Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


Herunterladen als pdf
[Cette lettre en français]
[This letter in English]
[Deze brief in het Nederlands]
[Esta carta en español]
[Questa lettera in italiano]
8. Dezember 2020
am Fest der unbefleckten Empfängnis Mariens


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

In Turin (Norditalien) kennt jeder das „Kleine Haus der göttlichen Vorsehung“ (Piccola Casa della Divina Provvidenza) und nennt es nach seinem Gründer oft nur „Das Cottolengo“. In dem Haus, das neben Einrichtungen für Behinderte auch ein Krankenhaus mit 203 Betten beherbergt, werden von rund 600 Ordensschwestern und 2000 Freiwilligen des Vereins Benedetto Cottolengo über 400 Personen betreut. „Der Grund, warum es dieses ‚Kleine Haus’ gibt, hat nichts mit Assistenzialismus oder Philanthropie zu tun“, sagte Papst Franziskus. „Der Grund ist das Evangelium, das Evangelium der Liebe Christi und die Kraft, die es ins Leben gerufen hat und die es vorangehen lässt: die bevorzugte Liebe Jesu für die Gebrechlichen und die Schwächsten. Das ist der Mittelpunkt. Deshalb geht ein Werk wie dieses nicht voran ohne das Gebet, das die erste und wichtigste Aufgabe des ‚Kleinen Hauses’ ist, so wie Don Cottolengo es zu wiederholen liebte und wie es die sechs Frauenklöster des kontemplativen Lebens, die an dieses Werk angeschlossen sind, unter Beweis stellen“ (21. Juni 2015).

„Ich verstehe nichts davon!“

Geboren am 3. Mai 1786 in Bra, einem Städtchen südlich von Turin, war Giuseppe Benedetto Cottolengo das älteste Kind einer einfachen Bürgerfamilie. Sein Vater war Finanzbeamter, seine Mutter eine überaus fromme Frau, die jeden Tag die Messe besuchte. In der Familie wurden 11 weitere Kinder geboren, von denen 6 in frühem Kindesalter starben und 2 sich nach dem Vorbild des Ältesten dem Herrn weihten. Giuseppe Benedetto zeichnete sich schon früh durch Herzensgüte und ein sicheres Urteil aus, aber auch durch einen lebhaften Charakter. Angeleitet vom Pfarrer des Ortes, konnte er sich nach und nach von seiner Neigung zum Jähzorn befreien. In der Schule erwies sich sein Kopf als nicht besonders aufnahmefähig. „Ihr versteht alles gleich, und ich verstehe nichts“, beschwerte er sich bei seinen Kameraden. Doch Giuseppe Benedetto wollte unbedingt lernen, um ein Heiliger zu werden. Auf Anraten seiner Mutter betete er zum hl. Thomas von Aquin und wurde tatsächlich erhört: Bald zählte er zu den Klassenbesten. Der Gegenwart Gottes zunehmend bewusst, begann er seine Hefte oft mit dem Spruch „Gott sieht mich“ oder „In Domino!“ (In Gottes Namen). Rasch wuchs auch seine Verehrung für die Jungfrau Maria, und er lud die Mitglieder seiner Familie häufig zum gemeinsamen Rosenkranzgebet ein. Seine Mutter machte ihn mit der Armenpflege vertraut, indem sie ihn Geld, Lebensmittel und Kleidung zu den Armen bringen ließ. Als Jugendlicher pflegte er Eltern, Freunde und Bekannte um Spenden für „seine Armen“ zu bitten. Oft steckte er seinen Nachtisch oder sein Pausenbrot in die Tasche, um sie später zu verschenken. Mit 17 Jahren fragte er sich ernsthaft, ob er sich für ein Leben als Mönch oder als Weltgeistlicher entscheiden sollte, und betete viel, um den Willen Gottes zu erkennen.

1802 brachten die Truppen Napoleons das Piemont in ihre Gewalt und verfügten die Schließung der Turiner Universität. Giuseppe Benedetto profitierte von dieser Maßnahme, denn so konnte er die Vorlesungen von zwei nach Bra geflohenen Theologieprofessoren besuchen. 1805 trat er in das Seminar der Diözese Asti ein, zu der seine Geburtsstadt nunmehr gehörte. Er zeichnete sich dort insbesondere durch seine Frömmigkeit, sein gutes Benehmen und sein natürliches Redetalent aus und bekam den Spitznamen „Cicero“. Am 8. Juni 1811 wurde er mit 25 Jahren zum Priester geweiht und bald danach zum Vikar von Corneliano ernannt. Nach dem Sturz Napoleons öffnete die Turiner Universität 1814 wieder ihre Pforten, so konnte Giuseppe Benedetto sein Theologiestudium fortsetzen. 1818 verteidigte er seine Doktorarbeit mit solcher Bravour, dass die Stiftsherren der Heiligsten Dreifaltigkeit auf ihn aufmerksam wurden und ihn in ihre Reihen aufnehmen wollten. Diese Vereinigung von sechs Turiner Priestern versorgte die Kirche Corpus Domini, die im 15. Jh. am Ort eines eucharistischen Wunders errichtet worden war. Cottolengo hatte diese Ehre nie angestrebt und war zudem auch nicht in Turin geboren, wie es die Statuten der Kongregation verlangten. Doch man setzte sich darüber hinweg. Der frischgebackene Stiftsherr zeichnete sich durch besondere Hilfsbereitschaft aus; er bemühte sich, die Arbeit seiner Mitbrüder zu erleichtern, insbesondere durch seinen Einsatz im Beichtdienst sowie in der Armen- und Krankenfürsorge.

„Die Gnade ist gewährt!“

Im September 1827 machte die junge Familie Ferrario mit ihren drei Kindern auf dem Wege von Mailand ins heimatliche Lyon Station in Turin. Die im sechsten Monat schwangere Frau wurde plötzlich von einem starken Unwohlsein befallen. Das Krankenhaus wollte sie wegen ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft nicht aufnehmen, die Entbindungsklinik deswegen, weil es für eine Entbindung noch zu früh war. Der völlig aufgelöste Ehemann fand für seine sterbenskranke Frau keine andere Zuflucht als die Polizeistation. Doch alle Bemühungen schienen vergeblich; man musste einen Priester rufen und traf ausgerechnet auf Don Cottolengo. Dieser bereitete schweren Herzens und vom Anblick der verzweifelten Familie erschüttert die junge Mutter auf den Tod vor. Wie kann eine so große Stadt wie Turin, damals die Hauptstadt eines Königreiches, eine Kranke so sterben lassen, fragte er sich. Nachdem er seine schmerzhafte Aufgabe erfüllt hatte, eilte er vor das Allerheiligste: „Mein Gott, warum? Warum wolltest du, dass ich so etwas miterlebe? Was willst du von mir? Man muss etwas tun!“ Er erhob sich, ließ alle Glocken läuten, zündete sämtliche Kerzen an und rief allen neugierigen Besuchern der Kirche zu: „Die Gnade ist gewährt!“ Denn er fühlte sich plötzlich völlig verwandelt durch die Gewissheit, dass er künftig all seine Fähigkeiten, insbesondere sein Organisations- und Verwaltungstalent, in den Dienst der Bedürftigen stellen müsse.

Er informierte die Mitbrüder über seinen Plan, ein einfaches Haus mit ein paar Betten für Fremde einzurichten, die in den öffentlichen Krankenhäusern keine Aufnahme fanden. Als die Stiftsherren ihm ihre Unterstützung zusagten, ahnten sie nicht, welch großes Werk sie angestoßen haben. Die Anfänge waren bescheiden, da außer mildtätigen Spenden keine weiteren Einkünfte vorhanden waren. Im Januar 1828 wurden zunächst zwei Zimmer angemietet, denen weitere folgten, als die Zahl der Kranken zunahm. Bald meldeten sich freiwillige Mitarbeiter: Der Arzt Doktor Granetti behandelte die Patienten kostenlos, der Apotheker Anglesio lieferte die Medikamente, und die „Damen der Nächstenliebe“ dienten als Krankenschwestern. Doch diese frommen Leute konnten nicht alle in einem Krankenhaus erforderlichen Aufgaben erfüllen. So gründete Cottolengo mit Hilfe einer jungen Witwe, Maria-Anna Nasi, die Gemeinschaft der „Töchter der Nächstenliebe“, die nach einer Regel lebten und unter dem Namen „Vinzentinerinnen“ bekannt wurden.

Obwohl das Werk mit großem Wohlwollen begleitet wurde, stieß der Gründer vielfach auch auf Kritik. Er habe sich in Projekte gestürzt, hieß es, deren Verwirklichung seine Mittel übersteigen. Freunde, Eltern und Mitbrüder waren besorgt und rieten ihm, seinen wahnwitzigen Plan aufzugeben; die Gläubiger drängten und drohten; im Amt des Erzbischofs wurde dem armen Stiftsherrn nachgesagt, er wolle sich unter dem Vorwand der Armenhilfe selbst bereichern. Doch die schlimmste Heimsuchung war die Cholera, die 1831 im Piemont ausbrach. Besitzer und Nachbarn des Hospitals waren beunruhigt und ließen das Haus schließen. In seinem großen Gottvertrauen betrachtete Don Cottolengo diese Prüfung lediglich als Anstoß, das Krankenhaus anderswo und in größerem Maßstab wieder aufzubauen. Bald fand er im Norden Turins im verrufenen Viertel Valdocco ein kleines Haus zur Miete, das er am 27. April 1832 der Seligsten Jungfrau weihte. Das war die Gründungsstunde des „Kleinen Hauses der göttlichen Vorsehung“, das auch heute noch Piccola Casa genannt wird. „Es heißt so“, erklärte der Gründer, „weil es gemessen an der ganzen Welt, die ja ein Haus der göttlichen Vorsehung ist, sicherlich nur ein winzig kleines Haus ist, und weil es kein Menschenwerk ist, sondern ein Werk der göttlichen Vorsehung, in dem sie allein befiehlt, lenkt und regiert.“ Über dem Eingang steht folgendes Wort des hl. Paulus, das zugleich Don Cottolengos Wahlspruch war: Caritas Christi urget nos – Die Liebe Christi drängt uns (2 Kor 5,14).

Unmittelbare Hilfe

Don Cottolengo sagte immer wieder: „Ich bin ein Taugenichts … Aber die göttliche Vorsehung weiß gewiss, was sie will. Ich muss ihr nur folgen. Vorwärts in Domino!“ Die Piccola Casa lebte nur von der Barmherzigkeit von Wohltätern. Fragte man den Pater, woher das nötige Geld für seine Einrichtung komme, erwiderte er: „Die Vorsehung schickt mir alles.“ Um dieses Thema ranken sich viele Anekdoten: Einmal wollte ein Gläubiger, der sein Geld nicht eintreiben konnte, unter wüsten Beschimpfungen fortlaufen, als Cottolengo ihn zu einem gemeinsamen Gebet in der Kapelle einlud. Während sie die lauretanische Marienlitanei beteten, kam ein Dienstbote zur Schwester Pförtnerin und übergab ihr zwei Säcke voll Geld mit den Worten: „Bedanken Sie sich bei der göttlichen Vorsehung!“ Nachdem Don Cottolengo seine Schulden beglichen hatte, sagte er zum Gläubiger: „Sieh, wie die Gottesmutter uns sofort geholfen hat!“ So etwas kam in der Piccola Casa öfter vor. Wie eine Schwester bezeugte, kam einmal sogar die Madonna selbst, um den Pater nach einem harten Schlag zu trösten.

Der Pater sah die unerhörte Expansion der Piccola Casa voraus. In wenigen Monaten waren die umliegenden Cafés und Häuser aufgekauft und umgebaut. Es entstand eine Art Dorf, in dem jedes Gebäude einen bedeutungsvollen Namen erhielt: „Haus des Glaubens“, „Haus der Hoffnung“, „Haus der Nächstenliebe“. Männer und Frauen, Ordensleute und Laien schlossen sich freiwillig zu familienähnlichen Gemeinschaften zusammen, um die sich ergebenden Schwierigkeiten gemeinsam zu meistern. 1833 wurden drei Pavillons für Epileptiker und zwei für Waisen eröffnet. 1834 kamen zwei Neubauten für Geisteskranke hinzu, in den folgenden Jahren Erziehungsheime für Taubstumme, für Jugendliche in Krisensituation und für vernachlässigte Kinder. „Studiert gut den Katechismus und lebt nach seinen Lehren“, mahnte der Pater. „Der Katechismus ist alles: Wenn man es gut kennt, weiß man genug; kennt man es nicht, weiß man nichts.“ Den Häusern waren Werkstätten angeschlossen, in denen die Betreuten einen Beruf erlernen konnten.

Wurde Cottolengo ein Mensch in Not empfohlen, so nahm er ihn umgehend auf. Handelte es sich um einen neuen Fall, so richtete er eine neue „Familie“ von Kranken bzw. Bedürftigen ein; riet man zur Vorsicht, erwiderte er: „Wir dürfen nicht nach den Ursachen der Krankheit suchen. Wir wissen nur, dass jemand erkrankt ist, und zwar an einer Krankheit, deretwegen er überall abgewiesen wird. Darum hat ihn die göttliche Vorsehung zu uns geschickt.“ Seinen Mitarbeitern riet er: „Am meisten sollt ihr die Verlassensten, die Abstoßendsten, die Lästigsten lieben. Sie sind allesamt kostbare Perlen. Wenn ihr richtig begreifen würdet, für welche Persönlichkeit diese Armen stehen, würdet ihr sie auf Knien bedienen.“ Denn er war fest der Überzeugung: „Die Armen sind Jesus, sie sind nicht nur sein Abbild. Sie sind Jesus persönlich, und wir müssen ihnen daher dienen. Alle Armen sind unsere Herren, und die sichtlich Abstoßendsten unter ihnen noch viel mehr; sie sind wahre Schätze.“

Nähe schaffen und fördern

Das grundlegende Prinzip des Werkes des hl. Giuseppe Benedetto Cottolengo war von Anfang an die Übung der christlichen Nächstenliebe gegenüber allen“, sagte Papst Benedikt XVI. „So konnte er in jedem Menschen, auch in denen, die am Rande der Gesellschaft stehen, eine große Würde erkennen. Er hatte verstanden, dass jene, die mit Leiden und Ablehnung konfrontiert sind, dazu neigen, sich zu verschließen und zu isolieren und Misstrauen gegenüber dem Leben zu zeigen. Soviel menschliches Leiden auf sich zu nehmen bedeutete für unseren Heiligen daher, Beziehungen liebevoller, vertrauter und unmittelbarer Nähe zu schaffen und Strukturen ins Leben zu rufen, die diese Nähe fördern können, im Stil der Familie, der auch heute noch gepflegt wird“ (Turin, 2. Mai 2010).

Trotz des frühen Todes von Maria-Anna Nasi 1832 wuchs die Anzahl der Vinzentinerinnen weiter. Neben ihnen waren auch Brüder des Heiligen Vinzenz in der Einrichtung tätig. Zusätzlich gründete Don Cottolengo fünf Klöster für kontemplative Nonnen sowie ein Kloster für Einsiedler. Im Kloster für taubstumme Schwestern war das Allerheiligste Tag und Nacht zur Anbetung ausgestellt. Der Pater betrachtete diese Häuser des Gebets als das „Herz“ des gesamten Werks. Er richtete ein spezielles Seminar zur Ausbildung von Priestern für die Piccola Casa ein, dem 1838 eine Krankenschwesternschule folgte. 1840 beschloss er die Gründung eines Heims für reuige Sünder, die zuvor dem Laster verfallen waren. Bald hatte das Heim an die dreißig Bewohner, deren ehemalige Kumpanen den Pater mit dem Tode bedrohten und ihn mehrmals zusammengeschlugen.

Jeder in der Piccola Casa hatte eine feste Aufgabe: Arbeiten, Beten, Bedienen, Lehre oder Verwaltung. Vor allem wurde viel gebetet: Kranke, Kinder und Nonnen wechselten sich tagsüber beim Beten in der Kapelle ab.

Bei seinem Besuch in der Piccola Casa unterstrich Papst Benedikt XVI. die Rolle der Kranken: „Liebe Kranke, ihr vollbringt ein wichtiges Werk: Indem ihr euer Leiden in der Vereinigung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus lebt, habt ihr teil am Geheimnis seines Leidens für das Heil der Welt. Wenn wir Gott durch Christus unseren Schmerz darbringen, können wir am Sieg des Guten über das Böse mitwirken, denn Gott macht unser Angebot, unsere Geste der Liebe fruchtbar. Liebe Brüder und Schwestern … fühlt euch nicht von der Bestimmung der Welt ausgeschlossen, sondern fühlt euch als kostbare Bausteine eines wunderschönen Mosaiks, das Gott als großer Künstler Tag für Tag herausbildet, auch durch euren Beitrag. Christus, der am Kreuz gestorben ist, um uns zu retten, hat sich ans Kreuz schlagen lassen, damit aus diesem Holz, aus diesem Zeichen des Todes das Leben in all seiner Pracht wiedererstehen kann. Diese Casa ist eine der reifen Früchte, die aus dem Kreuz und aus der Auferstehung Christi hervorgegangen sind, und sie zeigt, dass das Leiden, das Böse, der Tod nicht das letzte Wort haben, denn aus dem Tod und aus dem Leiden kann das Leben neu erstehen“ (2. Mai 2010).

Ein anderer Geist

Don Cottolengo, der ein arbeitsames Leben führte, Kranke pflegte und in den Pausen mit geistig behinderten Jugendlichen spielte, hatte auch eine kontemplative Seite: Er verbrachte ganze Nächte in Gebet und fällte keine wichtige Entscheidung, ohne vorher zu beten. Seine „Familien“ hielt er an, nur nach Gottes Ruhm und nach Heiligkeit zu streben. „Es ist nicht verboten, um diese oder jene Sache zu beten; die Kirche gibt uns ein Beispiel dafür, wenn sie uns um irdische Güter beten lässt. Aber uns muss ein anderer Geist beseelen. Unser Herr hat uns gelehrt, zuallererst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen, der Rest wird uns geschenkt. Für mich besteht der einzuschlagende Weg im bedingungslosen Vertrauen auf die Vorsehung … Die Vorsehung weiß besser, was uns bekommt.“ Doch es gab auch Tage, an denen Don Cottolengo unter den Schulden fast zusammenbrach, von Gläubigern bedrängt, vor Gericht zitiert wurde. „Du glaubst, ich bin auf Rosen gebettet“, schrieb er an seinen Bruder. „Nein! Wenn ich auf mich hörte, würde ich mit all dem Schluss machen; aber Gott will das von mir.  Sobald ich innehalte, höre ich die Vorwürfe der Armen.“ Als einmal weniger Spenden flossen, notierte er: „Wenn die Vorsehung es uns an etwas mangeln lässt, liegt das nicht an ihr; das kommt sicher von uns; lasst uns unser Gewissen erforschen, wir werden bestimmt auf eine Sünde stoßen!“ Eines Tages unterbrach er seine Predigt mit dem Ruf: „Die Sünde lebt mitten unter uns. Einer von uns hat den Herrn schwer beleidigt. Er möge uns entweder sofort verlassen oder sich bessern und läutern. In der Piccola Casa ist die Sünde ein großes Unrecht, eine grobe Undankbarkeit. Leben wir nicht in einem Haus, das Gott täglich mit Wohltaten überschüttet, das das Brotvermehrungswunder jeden Tag aufs Neue erlebt?“

Don Cottolengo war kein trauriger Heiliger. Mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht und stets zu einem Scherz aufgelegt, verbreitete er Freude um sich. Die Bewohner der Piccola Casa waren gern mit ihm zusammen. „Es reicht uns, wenn wir ihn sehen“, sagten sie, „seine Gegenwart tröstet uns, und wir sind glücklich, wenn er mit uns spricht.“ Den Vinzentinerinnen empfahl er: „Ihr dient Jesus in den Armen, Kranken und Kindern. Seid daher immer fröhlich, sonst macht ihr den Eindruck, als würdet ihr unseren lieben Jesus nur widerwillig empfangen.“

Eine ungewohnte Einladung

1841 brach in Turin eine Typhusepidemie aus. Viele Bewohner der Piccola Casa erkrankten; sechs der zehn Priester, die das Haus versorgten, starben. Don Cottolengo blieb zunächst verschont und arbeitete weiter, ohne sich zu schonen. „All das geschieht, weil Gott will, dass ich mich noch mehr von allem löse“, sagte er. „Ich spüre etwas Ungewohntes in mir: Es lädt mich ein, in den Himmel emporzusteigen. Es ist die Stunde, sein Päckchen zu schnüren und sich in Domino (zum Herrn) auf den Weg zu machen.“ Doch die Vorsehung war wachsam: Der Gründer hielt solange durch, bis sein Nachfolger Don Anglesio, der hilfsbereite Apotheker der ersten Tage, der mittlerweile zum Priester geweiht war, sich vom Typhus völlig erholt hatte. Erst dann erkrankte er selbst; erschöpft verabschiedete er sich von jeder seiner „Familien“, segnete sie und versicherte ihnen, er werde sie vom Himmel aus beschützen. Anschließend zog er sich zu seinem Bruder zurück, der Pfarrer in Chieri in der Nähe von Turin war. Don Cottolengo war knapp 56 Jahre alt, als er am 30. April 1842 starb. Seine letzten Worte waren: „Misericordia, Domine! (Erbarmen, Herr!) Gute und heilige Vorsehung!… Heilige Gottesmutter, jetzt bist du dran!“

Der 1917 seliggesprochene „italienische Vinzenz von Paul“ wurde am 29. April 1934 von Pius XI. heiliggesprochen. Heute existieren in Italien 35 Filialen der Piccola Casa. Cottolengos Mönche und Nonnen sind daneben auch in der Schweiz, in Äthiopien, Kenia, Tansania, Indien, Ecuador und in den Vereinigten Staaten tätig.

Nicht jedem ist es gegeben, so spektakuläre Werke ins Leben zu rufen; aber jeder kann durch kleine Akte der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit dort, wo die Vorsehung ihn hingestellt hat, die Liebe Gottes und das Wissen um den wahren und einzigen Heiland Jesus Christus verkünden. „Die Werke der Barmherzigkeit sind Liebestaten, durch die wir unserem Nächsten in seinen leiblichen und geistigen Bedürfnissen zuhilfe kommen“, lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche. „Belehren, raten, trösten, ermutigen sowie vergeben und geduldig ertragen, sind geistliche Werke der Barmherzigkeit. Leibliche Werke der Barmherzigkeit sind vor allem: die Hungrigen speisen, Obdachlose beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen und Tote begraben. Unter diesen Werken ist das Almosenspenden an Arme eines der Hauptzeugnisse der Bruderliebe; es ist auch eine Gott wohlgefällige Tat der Gerechtigkeit“ (Nr. 2447).

Heute, wo viele unserer Zeitgenossen ihre Hoffnung einzig auf irdische Güter setzen, beten wir durch die Fürsprache des heiligen Giuseppe Benedetto Cottolengo um die Gnade, zuallererst das Reich Gottes zu suchen und in allem auf die göttliche Vorsehung zu vertrauen. „Gott wird jedem, der sich Ihm in einzigartiger Weise anvertraut“, sagte der Heilige, „eine einzigartige Antwort geben.“

Dom Antoine Marie osb

Die Veröffentlichung des Rundbriefes der Abtei St.-Joseph de Clairval in einer Zeitschrift, oder das Einsetzen desselben auf einem ,,web site" oder einer ,,home page" sind genehmigungspflichtig. Bitte wenden Sie sich dafür an uns per E-Mail oder durch https://www.clairval.com.