 12. Oktober 1793 heißt es: „Toulorge, danach befragt, ob er bestätigen könne, dass er das Territorium der Französischen Republik nicht verlassen hätte, sagte, er könne das nicht bestätigen, und gab sogar zu, das französische Hoheitsgebiet verlassen und sich auf die englische Insel Jersey begeben zu haben.«

Auf Wiedersehen, Ihr Herren, bis zur Ewigkeit!

Auf die Verlesung des Urteils folgte ein betretenes Schweigen. Dann hörte man Pierre-Adrien folgende Worte sprechen: „Deo gratias (Gott sei Dank) ... Gottes Wille geschehe und nicht meiner! Auf Wiedersehen, Ihr Herren, bis zur Ewigkeit, wenn Ihr Euch ihrer würdig erweist!« Sein Gesicht strahlte vor Freude. Viele Frauen, die ihm auf dem Rückweg ins Gefängnis begegneten, dachten, er sei freigesprochen worden. Der Verurteilte aß mit gutem Appetit zu Abend, beichtete und konnte noch drei Briefe schreiben. An einen Freund: „Ich habe euch eine sehr glückliche Nachricht mitzuteilen. Man hat mir mein Todesurteil verkündet. Morgen um zwei Uhr werde ich diese Erde voller Abscheulichkeiten verlassen und in den Himmel eingehen. Mein Trost besteht jetzt darin, dass Gott mir sehr große Freude und Gelassenheit schenkt; mich stärkt die Hoffnung, dass ich bald meinen Gott schauen werde ...« An seinen Bruder: „Freu dich, du wirst morgen einen Beschützer im Himmel haben, wenn Gott, wie ich hoffe, mir beisteht, wie Er es bis jetzt getan hat. Freu dich, dass Gott mich nicht nur der Leiden im Gefängnis für würdig gehalten hat, sondern auch des Sterbens für unseren Herrn Jesus Christus. Wende deine Augen lieber dem Himmel zu, lebe als guter Christ und zieh deine Kinder in der heiligen katholischen, apostolischen und römischen Religion groß, außerhalb derer es kein Heil gibt.« Schließlich kündigte er einer weiteren Person seinen bevorstehenden Märtyrertod an und fügte hinzu: „Ein so unmissverständliches Zeichen der Güte Gottes habe ich gar nicht verdient.«

Danach schlief der Todeskandidat den Schlaf der Gerechten. Am nächsten Tag – es war der 13. Oktober, ein Sonntag – wachte er freudig und gelassen auf. Er bat darum, dass man ihm die Haare schneidet und den Bart rasiert; die Gespräche mit seinen Gefährten kreisten um den Himmel. Er betete mit ihnen das Brevier und hörte erst mit der Komplet (dem Nachtgebet) auf; die letzten Verse, die er sprach, lauteten: „Wann, o Herr, wird dein Tag anbrechen, der keinen Untergang kennt?« Dann rief er voller Jubel aus: „Bald werde ich diese Hymne als Danklied im Himmel singen!« Die Guillotine war in der Stadtmitte von Coutances aufgebaut; sie kam hier zum ersten Mal seit der Revolution zum Einsatz. Am Fuße des Schaffotts sagte Pierre-Adrien: „Mein Gott, in deine Hände lege ich meinen Geist. Ich bitte dich um die Wiederherstellung und um die Bewahrung deiner heiligen Kirche. Bitte, vergib meinen Feinden.« Nach der Hinrichtung hielt der Henker seinen Kopf an den Haaren hoch und zeigte ihn dem Volk. Nach Aussage eines Augenzeugen wurde Pierre-Adrien anschließend von frommen Leuten auf dem Friedhof Saint-Pierre so beerdigt, wie das bei verstorbenen Priestern der Brauch war: mit unbedecktem, nach Westen gewandten Gesicht. Sein Antlitz hatte sich einen Ausdruck großer Gelassenheit bewahrt. Schwester Saint-Paul und die anderen Personen, die beschuldigt waren, Pater Toulorge versteckt zu haben, wurden freigesprochen; der Märtyrer hatte seine schützende Hand vom Himmel herab über sie gehalten.

Als 1922 auf Diözesanebene Verfahren zur Seligsprechung von Märtyrern der Französischen Revo–lution in Gang gesetzt wurden, galt der Fall Pierre-Adrien Toulorges als der interessanteste von allen 57 ermordeten Priestern der Diözese Coutances. 1996 wurde das Seligsprechungsverfahren auf Diözesanebene abgeschlossen und wird gegenwärtig in Rom fortgeführt.

Ein alltägliches Zeugnis

In seiner Enzyklika Veritatis splendor vom 6. August 1993 schrieb Papst Johannes-Paul II.: „Das Martyrium ist schließlich ein leuchtendes Zeichen der Heiligkeit der Kirche: die mit dem Tod bezeugte Treue zum heiligen Gesetz Gottes ist feierliches Zeugnis und missionarischer Einsatz usque ad sanguinem (bis hin zum Blutvergießen), auf dass nicht der Glanz der sittlichen Wahrheit in den Gewohnheiten und Denkweisen der Menschen und der Gesellschaft um seine Leuchtkraft gebracht werde. Ein solches Zeugnis bietet einen außerordentlich wertvollen Beitrag, damit man ... nicht in die gefährlichste Krise gerät, die den Menschen überhaupt heimsuchen kann: die Verwirrung in bezug auf Gut und Böse, was den Aufbau und die Bewahrung der sittlichen Ordnung der einzelnen und der Gemeinschaften unmöglich macht ... Wenn das Martyrium den Höhepunkt des christlichen Zeugnisses für die sittliche Wahrheit bildet, zu dem nur vergleichsweise wenige berufen sein können, so gibt es dennoch ein kohärentes Zeugnis, das alle Christen täglich zu geben bereit sein sollen, auch auf Kosten von Leiden und schweren Opfern. In der Tat ist der Christ angesichts der vielfältigen Schwierigkeiten, welche die Treue zur Unbedingtheit der sittlichen Ordnung auch unter den gewöhnlichsten Umständen verlangen kann, mit der im Gebet erflehten göttlichen Gnade zu mitunter heroischem Bemühen aufgerufen, wobei ihn die Tugend des Starkmutes stützen wird, mit deren Hilfe er - wie der heilige Gregor der Große lehrt - sogar ‚die Schwierigkeiten dieser Welt im Blick auf den ewigen Siegespreis lieben kann'« (Nr. 93).

Pater Toulorge wird im Volksmund des Cotentin „Märtyrer der Wahrheit« genannt. Möge er durch seine Fürsprache die Gnade für uns erwirken, dass wir unser ganzes Leben lang Zeugnis für Christus ablegen können, der die Wahrheit selbst ist!

Dom Antoine Marie osb

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