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9. November 2022 Weihetag der Lateranbasilika zu Rom |
Nach der Geburt ihres zweiten Kindes Gabriel am 11. Januar 2001 erlitt Claudia Cristina dos Santos in der São-José-Entbindungsklinik in Sergipe (Brasilien) einen schweren Blutsturz. Es wurde umgehend eine Gebetskette gebildet, um die selige Schwester Dulce um ihre Fürsprache zu bitten, und die Kranke bekam eine kleine Reliquie der Seligen in die Hand. Die Blutung hörte auf. Doktor Sandro Barral, ein Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses, der den Vorgang untersuchte, stellte fest: „Niemand kann erklären, warum diese Besserung in einem derart ungünstigen Zustand so schnell eintrat.“
Der junge Mauricio aus São Salvador da Bahia (Brasilien) erblindete mit 22 Jahren vollständig infolge einer Starerkrankung. 14 Jahre danach bekam er 2014 eine Bindehautentzündung. Er nahm ein Bild von Schwester Dulce und legte es auf seine Augen, um seine Schmerzen zu lindern. „Als ich wieder erwachte“, berichtete er, „sah ich plötzlich meine Hand. Ich begriff, dass Schwester Dulce ein Wunder bewirkt hatte. Sie hat mir viel mehr gegeben als das, worum ich gebeten hatte: Ich konnte wieder sehen!“
Diese beiden von der Kirche anerkannten Wunder legten den Grund für die Selig- und Heiligsprechung von Schwester Dulce.
Maria Rita de Souza Brito Lopes Pontes wurde am 26. Mai 1914 in São Salvador da Bahia im Nordosten Brasiliens geboren. Anfang des 20. Jh. florierten sowohl die Industrie als auch der Handel in der Stadt; gleichwohl gab es eine beträchtliche Anzahl von Armen. Maria Ritas Vater Augusto Lopes Pontes war Zahnarzt und Universitätsprofessor, die Mutter Dulce Maria de Souza eine inbrünstige Katholikin; die Atmosphäre des Hauses war vom Glauben geprägt. Maria Rita war ein fröhliches Kind, spielte gern mit Puppen und liebte das Angeln. Sie war erst 7 Jahre alt, als ihre Mutter an den Folgen ihrer sechsten Entbindung starb. Zwei ältere unverheiratete Schwestern kümmerten sich fortan um die drei Jüngsten. Im Jahr danach empfing Maria Rita die Erstkommunion.
Die Pforte des hl. Franziskus
1924 heiratete Augusto Lopes wieder; seine zweite Frau kümmerte sich liebevoll um die Kinder ihres Mannes und gebar noch zwei weitere Kinder. Mit 13 Jahren war Maria Rita ein begeisterter Fußballfan. Es gab keine härtere Strafe für sie als ein Verbot, das sonntägliche Fußballspiel zu besuchen. In dieser Zeit entwickelte sie eine enge Beziehung zu ihrer Tante Madeleine. Diese war als Mitglied einer dem Heiligsten Herzen Jesu geweihten Bruderschaft in verschiedenen sozialen Werken engagiert. Maria Rita begleitete sie in die Armenviertel der Stadt, in denen allgemeine religiöse Ignoranz und ein mit heidnischen Elementen vermischter Glaube vorherrschte. Sie äußerte damals den Wunsch, Nonne zu werden, und besuchte jeden Tag die Messe. Auch ihr Vater beteiligte sich als Wohltäter, Mitarbeiter und Mitglied des Leitungsgremiums an einem sozialen Werk zugunsten der Arbeiter in einem der ärmsten Viertel. Mit dem Einverständnis der Familie und unterstützt von ihrer Schwester Dona Dulcinha verwandelte Maria Rita das Haus der Familie in ein Fürsorgezentrum für Bedürftige, das bald als die „Pforte des hl. Franziskus“ bekannt wurde.
Eines Tages suchte Maria Rita die Franziskanerinnen auf und bat um Aufnahme ins Kloster; man hielt ihr jedoch entgegen, sie sei noch zu jung. Ihr Vater, der sie eigentlich verheiraten wollte, sah in dem Wunsch lediglich eine vorübergehende Laune. Als sie dann mit 15 Jahren ihr erstes Jahr an der Pädagogischen Hochschule beendet hatte, schrieb sie erneut an die Oberin des Klosters – wieder ohne Erfolg. Ihr Vater nahm ihren Schritt diesmal ernst und erklärte, erst nach Beendigung ihrer Ausbildung zur Lehrerin drei Jahre später werde er ihr erlauben, ins Kloster zu gehen. Als es soweit war, lernte Maria Rita den Franziskanerpater Hildebrand Kruthaup (1902-1986) kennen, ihren ersten geistlichen Mentor. Der in Deutschland geborene Franziskaner war 1924 mit einigen Mitbrüdern nach Brasilien gekommen, um dort den Orden des hl. Franziskus wiederzuerrichten. Auf seine Empfehlung hin trat Maria Rita 1933 im 400 km von Bahia entfernten São Cristóvão als diplomierte Lehrerin und mit Zustimmung ihres Vaters in die Kongregation der „Missionsschwestern von der Unbefleckten Empfängnis der Mutter Gottes“, einen Zweig des Franziskanerordens, ein.
Nach dem aufregenden Leben in São Salvador tauchte Maria Rita nun in eine Welt des Schweigens ein und nahm freudig und voller Glauben die neue Lebensweise an. Da sie aber ungeschickterweise weder putzen noch waschen konnte, ohne ihre Kleidung schmutzig zu machen, wurde sie von der Novizenmeisterin oft getadelt. Obwohl sie die einzige Diplomierte unter den Postulantinnen war, nahm sie demütig mit den anderen am Unterricht teil. Am Ende ihres Postulats wurde sie in Erinnerung an ihre Mutter unter dem Namen Schwester Dulce eingekleidet. Ihr Vorbild war die hl. Therese von Lisieux; wie sie war die junge Novizin bestrebt, jede alltägliche Handlung liebevoll auszuführen. Am 15.August 1934 legte sie mit 20 Jahren ihre ersten Gelübde ab.
Der gute Engel von Bahia
Die frischgebackene Schwester wurde als Lehrerin an ein Kolleg in São Salvador entsandt. Trotz aller Bemühungen gelang es ihr jedoch nicht, das Interesse ihrer Schülerinnen zu wecken und für Ordnung zu sorgen: Ihre Berufung lag anderswo. Im September 1935 fing sie zusammen mit zwei Mitschwestern im spanischen Krankenhaus von São Salvador als Hilfsschwester an. In den 4 Monaten, die sie dort verbrachte, arbeitete sie am Empfang sowie in der Röntgenabteilung. Sie konnte die medizinischen Maßnahmen und den geistlichen Beistand für die Kranken und deren Familien sehr gut miteinander verbinden. 1941 absolvierte sie sogar eine pharmazeutische Ausbildung. Von 1935 an unterstützte sie die Armengemeinschaft von Alagados, die in einer Pfahlbausiedlung lebte. Sie besuchte die Arbeiter, betete mit ihnen, versorgte bedürftige Familien mit Nahrung und Medikamenten und ermunterte sie, ihre religiösen Pflichten zu erfüllen. Sie war als „der gute Engel von Bahia“ bekannt. Ihre Besuche wurden Erzbischof Alvaro da Silva allerdings als ungehörig gemeldet, da die Männer dabei oft nur kurze Hosen trugen; die Schwester wurde vor den Erzbischof zitiert. Sie konnte sich leicht rechtfertigen und verwies darauf, dass sie den Arbeitsablauf in keiner Weise störe, da sie ihre Besuche nicht in der Arbeitszeit, sondern in der Mittagspause mache.
1936 gründete sie zusammen mit Pater Hildebrand die erste Arbeiterbewegung der Stadt, um Solidarität herzustellen und die Arbeiter im christlichen Glauben zu vereinen: den Arbeiterverein des hl. Franziskus. Es ging dabei nicht um soziale Forderungen, sondern um eine konkrete Verbesserung der Lebensbedingungen. Finanziert wurde der Verein von den Arbeitgebern sowie reichen Bewohnern der Stadt, die sich auch an den gemeinsamen Aktivitäten beteiligten. Der Verein trat nicht für den von den Marxisten geschürten Klassenkampf ein, sondern für die Zusammenarbeit der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure und zog sich schon bald den Hass der Kommunisten zu.
In seiner Enzyklika Rerum novarum vom 15. Mai 1891 schrieb Papst Leo XIII.: „Ein Grundfehler in der Behandlung der sozialen Frage ist sodann auch der, dass man das gegenseitige Verhältnis zwischen der besitzenden und der unvermögenden, arbeitenden Klasse so darstellt, als ob zwischen ihnen von Natur ein unversöhnlicher Gegensatz Platz griffe, der sie zum Kampf aufrufe. Ganz das Gegenteil ist wahr. Die Kirche, als Vertreterin und Wahrerin der Religion, hat zunächst in den religiösen Wahrheiten und Gesetzen ein mächtiges Mittel, die Reichen und die Armen zu versöhnen und einander nahezubringen; ihre Lehren und Gebote führen beide Klassen zu ihren Pflichten gegeneinander und namentlich zur Befolgung der Vorschriften der Gerechtigkeit“ (Nrn. 15 und 16). Der hl. Johannes Paul II. ergänzte in seiner Enzyklika Centesimus annus vom 1. Mai 1991: „Was am Klassenkampf verurteilt wird, ist die Auffassung eines Konfliktes, der sich von keiner Erwägung ethischer oder rechtlicher Art leiten lässt; der sich weigert, die Personenwürde im anderen (und damit die eigene) anzuerkennen; der daher einen angemessenen Vergleich ausschließt und nicht mehr das Gesamtwohl der Gesellschaft, vielmehr ausschließlich das Sonderinteresse einer Gruppe im Auge hat, das sich an die Stelle des Gemeinwohls setzt und daher vernichten will, was sich ihm entgegenstellt“ (Nr. 14).
Mit Liebe kann man alles überwinden
1938 wurde der Verein in „Kreis der Arbeiter von Bahia“ umbenannt. Die meisten Mitglieder waren arm und oft Analphabeten. Für einen bescheidenen monatlichen Beitrag bekamen sie vom Kreis ärztliche und zahnärztliche Versorgung, Erholungsmöglichkeiten, bald auch Fortbildungslehrgänge und Workshops geboten. Zudem gab es finanzielle Unterstützung für in Not geratene Familien. Der Verein wurde von einem Laien geführt, Pater Hildebrand diente als geistlicher Berater. Schwester Dulce hatte kein offizielles Amt inne, engagierte sich aber stark als Mitarbeiterin. Sie war überzeugt, dass man mit Liebe alle Hindernisse überwinden und alle Opfer auf sich nehmen kann. Der Kreis gedieh wunderbar: 1950 zählte er 25000Mitglieder und war somit ein echter Motor sozialen Fortschritts in der Stadt.
Der hl. Johannes Paul II. stellte später fest: „Dem natürlichen Recht des Menschen, private Vereinigungen zu bilden, kommt ein besonderer Vorrang zu. Das besagt zunächst das Recht, Berufsvereinigungen von Unternehmern und Arbeitern oder von Arbeitern allein zu gründen. Hierin wird der Grund dafür gesehen, dass die Kirche die Gründung von Vereinigungen, die sich heute Gewerkschaften nennen, verteidigt und billigt. Das geschieht gewiss nicht aus ideologischen Vorurteilen oder um sich einem Klassendenken zu beugen, sondern weil es sich um ein natürliches Recht des Menschen handelt“ (ibid. Nr. 7).
Das Recht, Vereinigungen zu gründen, erlaubt es dem einzelnen Bürger, seine persönliche Würde insbesondere dem Staat und wirtschaftlichen Kräften gegenüber zu wahren. Die Abschaffung dieses Rechts in Frankreich während der Revolution durch das Le-Chapelier-Gesetz (1791) hatte die Entstehung eines Proletariats zur Folge und bereitete somit den Boden für den Klassenkampf sowie den Kommunismus. Der Katechismus der Katholischen Kirche erinnert zu Recht daran, dass das Hauptziel jeder wirtschaftlichen Aktivität das persönliche Wohl des Menschen ist:
„Die Entfaltung des Wirtschaftslebens und die Steigerung der Produktion haben den Bedürfnissen der Menschen zu dienen. Das wirtschaftliche Leben ist nicht allein dazu da, die Produktionsgüter zu vervielfachen und den Gewinn oder die Macht zu steigern; es soll in erster Linie im Dienst der Menschen stehen: des ganzen Menschen und der gesamten menschlichen Gemeinschaft“ (Katechismus, Nr. 2426).
In einem Hühnerstall
1939 eröffnete Schwester Dulce in einem Arbeiter- viertel von São Salvador das Santo-António- Kolleg, das morgens eine normale Schule für Arbeiterkinder und abends eine Fortbildungsstätte für Arbeiter war. Eines Nachmittags 1939 kam ein etwa 15-jähriger Junge, der von Fieber geschüttelt wurde und völlig ausgehungert war, in den „Kreis“. Er hustete stark und bat Schwester Dulce um Hilfe: „Schwester, lassen Sie mich nicht auf der Straße sterben!“ Da sie ihn nicht anderswo unterbringen konnte, führte sie ihn zu einem in einem Armenviertel gelegenen verlassenen Haus, in dem er bleiben konnte; sie versorgte ihn mit der nötigen Pflege und mit Medikamenten. In den folgenden Tagen brachte sie mehrere Kranke von der Straße in den leer-stehenden Häuserndes Viertels unter. Als ihre Schützlinge wegen Klagen aus der Nachbarschaft aus den Häusern vertrieben wurden, musste sie sie in einem ehemaligen Fischmarktgebäude oder unter den Bögen eines Viadukts unterbringen; doch die Stadtverwaltung teilte ihr mit, dass sie dazu nicht berechtigt sei. Schwester Dulce konnte den Vollzug der Räumungsbescheide immer wieder geschickt hinauszögern. Erst 10 Jahre später, 1949, bekam sie von ihrer Oberin die Erlaubnis, den Hühnerstall des Klosters, ein paar Baracken, in denen Hühner gehalten wurden, zu einem Behelfshospiz für die 70 von ihr betreuten Personen umzugestalten. Als die Oberin die Schwester fragte, was sie mit den Hühnern gemacht habe, erwiderte sie, man habe sie als Nahrung für die Armen genutzt. Diese Behelfseinrichtung war der Ursprung des Santo-António-Hospitals. Stand der Tod eines Kranken kurz bevor, sorgte die Schwester dafür, dass er Gelegenheit zum Beichten bekam. Mitunter beerdigte sie mit Hilfe ihrer Mitschwestern oder der Schülerinnen des Kolleg auch Leute, die auf der Straße gestorben waren.
Schwester Dulce erkrankte bereits mit 35 Jahren an Tuberkulose. Ihre Überlastung und ihre Weigerung, sich pflegen zu lassen, führten zu einer Verschlimmerung der Krankheit. Immerhin verbrachte sie freiwillig 45 Tage in einem Kloster, das als Sanatorium fungierte, hatte jedoch auch hinterher erhebliche Atembeschwerden. Selbst wenn sie schwer arbeitete, blieb sie dem Rosenkranz stets treu, und es kam selten vor, dass sie einschlief, bevor sie die 15 Gesätze zu Ende gebetet hatte. Überzeugt, dass die Gnade Gottes wichtiger sei als ihre Bemühungen, machte sie ihr Leben zu einem ständigen Gebet im Sinne des Jesus-Wortes: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben; wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts tun (Joh 15,5).
Während des Zweiten Weltkrieges fielen entlang der brasilianischen Küste viele Leute deutschen Unterseebooten zum Opfer. Unter dem Druck des Volkes erklärte Brasilien 1942 Deutschland den Krieg. Der Erzbischof musste alle deutschen Priester, die in seiner Diözese arbeiteten, von ihren Posten entfernen. So sah sich P.Hildebrand gezwungen, den „Kreis“ zu verlassen, und wurde durch einen brasilianischen Franziskaner ersetzt. Auf Schwester Dulce kam nun zusätzliche Arbeit zu, da sich immer mehr Leute an sie wandten. Ihre Oberin war besorgt und verbot ihr jede weitere Beteiligung an der Verwaltungsarbeit des „Kreises“. Dank ihrer Kontaktfreudigkeit war Schwester Dulce die wichtigste Einnahmequelle des Zentrums: Sie führte Spendenkampagnen durch und wurde dabei von hochgestellten Persönlichkeiten sowie bedeutenden Unternehmen unterstützt. Über P. Hildebrand lernte sie den jungen Ingenieur Norbert Odebrecht kennen, den Sohn eines emigrierten deutschen Bauunternehmers. Sie errichteten zusammen einen Neubau für den „Kreis“ mit großzügigeren sanitären Anlagen sowie einer Schule.
„Mein Arbeitgeber ist anspruchsvoll!“
Der Bevölkerungszuwachs in São Salvador hatte die Entstehung der ersten favelas (Elendsviertel) zur Folge. Schwester Dulce suchte diese regelmäßig auf und bemühte sich, die dringendste Not zu lindern. 1950 begann sie die Häftlinge eines Gefängnisses zu unterstützen, indem sie für eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse sorgte. 1952 bis 1956 war Schwester Dulce Oberin des Santo-António-Klosters. Wegen ihrer Atemnot konnte sie ab 1954 nur noch im Sitzen schlafen; doch sie wusste, dass das Leiden die Gnade Gottes anzieht. Sprach man sie auf die Kürze ihrer Ruhezeiten an, erwiderte sie: „Mein Arbeitgeber ist anspruchsvoll!“
1959 wurden die von Schwester Dulce initiierten Werke in São Salvador da Bahia unter dem Namen „Schwester Dulces karitative Werke“ (OSID) zusammengefasst und von den brasilianischen Behörden als humanitäre Vereinigung anerkannt. Die Schwester wurde damals auch von der amerikanischen Regierung unterstützt, da ihre Vereinigung als Bollwerk gegen den Kommunismus galt. Durch den Zustrom von Bedürftigen erlebte die Vereinigung einen Aufschwung und gewann viele Freiwillige als Mitarbeiter. 1984 gründete Schwester Dulce zur Unterstützung ihrer Werke das Institut der Töchter Mariens, der Dienerinnen der Armen.
Die brasilianische Kirche wurde in jener Zeit von verschiedenen philosophischen Strömungen in Unruhe versetzt, darunter auch von der sogenannten Befreiungstheologie. Mehrmals wurde versucht, Schwester Dulce für diese Ideologie zu gewinnen, doch sie blieb stets der Lehre der Kirche treu, was ihr viel Kritik einbrachte. 1964 weihte die Schwester das Santo-António-Erziehungszentrum in Simões Filho für alleinstehende Kinder ein. Die Farm, in der das Zentrum untergebracht war, war ein Geschenk der Regierung. Im gleichen Jahr ging der wichtigste Unterstützer der Schwester, Kardinal Alvaro da Silva, in den Ruhestand; zum Administrator der Erzdiözese wurde Don Eugenio Sales ernannt. Dieser schätzte Schwester Dulce sehr und erreichte in Rom, dass ihr ein Indult, d.h. eine Exklaustration, gewährt wurde, da manche Schwestern wegen ihrer Unternehmungen einen Bankrott des Instituts befürchteten. So konnte sie ihre Arbeit, für die das Institut nun nicht länger verantwortlich war, fortführen, ohne ihre religiöse Tracht abzulegen. Konkret war es aber so, dass die anderen Schwestern Santo-António verließen und sich in einem anderen Haus niederließen, um Schwester Dulce freie Hand zu lassen; so konnte sie sich weiterhin um die Schule, das Hospital und um ihre Armen kümmern.
Santo-António wurde daraufhin Teil der OSID. 1970 wurde ein Neubau eingeweiht, der die Kapazität des Hospitals auf 300 Betten erhöhte. Mitunter kam es auch zu Konflikten zwischen Schwester Dulce und den Ärzten; sie forderte, dass alle, die darum bitten, aufgenommen werden; die Ärzte hingegen beriefen sich darauf, dass jenseits einer bestimmten Anzahl von Patienten, die Ansteckungsgefahr zu groß sei. 1974 wurde ein neuer Anbau des Hospitals eröffnet, der ausschließlich behinderten Personen vorbehalten war.
Die niemand will
1976 wurde Schwester Dulce durch den neuen Erzbischof von São Salvador wieder voll und ganz in ihre religiöse Kongregation integriert und war nun von jedem Verdacht auf Ungehorsam befreit. Doch ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich: Abgesehen davon, dass ihre Lungenkapazität nur noch ein Drittel des Normalen betrug, bekam sie eine Lungenentzündung nach der anderen. Gleichwohl galt ihre Hauptsorge nach wie vor den Armen, vor allem denen, die niemand will. 1979 fand eine Begegnung zwischen Schwester Dulce und Mutter Teresa in São Salvador statt; im folgenden Jahr traf Papst Johannes Paul II. bei seinem ersten apostolischen Besuch in Brasilien ebenfalls mit der Schwester zusammen. Diese setzte trotz wiederholter Herzanfälle ihre Tätigkeit fort. 1990 musste sie 16 Monate lang im Krankenhaus behandelt werden. 1991 bekam sie Krampfanfälle und ständige Fieberschübe. Mitunter konnte sie sich nur noch durch Gesten verständigen und fiel des Öfteren ins Koma. Im Oktober 1991 wurde sie vom hl. Johannes Paul II. während seiner zweiten apostolischen Reise nach Brasilien erneut auf ihrem Krankenlager besucht. Im November erlitt sie aufgrund einer fortgeschrittenen Osteoporose einen Schenkelhalsbruch. Ihre letzten Tage verbrachte sie im Koma. Sie starb am 13. März 1992 im Alter von 77 Jahren im Krankenhausteil des Santo- António-Klosters. Ihr Leichnam wurde 2008 exhumiert, für unversehrt befunden und in die Kathedrale von São Salvador umgebettet. Schwester Dulce wurde am 13. Oktober 2019 von Papst Franziskus unter dem Namen heilige Dulce der Armen heiliggesprochen. Ihr Erbe besteht aus einem Netz von überaus angesehenen Krankenhäusern und ärztlichen Zentren für die Ärmsten sowie mehreren Einrichtungen der Sozialfürsorge. Heute profitieren jedes Jahr über 5 Millionen Personen von diesem Erbe.
„Sprecht jedes Mal, wenn ihr könnt, von der Liebe und voller Liebe zu anderen. Das ist gut für die Ohren des Zuhörers und zugleich für die Seele des Sprechers“, pflegte die hl. Dulce der Armen zu sagen. Möge diese Empfehlung in unseren Beziehungen untereinander zur Regel werden!