Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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10. Februar 2010
die hl. Scholastika


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Noch ein Junge!« lautete der Freudenruf, der am 10. Mai 1272 im Hause der Familie Tolomei in Siena in der Toskana (Italien) erscholl. Das Kind wurde, wie das damals allgemein üblich war, wahrscheinlich noch am selben Tag auf den Namen Giovanni (Johannes) getauft. Die Familie hatte bereits zwei Söhne; später kamen zwei weitere Knaben und zwei Mädchen hinzu.

Giovanni kam in einem von starkem Geld- und Machtstreben geprägten Milieu zur Welt. Seine Familie war seit dem Ende des 12. Jh. überaus erfolgreich im Handels- und Bankwesen aktiv, und das verhalf ihr unter den – politisch wie wirtschaftlich – Mächtigen und Einflussreichen der Stadt Siena zu einem Spitzenplatz auf der sozialen Leiter. Die Tolomeis gehörten zu den Pionieren des damals entstehenden modernen Bankwesens in Italien. Ihre Handelsaktivität konzentrierte sich auf die großen Messen in der Champagne, wo Tücher aus Flandern sowie orientalische Kostbarkeiten, insbesondere Seide und Gewürze, den Besitzer wechselten. Sie gehörten zu den Bankiers des Papstes und führten die Einziehung sowie den Transport der päpstlichen Steuern einschließlich der damit verbundenen Wechselgeschäfte durch. Die Gunst des Pontifex Maximus öffnete ihnen die Türen vieler Bischöfe, Äbte und Stiftskapitel, die sie ebenfalls mit Krediten versorgten. In dem langwierigen Konflikt, der seit über zweihundert Jahren den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, unterstützt von den „Ghibellinen«, und den Papst, unterstützt von den „Guelfen«, miteinander entzweite, standen die Tolomeis entschieden auf der Seite des Papstes. Als Giovanni geboren wurde, war der Konflikt zwar zugunsten des Papsttums beigelegt, doch die Gemüter blieben noch lange gespalten.

Ein vollendeter Jurist

Italien hat rühmlicherweise seit dem Hochmittelalter  dafür gesorgt, dass die weltlichen Eliten in den Städten im Sinne der klassischen Antike gebildet waren. Giovanni genoss eine hervorragende Erziehung. Dank seines Vaters und seiner Onkel war er mit den Grundlagen des Handels- und Bankverkehrs vertraut. Eine alte Familienchronik bezeichnet ihn zudem als „vollendeten Juristen«. Seine Rechtskenntnisse eröffneten ihm sicherlich den Zugang zu einem administrativen bzw. diplomatischen Amt in seiner Heimatstadt. Er galt als „achtbarer Ritter«, d.h. er war Stamm-Mitglied der kommunalen Armee, die wegen der ständigen Reibereien und Kleinkriege zwischen den italienischen Städten erforderlich war. Nichts–des–toweniger kannte er seine inneren Schwä–chen und betrachtete sich als Sün–der. Er war fest im religiösen Klima Sienas verwurzelt, der Stadt der Hei-ligen, deren Patro-nin die Jungfrau Maria war; ihr zu Ehren wurde im Juni 1311 eine „Maestà«, eine thronende Madonnafigur, umgeben von Aposteln, Heiligen und Engeln, an der Fassade des Domes angebracht. Die Widmung darunter lautete: „Heilige Mutter Gottes, möge Siena durch Dich Ruhe finden« (Ruhe bedeutet hier nicht nur die irdische, sondern auch die ewige Ruhe der Einwohner). Ein ganzes Netz von Bruderschaften, d.h. von frommen Laienvereinigungen, bot in Siena seinen Mitgliedern verlässlichen Beistand an, und zwar sowohl für deren inneres Leben als auch für die Praxis der Nächstenliebe. Giovanni mag dem Verein angehört haben, der sich in einem berühmten Hospital traf, um dort Arme und Kranke zu betreuen. Die Mitglieder pflegten einen asketischen Lebensstil sowie eine Vorliebe für die Einsamkeit. Ein Chronist beschreibt uns Giovanni mit folgenden Worten: „Beseelt vom Hauch des göttlichen Geistes und in seinem Innersten von leidenschaftlicher Inbrunst bewegt, vereint mit seinen edlen Freunden aus Siena, Patrizio de' Patrizi, Francesco und Ambrogio Piccolomini, Tag und Nacht in Betrachtungen versunken, strebte er der himmlischen Wirklichkeit zu. In großer Eintracht entfernten sie sich von den Nichtigkeiten der Welt und bemühten sich, Gott zu dienen.« Sie hatten das Wichtigste begriffen: „Das wahre Glück liegt nicht in Reichtum und Wohlstand, nicht in Ruhm und Macht, auch nicht in einem menschlichen Werk - mag dieses auch noch so wertvoll sein wie etwa die Wissenschaften, die Technik und die Kunst - und auch in keinem Geschöpf, sondern einzig in Gott, dem Quell alles Guten und aller Liebe« (Katechismus der Katholischen Kirche, 1723).

Eines Tages im Jahre 1313 zogen Giovanni und seine Freunde an einen Ort namens Acona, den er als Sproß der Familie Tolomei geerbt hatte. Acona war völlig einsam gelegen und nur von einer Seite aus zugänglich, da sonst von Schluchten umgeben. Von Gottes Geist inspiriert, kehrten die jungen Leute der Stadt, wo ihrem spirituellen Streben viele Hindernisse entgegenstanden, den Rücken und zogen sich an diesen abgelegenen Ort zurück, um ein neues Leben zu beginnen und ihre Gottsuche zu intensivieren.

Eine neue Art zu denken

Am 28. Juni 2009 sagte Papst Benedikt XVI. zum  Abschluss des Paulus-Jahres: „Im Brief an die Römer (12. Kap.) fasst der heilige Apostel Paulus das Wesentliche christlicher Existenz zusammen. Zunächst ganz grundlegend, dass mit Christus eine neue Weise der Gottesverehrung begonnen hat – ein neuer Kult. Er besteht darin, dass der lebendige Mensch selbst Anbetung, ‚Opfer' bis in seinen Leib hinein wird. Nicht mehr Dinge werden Gott dargebracht. Unsere Existenz soll Lob Gottes werden. Aber wie geschieht das? Im zweiten Vers wird uns darauf Antwort gegeben: Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist (12, 2)... Neu werden wir dann, wenn wir uns von dem neuen Menschen Jesus Christus ergreifen und formen lassen. Paulus verdeutlicht diesen Prozess noch, indem er sagt: Neu werden wir, indem wir unsere Denkweise umformen. Wir hätten vielleicht eher irgendwelche Handlungsanweisungen erwartet: was wir anders machen müssen. Aber nein – die Erneuerung muss bis auf den Grund gehen. Unsere Weise, die Welt zu sehen, die Wirklichkeit zu verstehen. Unser ganzes Denken muss von seinem Grund her anders werden. Das Denken des alten Menschen, unser Durchschnit–ts–denken, richtet sich im allgemeinen auf Besitz, Wohlstand, Einfluss, Erfolg, Ansehen und so fort. Aber so ist unser Denken schon zu kurz. So bleibt letztlich das eigene Ich Mittelpunkt der Welt. Wir müssen mit Jesus Christus mit-denken und mit-wollen lernen. Dann sind wir neue Menschen.«

Die Freundschaft, die Giovanni und seine Gefährten miteinander verband, basierte auf ihrer Freundschaft mit Gott; diese von allen gelebte Gemeinsamkeit verlieh der entstehenden monastischen Familie eine eigene Note. Patrizio gehörte zu jenen schwerreichen Kaufleuten, die die höchsten Ämter der Republik Siena zu bekleiden pflegten. Des vielen Reisens sowie seines hohlen Lebens überdrüssig geworden, schloss er sich der Bruderschaft Giovannis an. Aufgrund seiner wirtschaftlichen und administrativen Kenntnisse war er eine wertvolle Stütze der neugegründeten Gemeinschaft. Von allen Gefährten stand er Giovanni am nächsten. Er starb 1347. Ambrogio stammte aus demselben Milieu wie Giovanni. Als Spross einer in Müßiggang lebenden Familie brauchte er einigen Mut, um die mit seinen Freunden begonnene Umkehr erfolgreich durchzustehen. Er starb 1338. Ob Francesco der Gruppe der Gründer angehörte, ist ungewiss. Die drei Freunde fanden in Acona ein Gebäude vor, in dem sie sich zunächst niederließen; sie tauschten ihre Kleider aus feinstem Tuch gegen ärmliche Gewänder und errichteten eine Gebetsstätte, wo sie das Stundengebet beteten und von Priestern ihrer Wahl die Messe lesen ließen - keiner von ihnen war ja geweihter Priester. Ihre Armut zwang sie – für alle völlig ungewohnt -, von ihrer Hände Arbeit zu leben. Sie bauten etwas Gemüse an und pflückten die Früchte, die sie an Ort und Stelle fanden. Da das nicht ganz für ihren Unterhalt reichte, griffen sie auch auf die Erträge von Giovannis Besitz zurück.

Einsamkeit und Freundschaft

Eifrig im Beten«, berichtet ein Chronist, „und  standhaft im Schweigen, waren sie von dem brennenden Wunsch beseelt, Gott zu verherrlichen.« Ihre große Inbrunst und ihre Freude wirkten so anziehend, dass sich der ursprüngliche Kern erweiterte. „In dem Wunsch, sich allein der Zerknirschung des Herzens (der von Liebe erfüllten Reue) und dem stillen Gebet zu widmen – je nach den Gaben, die Gott einem jeden geschenkt hatte –, begaben sie sich auf die Suche nach Ruhe und Stille: die einen im Wald, die anderen in ihrer kleinen Kirche, wieder andere in Erdhöhlen oder an noch versteckteren Orten; in der Abgeschiedenheit erhoben sie ihre reinen Hände im Gebet zu Gott und breiteten ihre Seele vor den Augen Gottes aus.« Ihre Einsamkeit wurde indes durch die Wärme der Freundschaft sowie der Eintracht gemildert.

Dieser Versuch klösterlichen Lebens blieb nicht unbemerkt, und manch einer wetzte seine Zunge an diesen Söhnen aus gutem Hause, die seltsam bekleidet mitten im Wald hausten. Zu jener Zeit entstanden allenthalben Gruppen von sogenannten „Franziskaner-Spiritualen«, die sich unter dem Vorwand besonderer Treue zur radikalen Armut, wie sie vom hl. Franziskus gefordert worden war, zu autonomen Sektierergruppen zusammengeschlossen hatten und gegen die der Heilige Stuhl streng vorging. So reiste ein offizieller Ermittler der Kirche auch nach Acona. Sein Abschlussbericht fiel zugunsten der Asketen aus und verpflichtete diese, sich von ihrem Bischof als Ordensleute anerkennen zu lassen und sich eine Regel zu geben.

Eines Tages, als Giovanni allein in Gebet versunken war, erschien plötzlich eine silberne Leiter vor seinen Augen; an ihrer Spitze standen der Heiland und seine Allerseligste Mutter in strahlend weißen Gewändern; über die Leiter stiegen Engel zur Erde herab, während weißgekleidete Mönche in den Himmel hinaufstiegen. Giovanni rief die Mitbrüder, die in der Nähe waren, herbei und ließ sie an dieser Vision teilhaben, die bereits die Zukunft ankündigte: den Bau eines Klosters, das für viele weißgekleidete Mönche zur Himmelsleiter wurde. „Der Herr erschien an der Spitze der Leiter stehend und zeigte klar und deutlich, dass Er immer bereit ist, denen zu helfen, die für das Himmelreich kämpfen«, berichtete ein Zeitgenosse. Die Engel wiederum führten die Mönche an der Hand der himmlischen Heimat zu. Durch diese übernatürliche Vision gestärkt, beschlossen die Waldbrüder von Acona, sich in die Schule des hl. Benedikt zu begeben. Giovanni nahm im Gedenken an den Abt von Clairvaux, den großen Fürstreiter der Jungfrau Maria aus dem 12. Jh., den Namen Bernardo (Bernhard) an. In Begleitung Patrizios reiste er nach Arezzo zum Bischof. Dieser zeigte sich wohlwollend und großzügig; am 26. März 1319 billigte er durch eine Charta die Gründung des Benediktinerklosters von Acona. Das Kloster war der Jungfrau Maria geweiht und sollte „Santa Maria di Monte Oliveto« heißen – nicht nur wegen der vielen Olivenbäume in der Umgebung, sondern vor allem im Gedenken an den Ölberg, den Jesus mit seinen Jüngern aufzusuchen pflegte. Um sich von anderen Benediktinern zu unterscheiden, durften die frischgebackenen Mönche statt einer schwarzen eine weiße Kutte tragen.

Eine erst gefürchtete, später angenommene Last

Am 29. März wurden Bernhard, Patrizio und  Ambrogio offiziell eingekleidet und legten ihre Profess in die Hand eines vom Bischof eigens für diese Zeremonie entsandten Mönches der Abtei Sasso ab. Nun musste ein Klostergebäude errichtet werden. Der Bischof bestimmte einen Priester, der nach Acona reiste, um einen geeigneten Platz zu finden, dort ein Kreuz in die Erde zu stecken, den Grundstein zu legen und den üblichen Segen zu sprechen. Am Tag nach der Gründungsfeier versammelte sich der Konvent, um einzelne Punkte des Klosterlebens festzulegen. Die Amtsdauer des Abtes wurde auf ein Jahr festgesetzt – im Gegensatz zu den anderen Benediktinerabteien, die den Abt auf Lebenszeit wählten. Erster Abt wurde nicht Bernhard, der unter Hinweis auf seine schlechten Augen anderen den Vortritt ließ, sondern Patrizio. Ihm folgte zunächst Ambrogio, dann Simon de Tura. Im September 1322 trat schließlich Bernhard Tolomei auf inständige Bitten seiner Mitbrüder hin das Amt des Abtes an und wurde fortan Jahr für Jahr wiedergewählt.

Die Tage im Kloster waren mit Stundengebet, Handarbeit – sie fiel bei den neuen Mönchen besonders umfangreich aus – und Lesen ausgefüllt. Die Errichtung der Kirche und des Klostergebäudes setzte schwere körperliche Arbeit voraus, da die Brüder die Ziegelsteine selbst in einem Ofen backen mussten. Um den Lebensunterhalt der Gemeinschaft zu sichern, betrieben sie auch Landwirtschaft und Weinbau. Der Abt achtete selbst bei der Arbeit auf die Einhaltung des Schweigegebotes. Die Armut der Mönche konnte man an ihrer Kleidung, ihren Mahlzeiten und ihrem Nachtlager, das nur aus Strohsäcken bestand, ablesen. Diese Lebensweise spiegelte allerdings lediglich das Leben der Armen in jener Zeit wider.

Die spirituelle Lehre Bernhard Tolomeis nach seiner Wahl zum Abt rückte die Tugend der Demut in den Vordergrund und wies ihr im Leben der Mönche einen zentralen Platz zu. Seine eigene Bekehrung zum monastischen Leben hatte eine völlige Abkehr von den bejubelten Werten der Welt bewirkt. In einem Brief schrieb er, dass das Anhäufen von Tugenden ohne Demut nicht mehr sei als in den Wind geworfener Sand. Allerdings erinnerte er auch daran, dass die Mutter der Demut die Liebe sei, die uns Christus allein schenken kann. Nichts sei daher so wichtig wie Christus nachzufolgen, der uns alles in Überfluss beschert. Die Nächstenliebe müsse speziell in der „heiligen Liebe zur Gemeinschaft« zum Ausdruck gebracht werden, die Bernhard selbst besonders getreu praktizierte: Er benahm sich jedem – speziell den jüngsten – seiner Mitbrüder gegenüber fürsorglich und regierte wie ein Familienvater, der sich seiner Verantwortung und seiner Grenzen bewusst ist; er vertraute auf den Heiligen Geist, der sich durch den Rat der zum Kapitel versammelten Brüder offenbarte. Seine Briefe unterzeichnete er als: „Bruder Bernhard, wiewohl unwürdiger, Abt des Klosters Santa Maria di Monte Oliveto«.

Die Bewahrung der Einheit

Bald baten Bischöfe und weltliche Landesfürsten, die  vom Eifer der neuen Mönche angesteckt wurden, um die Gründung von Klöstern. Die erste erfolgte in Siena im Jahre 1322. Rund zwanzig Jahre später gab es bereits zehn Klöster, oft in der Nähe von Städten, mitunter aber auch ganz einsam auf dem Lande gelegen. Um der neuen, rasch wachsenden monastischen Familie weiterhin den Zusammenhalt einer organischen Einheit zu bewahren, betrachteten die Mönche sie als ein einziges Kloster, das sich an verschiedenen Orten ausdehnte; jeder Konvent blieb mit dem Mutterhaus verbunden und von ihm abhängig, wie die Glieder vom Kopf; alle zusammen bildeten gleichsam einen einzigen Körper. Folglich gab es auch nur einen Abt, den von Monte Oliveto; die anderen Gemeinschaften wurden jeweils von einem Prior geleitet und fügten ihrem Namen immer den Zusatz „Monte Oliveto« an. Das Generalkapitel trat einmal pro Jahr im Mutterhaus zusammen; jede Gründung war durch ihren Prior und zwei weitere Delegierte vertreten. Der Abt eröffnete die Sitzung mit seinem Rücktritt; danach versuchten alle, die Stimme des Heiligen Geistes zu hören, um einen Überblick über das Leben der Kongregation zu gewinnen. Sobald dann ein Abt gewählt oder wiedergewählt war, führte er den Vorsitz im Generalkapitel und ernannte die Priore sowie die wichtigsten Amtsträger für jedes Haus. Zwischen zwei Kapiteln visitierte der Abt die einzelnen Klöster bzw. ließ sie von einem Vertreter visiteren. Um seinen Amtspflichten nachzukommen, musste der Abt also viel reisen; Bernhard Tolomei fiel es sicherlich sehr schwer, seine Einsamkeit aufzugeben. Zudem hatte er die Last der Korrespondenz mit Wohltätern und Bittstellern zu tragen und musste sich mit väterlicher Fürsorge um seine Brüder kümmern. Um die Anerkennung seiner monastischen Familie zu beantragen, schickte der Heilige zwei Abgesandte nach Avignon zum französischen Papst Clemens VI., der selbst Benediktiner war. Am 21. Januar 1344 genehmigte der Papst die in der Bittschrift Bernhards genannten Anträge. Das war gewissermaßen die offizielle Geburtsstunde der Kongregation, die derzeit insgesamt 160 Mönche im Kloster vom Monte Oliveto und zehn weiteren Gründungen zählte.

Mit fortschreitendem Alter wollte sich Bernhard gern aus seinem leitenden Amt zurückziehen, doch am 4. Mai 1347 wählte ihn das Generalkapitel erneut, da es „volles Vertrauen darin hatte, dass er wegen seiner Heiligkeit sich weder vom Willen Gottes noch vom Seelenheil seiner Brüder und Söhne entfernen werde«. Dieses kostbare Zeugnis ist uns von Zeitgenossen Bernhards überliefert.

Anfang 1348 kam die schwarze Pest nach Europa und breitete sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in Norditalien aus. Die Angst vor Ansteckung führte dazu, dass Kranke sich selbst überlassen blieben: „Die Katastrophe«, schrieb ein Zeitzeuge, „hatte soviel Schrecken in die Herzen der Männer und Frauen gepflanzt, dass der Bruder den Bruder verließ, der Onkel den Neffen, die Schwester den Bruder, oft sogar die Frau den Mann. Und was am schwersten wiegt und kaum zu glauben ist: Mütter und Väter wollten ihre Kinder nicht mehr sehen und ihnen nicht helfen, als gehörten sie ihnen nicht.« Angesichts eines so großen Unglücks dachte Bernhard Tolomei keinen Augenblick an seine eigene Sicherheit: Er verließ die Einsamkeit des Monte Oliveto und begab sich in das Kloster von Siena, wo seine Mönche am meisten gefährdet waren, und unterstützte sie sowohl durch seine Anwesenheit als auch durch seinen geistlichen Beistand. Gemeinsam mit ihnen mag er sich um die Pflege der isolierten und verlassenen Kranken der Stadt gekümmert haben und wurde dabei selbst angesteckt. Im Kreise der noch lebenden Brüder und voller Glauben dem Herrn entgegenfiebernd, den er zusammen mit der glorreichen Muttergottes an seiner Seite wusste, gab Bernhard Tolomei am 20. August seine Seele in die Hand Gottes zurück. Wegen der Ansteckungsgefahr wurde sein Leichnam sogleich in einem Massengrab beigesetzt und nie wieder gefunden, als wollte uns der Heilige dadurch auffordern, unsere Augen nicht auf ihn, sondern auf Christus zu richten.

Die monastische Familie des Heiligen wurde von der Seuche schwer getroffen: Zusammen mit dem Abt starben 80 Mönche, etwa die Hälfte aller Brüder. Doch die Kongregation war so vital, dass sie sich in gut zehn Jahren erholte und ihren Aufschwung fortsetzte. Heute ist sie weit über die Grenzen Italiens hinweg bis nach Korea, Hawaii und Ghana präsent; ihre Organisationsform musste zwar den Gegebenheiten angepasst werden, doch das tat der tiefen traditionellen Gemeinschaft der Mitglieder keinen Abbruch. Dank der heiligen Franziska von Rom (1384-1440) existiert auch ein weiblicher Zweig.

Den inneren Menschen stärken

Bernhard Tolomei wurde am 26. April 2009 von  Papst Benedikt XVI. heiliggesprochen. Sein Leben mahnt uns an eine wichtige, bereits vom heiligen Paulus (Eph 3,16) gelehrte Botschaft, die vom Heiligen Vater aufgegriffen wurde: „Der innere Mensch muss stark werden – ein Imperativ gerade an unsere Zeit, in der die Menschen inwendig so oft leer bleiben und deshalb nach Verheißungen und Betäubungen greifen müssen, durch die sie innerlich nur noch leerer werden. Die innere Leere – die Schwäche des inneren Menschen – gehört zu den großen Problemen unserer Zeit. Die Innerlichkeit muss stärker werden – die Wahrnehmungsfähigkeit des Herzens; die Fähigkeit, Welt und Menschen von innen her, mit dem Herzen zu sehen und zu verstehen. Wir brauchen einen vom Herzen erleuchteten Verstand, um das Tun der Wahrheit in Liebe zu erlernen. Das gibt es nicht ohne inneren Umgang mit Gott, ohne das Leben des Gebets. Wir brauchen die Begegnung mit Gott, die uns in den Sakramenten geschenkt wird. Und wir können nicht zu Gott reden im Gebet, wenn wir nicht zuerst ihn selbst reden lassen und ihm zuhören in seinem Wort, das er uns geschenkt hat« (Rede zum Abschluss des Paulus-Jahres am 28. Juni 2009).

Bitten wir den Herrn, er möge uns helfen, das ganze Ausmaß seiner Liebe zu erkennen. Möge Christus in unseren Herzen wohnen und uns alle zu neuen Menschen machen, zu Zeugen der Wahrheit in der Liebe!

Dom Antoine Marie osb

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