Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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8. September 2010
MARIÄGeburt


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Was ist das Wirkliche?«, fragte Papst Benedikt XVI. am 13. Mai  2007. „Sind ‚Wirklichkeit' nur die materiellen Güter, die sozia- len, wirtschaftlichen und politischen Probleme? Hierin liegt genau der große Irrtum der im letzten Jahrhundert vorherrschenden Tendenzen, ein zerstörerischer Irrtum, wie die Ergebnisse sowohl der marxistischen wie der kapitalistischen Systeme beweisen. Sie verfälschen den Wirklichkeitsbegriff durch die Abtrennung der grundlegenden und deshalb entscheidenden Wirklichkeit, die Gott ist. Wer Gott aus seinem Blickfeld ausschließt, verfälscht den Begriff ‚Wirklichkeit' und kann infolgedessen nur auf Irrwegen enden und zerstörerischen Rezepten unterliegen. Die erste grundlegende Aussage ist also folgende: Nur wer Gott kennt, kennt die Wirklichkeit und kann auf angemessene und wirklich menschliche Weise auf sie antworten.«

Das geweihte Leben bezeugt die Bedeutung Gottes. Insbesondere das einsame Leben der Eremiten ist „eine Aufforderung an den Nächsten und zugleich an die kirchliche Gemeinschaft, niemals die höchste Berufung aus den Augen zu verlieren, nämlich immer beim Herrn zu sein« (Johannes-Paul II., Apostolisches Schreiben Vita consecrata, 25. März 1996, Nr. 7). Zur Illustration verweist die Kirche auf das Beispiel des hl. Charbel Maklouf.

140 km nördlich von Beirut liegt in 1600 m Höhe Biqa-Kafra, das höchstgelegene Dorf des Libanon, von dem aus man die berühmten „Zedern Gottes« bewundern kann. Die Bewohner dieser rauhen Gegend sind gutmütig, gastfreundlich und arbeitsam. Wie alle Maroniten (Mitglieder der im 4.-5. Jh. vom hl. Maron gegründeten katholischen Ostkirche) sind sie stolz auf ihren Glauben und üben ihn vorbehaltlos aus. Sie sind große Verehrer der Jungfrau Maria und beten gern den Rosenkranz. In diesem Dorf kam am 8. Mai 1828 das fünfte Kind von Antoine und Brigitta Maklouf zur Welt und wurde acht Tage nach seiner Geburt auf den Namen Youssef (Josef) getauft. Brigitta Maklouf war sehr fromm; das gemeinsame Familiengebet lag ihr ebenso am Herzen wie der häufige Kirchgang und der tägliche Rosenkranz. Zwei ihrer Brüder waren Mönche des libanesischen Maronitenordens und lebten 5 km von Biqa-Kafra entfernt in einer Einsiedelei.

Monate vergeblichen Wartens

Eines Abends wurde Antoine Maklouf von einem  Trupp Soldaten abgeholt, um Material für die Armee zu transportieren; Widerstand war zwecklos. Sobald der Auftrag ausgeführt war, erkrankte er und starb. Erst nach Monaten vergeblichen Wartens begriff Brigitta, dass sie nunmehr Witwe war. Aus Sorge um den Lebensunterhalt ihrer Kinder heiratete sie zwei Jahre später, im Oktober 1833, einen frommen Mann aus dem Dorf, der bald darauf mit ihrer Zustimmung nach den besonderen Regeln der Ostkirche zum Priester geweiht wurde. Youssef assistierte ihm als Messdiener bei allen Zeremonien; anschließend ging er zur Schule, wo er lesen, schreiben und auf syrisch beten lernte. Er arbeitete auf den Feldern mit und führte die Kuh sowie die Schafe der Familie auf die Weide. Gebannt bewunderte er die Schönheit der Natur; alles schien ihm von Gott zu sprechen: Bäume, Blumen, Vögel, Quellen ...

Youssef wurde wegen seiner Frömmigkeit oft als „der Heilige« verspottet. Mit 14 Jahren pflegte er sich oft in eine Grotte zurückzuziehen, um dort in sich zu gehen und zu beten. Manchmal konnte er in der Sakristei etwas Weihrauch für sich abzweigen, den er in seiner Grotte vor einem Bild der Allerseligsten Jungfrau verbrannte. Oft suchte er seine als Eremiten lebenden Onkel auf, um mit ihnen zu reden und zu beten. Er durchwanderte das Wadi Quadisha, das Heilige Tal, in dem seit dem 4. Jh. viele Eremiten gelebt hatten. - Eines Tages kam Youssef auf der Suche nach einer verlorenen Ziege in ein Zedernwäldchen und blieb zum Beten vor einem kleinen, in einen Baumstamm geritzten Heiligenbild stehen. Plötzlich vernahm er eine drängende Stimme: „Verlasse alles, komm! Folge mir!« Da beschloss er ohne besonderen Enthusiasmus, aber ganz bewusst, Mönch zu werden. Eines Morgens im Jahre 1851 schlich er sich von zu Hause fort. Aus Angst vor seinem Onkel und Vormund Tanios, der fest auf die Arbeit seines Neffen zählte, hatte er niemanden in seinen Plan eingeweiht. Er liebte seine Mutter und seine Geschwister sehr, doch er wollte lieber ohne Aufhebens, still und leise fortgehen. Er begab sich in eines der schönsten Klöster des Maronitenordens im Libanon, Notre-Dame de Mayfouq, und wurde als Postulant aufgenommen. Das Postulat dauerte nur wenige Tage, Youssef durfte bald das Novizengewand anlegen; er wählte den durch einen Märtyrer der antiochenischen Kirche im Jahre 107 bekannt gewordenen Ordensnamen „Charbel«.

„Der Herr will dich«

Unterdessen wurde in Biqa-Kafra überall nach  Youssef gesucht. Schließlich verriet einer seiner Onkel, dass er ins Kloster gegangen ist. Tanios war empört und eilte mit einigen Familienmitgliedern, darunter auch Brigitta, zum Kloster. Das in Gegenwart eines Vorgesetzten geführte Gespräch mit dem jungen Mönch verlief stürmisch; Tanios und Brigitta führten zahlreiche Gründe gegen seinen Weggang an; Bruder Charbel tat es zwar leid, dass er der Verwandtschaft Sorgen bereitet hatte, doch er blieb fest bei seinem Entschluss, denn er war sich sicher, dass der Herr ihn zu diesem Leben berufen hatte. Schließlich ergriff Brigitta die Hände ihres Sohnes und sagte: „Wenn du kein guter Mönch wärst, würde ich zu dir sagen: ‚Komm nach Hause!' Jetzt weiß ich aber, dass der Herr dich als seinen Diener haben will! Und trotz meines Trennungsschmerzes bitte ihn Ihn, Er möge dich segnen und einen Heiligen aus dir machen.«

Bruder Charbel verbrachte sein erstes Novizenjahr im Kloster Notre-Dame de Mayfouq. Seine Tage waren mit allerlei geistlichen und manuellen Tätigkeiten ausgefüllt: Siebenmal Stundengebet sowie Mitarbeit in der Bäckerei, Wäscherei, Weberei, Schuhmacherei, Tischlerei usw. Er musste zunächst den liturgischen Gesang der Mönche lernen, denn er kannte bis dahin nur die Dorfmessen. Schweigsam und hartnäckig wie alle Bergbewohner, gab er sich in allem große Mühe. Ein Jahr später wurde er in das viel einsamer gelegene Kloster des hl. Maron in Annaya versetzt, dessen aus groben Steinen errichteten Gebäude an eine Festung erinnerten. Man sah von dort aus nur ein paar vereinzelte Bauernhäuser und Hütten, steile Felsen, alte Eichen, Weinstöcke und Brombeerbüsche. An diesem kargen Ort verbrachte Bruder Charbel sein zweites Novizenjahr. 1853 durfte er mit 25 Jahren die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ablegen und wurde eingekleidet.

Einige Tage danach sagte der Pater Superior zu Bruder Charbel: „Da Ihr Noviziat nun beendet ist, hält es der hochwürdige Pater General für richtig, dass Sie ein Priesteramtsstudium aufnehmen. Sie sollen morgen früh nach Kfifan in das Kloster des hl. Cyprian aufbrechen.« In diesem Kloster befand sich das ausschließlich für Mitglieder des Ordens reservierte Scholastikat. Der junge Mönch machte sich eifrig an das Studium der Dogmatik, der Moraltheologie, der Schriften der Kirchenväter sowie der Lehren der Mönche und Wüstenväter der Antike. In der Überzeugung, dass alles Wissen eine Gabe des Heiligen Geistes ist und dass ein Leben im Geiste Christi vom Besitz ewiger Weisheit kündet, legten die Lehrer größeren Wert auf das spirituelle Leben als auf Wissen. Die Schule von Kfifan wurde von einem Mönch geleitet, der über eine beachtliche Kenntnis der semitischen Sprachen verfügte; er brachte seinen Schülern die verborgenen Reichtümer in den Schriften der orientalischen Kirchenväter, insbesondere des hl. Ephraim, nahe. Der hl. Ephraim war bei den Maroniten als großer Marien-Verehrer und Kirchenlehrer besonders beliebt, denn sie verdankten ihm den größten Teil ihrer liturgischen Texte. Während seines sechsjährigen Studiums vertiefte Bruder Charbel seine Liebe zur Heiligen Schrift. Er hatte dabei stets das Vorbild Pater Hardinis, des „Heiligen von Kfifan«, vor Augen, dessen Frömmigkeit sich in einer inbrünstigen Liebe zu Jesus im Allerheiligsten und in einer kindlichen Verehrung der Jungfrau Maria im Mysterium ihrer Unbefleckten Empfängnis niederschlug. Am 14. Dezember 1858 erlebte Bruder Charbel den Tod dieses verehrten Mönches mit und hielt sich hinfort an dessen Wort: „Ein Weiser ist jemand, der seine Seele rettet!«

Als Bruder Charbel seinem Lehrer erzählte, welch große Ehre es für ihn sei, dass er Priester werden dürfe, erwiderte dieser: „Priester sein bedeutet: ein anderer Christus werden. Und dahin führt nur ein Weg: der Weg nach Golgotha! Nehmen Sie diesen Weg, ohne zu zaudern.« Am 23. Juli 1859 wurde Bruder Charbel zum Priester geweiht. Bei seiner Rückkehr in das Maron-Kloster in Annaya wartete eine Überraschung auf ihn: Alle Bewohner seines Dorfes waren zusammen mit seiner alten Mutter gekommen, die nicht an seiner Priesterweihe hatte teilnehmen können. Der junge Priester segnete alle, weigerte sich jedoch, in sein Dorf zurückzukehren, um dort eine Messe zu feiern.

Die Gegenwart Gottes bezeugen

Mehr denn je richtete Pater Charbel – insbesondere  durch strenge Regeltreue - sein Leben auf die Suche nach Gott und die Vereinigung mit Ihm aus, wie er es gelernt hatte: „Der Mönch zieht sich aus der Welt nur zurück, um in der Gegenwart Gottes zu leben, und da das Leben Gottes, sein Wesen, Liebe ist, muss der Mönch durch sein Leben, durch seine absolute Treue zur Regel, die Gegenwart Gottes in der Welt bezeugen.« Konkret schlug sich das in der Einhaltung der Gelübde nieder. Pater Charbels Gehorsam glich dem eines Kindes den Eltern gegenüber. In seinen Vorgesetzten sah er die Person Christi und führte deren Anordnungen freudig und beflissen aus; ebenso begegnete er seinen Mitbrüdern und allen Anderen mit Gehorsam. Er lebte in vollkommener Armut – in seiner Kleidung, seiner Nahrung, seiner Zelle – und nahm nie Geld an. Wachsam achtete er darauf, sein Keuschheitsgelübde einzuhalten und seine Sinne zu kontrollieren, was durchaus nicht ohne Kämpfe abging.

Der Katechismus der Katholischen Kirche warnt uns: „Selbstbeherrschung zu erringen, ist eine langwierige Aufgabe. Man darf nie der Meinung sein, man habe sie für immer erworben. Man muss sich in allen Lebenslagen immer wieder neu um sie bemühen« (Katechismus 2342). Der Kampf um die Reinheit setzt neben der Reinheit der Absicht und der Reinheit des Blicks auch den Beistand des Gebetes voraus. Der hl. Augustinus richtete folgende Worte an Gott: „Ich glaubte, die Enthaltsamkeit sei Sache der eigenen Kraft ... denn in meiner Torheit wusste ich nicht, was geschrieben steht: dass ‚keiner enthaltsam sein kann, außer wem Gott es gibt'. Du hättest es mir gegeben, wenn ich mit innerlichem Seufzen dein Ohr bestürmt und in gefestigtem Glauben meine Sorge auf dich geworfen hätte« (Confessiones; vgl. Katechismus 2520). - Die Keuschheit verhalf Pater Charbel zu einer liebevollen und ehrerbietigen Haltung seinen Mitmenschen gegenüber, denen er übrigens mitunter auch schlagfertig begegnen konnte.

Pater Charbel betete unablässig und verbrachte sogar einen Großteil seiner Nächte in Gebet. Die Messe feierte er mit großer Frömmigkeit und bat dabei um die Barmherzigkeit Gottes für die Menschen. In der Tradition sowie in der Regel seines Ordens nahm die Verehrung der Allerseligsten Jungfrau Maria besonderen Raum ein. Sie galt als Königin, Patronin und Beschützerin des maronitischen Volkes und wurde als „Zeder des Libanon« angerufen. Pater Charbel betete jeden Tag den Rosenkranz.

„Gütiger als Ihre liebe Mutter«

Maronitische Mönche lebten zwar normalerweise im  Kloster, doch sie waren in den umliegenden Dörfern als Seelsorger tätig. So auch Pater Charbel. Einer seiner Mitbrüder schrieb einmal: „Es war eine Freude, bei Pater Charbel zu beichten. Auch ich ging oft und gern zu ihm.« Eines Tages kam eine ältere Frau Pater Charbel holen: „Pater, mein Sohn stirbt ...« Der Mönch ging in ihr Haus und trat zu dem Sterbenden, der ihn gar nicht sehen wollte: „Wo tut es Ihnen weh? Wenn ich Ihnen helfen kann, tu ich es gerne.« – „Mir brennt es in der Brust! Ich sterbe vor Durst!« – „Nur Mut, mein Kind, Ihre Schmerzen reinigen Sie. Warum sollten Sie Angst haben, wenn Gott Sie zu sich rufen will? Der liebe Gott ist unendlich gütig, er ist noch gütiger als Ihre liebe Mutter, und Sie haben ihm trotzdem viel Kummer bereitet! Glauben Sie, dass Sie sich groß sorgen würden, wenn Ihre Mutter Gott wäre und über Sie zu richten hätte? Sind Sie nicht der geliebte Sohn der Unbefleckten Mutter?« Dann gab der Pater dem Kranken Wasser zu trinken, das er zuvor gesegnet hatte; der Sterbende beichtete anschließend und empfing erleichtert die Absolution.

Seit seiner Gründung durch den hl. Maron hatte der libanesische Maronitenorden ein gewaltiges zivilisatorisches Werk auf spirituellem, sozialem und kulturellem Gebiet vollbracht. Die Mönche wurden zunächst in einem Beruf bzw. Handwerk ausgebildet und wirkten dann selbst als Ausbilder. Es gab unter ihnen Drucker, Maler, Maurer, Schmiede, Tischler, Weber, Schneider, Schuhmacher, Weinbauern usw. Neben seiner missionarischen und kontemplativen Tätigkeit arbeitete Pater Charbel sowohl im Haus als auch in der Landwirtschaft mit.

Nach einiger Zeit fühlte sich Pater Charbel zum Eremitentum berufen und ging sechs Jahre lang bei einem über 80-jährigen Einsiedler in der Eremitage von Annaya in die Lehre. Jedes Kloster im Libanon hatte damals eine eigene Eremitage. Der Mensch ist durchaus in der Lage, als Eremit zu leben, um sich ausschließlich der göttlichen Wirklichkeit zu widmen; allerdings ist das, wie der hl. Thomas von Aquin anmerkt, übermenschlich (Summa theologiæ, II, 188, a.8, ad 5). Daher ist die Kirche sehr zurückhaltend, wenn jemand um die Erlaubnis bittet, als Eremit leben zu dürfen. Ein solches Leben kann nur von Menschen geführt werden, deren Tugend und Standhaftigkeit bereits erprobt sind.

Brennendes Wasser

Am 13. Februar 1875 starb der Einsiedler, der Pater  Charbel betreut hatte. Die Eremitage war verwaist, und Pater Charbel bat, sich dorthin zurückziehen zu dürfen; doch sein Superior zögerte. Er nahm eine dicke Akte von seinem Schreibtisch und gab sie Pater Charbel: „Wollen Sie mir bitte einen Bericht über diese Arbeit schreiben? Es ist dringend. Sie dürfen auch nachts arbeiten, wenn nötig.« Der Pater zog sich mit der Akte zurück und ging in der Küche vorbei, um seine leere Öllampe auffüllen zu lassen. Einer der Dienstboten wollte ihm einen Streich spielen und füllte Wasser hinein. Der Pater zündete die Lampe an und machte sich an die Arbeit. Der Dienstbote war bass erstaunt: Die Lampe brannte, als wäre sie mit Öl gefüllt worden! Er lief zum Pater Superior, gestand ihm den Streich und berichtete von dessen unerwartetem Resultat. Der Superior ging daraufhin selbst zu Pater Charbel, machte ihm – trotz der Ausnahmegenehmigung - Vorhaltungen, weil er so lange arbeitete, und nahm ihm die Lampe weg. Pater Charbel versuchte gar nicht, sich zu rechtfertigen, sondern bat um Christi Liebe willen um Vergebung. Der Superior kehrte in sein Zelle zurück und stellte fest, dass die Lampe wirklich nur Wasser enthielt. Dieses übernatürliche Phänomen wertete er als Hinweis dafür, dass Pater Charbels spirituelles Leben authentisch war, und erlaubte ihm, sich in die Einsiedelei zurückzuziehen. Pater Charbel lebte 23 Jahre dort und ging nur ausnahmsweise aus dem Haus, um seelsorgerliche Aufgaben in der Umgebung zu erledigen.

Der Eremit bezeugt den absoluten Primat Gottes. Er zeigt einer durch Götzen (Lust, Geld, Gier) irregeführten Welt, dass Gott das einzige Ziel des Menschen ist. Der Einzige, der allein genügt. Der Eremit ist nicht auf sich selbst gestellt: Er folgt einer präzisen Regel, einer minuziös festgelegten Disziplin und lebt ständig unter der Aufsicht eines Vorgesetzten. Die Askese Pater Charbels war schlicht, hatte nichts Theatralisches, nichts Spektakuläres an sich: In seiner Seele fand sich keine Verhärtung, sondern vielmehr ein Hören auf den Heiligen Geist, eine tiefe Inbrunst, eine erstaunliche Einfalt des Herzens und eine kindliche Hingabe an Christus.

„Wer kennt Gott? Wie können wir ihn kennenlernen?«, fragt Papst Benedikt XVI. „Für den Christen ist der Kern der Antwort einfach: Nur Gott kennt Gott, nur sein Sohn, der Gott von Gott, wahrer Gott ist, kennt ihn. Und er, der am Herzen des Vaters ruht, hat Kunde [von ihm] gebracht (Joh 1,18). Daher rührt die einzige und unersetzliche Bedeutung Christi für uns, für die Menschheit. Wenn wir nicht Gott in Christus und durch Christus kennen, verwandelt sich die ganze Wirklichkeit in ein unerforschliches Rätsel; es gibt keinen Weg, und da es keinen Weg gibt, gibt es weder Leben noch Wahrheit. Gott ist die grundlegende Wirklichkeit, nicht ein nur gedachter oder hypothetischer Gott, sondern der Gott mit dem menschlichen Antlitz; er ist der Gott-mit-uns, der Gott der Liebe bis zum Kreuz. Wenn der Jünger zum Verständnis dieser Liebe Christi ‚bis zur Vollendung' gelangt, kann er nicht umhin, auf diese Liebe nur mit einer ähnlichen Liebe zu antworten: Ich will dir folgen, wohin du auch gehst (Lk 9,57)« (13. Mai 2007).

Pater Charbel betete für jeden, der ihm anempfohlen bzw. zu ihm geführt wurde. Einmal brachte man einen geistig verwirrten Mann zu ihm, der für sich und Andere zur Gefahr worden war. Pater Charbel führte ihn in die Kapelle und las dort das Evangelium über seinem Kopf. Der Mann war auf der Stelle geheilt!

Schutz vor der Heuschreckenplage

Im Nahen Osten stellen Heuschreckenschwärme eine  wahre Plage dar. Sie fressen alles: Gras, Blätter, selbst Baumrinde. „1885 stürzte sich ein Heuschrecken-schwarm, der buchstäblich die Sonne verdunkelte, auf Annaya und die Nachbardörfer nieder«, berichtete ein Pater. „Angesichts der Gefahr befahl der Superior dem Eremiten Charbel, er solle Wasser weihen und damit die Felder besprengen. Alle Felder, die er erreichen konnte, blieben verschont. Da besprengten auch die Bewohner der Nachbardörfer ihre Saat mit dem Weihwasser und blieben ebenso verschont. Aus Dankbarkeit machten sich zur Erntezeit rund hundert Personen auf zum Kloster und brachten umsonst die ganze Ernte der Mönche ein.«

Pater Charbel lebte von Gott und für Gott und wurde so zu einem Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Den Heimsuchungen seiner Mitmenschen gegenüber blieb er nie gleichgültig. Er wollte alle zumindest auf geistlichem Wege schützen; durch seine Sühnopfer, seine Fürbitten und vor allem durch seine Messen nach maronitischem Ritus trug er die Welt immer wieder vor Gott. Am 16. Dezember 1898 trat er vor Kälte ganz steif und benommen an den Altar. Als er bei der Wandlung die Hostie mühsam in seine von Frostbeulen bedeckten Hände nahm, überkam ihn ein Schwächeanfall. Sein Mitbruder Makarios merkte, dass er das heilige Messopfer nicht fortsetzen konnte, und sprang ihm bei, damit er sich etwas erholte. Bald trat der Eremit erneut an den Altar und weihte Brot und Wein, doch die Schwäche kam wieder, er musste abbrechen. Man brachte ihn in seine Zelle zurück. Acht Tage lang lag der Pater trotz aller Schmerzen friedlich im Sterben und wiederholte die Worte der Messe, die er hatte abbrechen müssen: „Oh Vater der Wahrheit, hier ist dein Sohn ... Er hat den Tod erlitten, um mich zu rechtfertigen. Hier ist das Opfer, nimm es mit Wohlgefallen aus meiner Hand und vergiss die Verfehlungen, die ich vor deiner Majestät begangen habe ...« Mit diesen Worten, denen er die Namen Jesu, Mariens, Josefs, der hl. Petrus und Paulus sowie aller Schutzheiligen seiner Eremitage anschloss, verließ der getreue Diener Gottes in der heiligen Nacht des 24. Dezember die Erde und ging in die himmlische Heimat ein.

Bald ereigneten sich auf die Fürbitte Pater Charbels hin zahlreiche Wunder. Von den mehreren hundert außergewöhnlichen Ereignissen, die man auf seine Fürsprache zurückführt, wurden bei seiner Seligsprechung am 5. Dezember 1965 zwei offiziell als Wunder anerkannt.

Die Lebensweise der Eremiten ist „nicht für alle als nachzuahmendes Charisma zu empfehlen«, warnte Papst Paul VI. bei der Heiligsprechung des hl. Charbel am 9. Oktober 1977. Durch ihre leidenschaftliche Suche nach dem Absoluten legen die Eremiten jedoch Zeugnis davon ab, dass Gott es verdient, um Seiner Selbst willen angebetet und geliebt zu werden; sie erinnern uns daran, dass Gott jeden Menschen zur Teilhabe an seiner Seligkeit bestimmt hat. Möge der heilige Charbel uns auf diesen Weg der Gottesliebe und der Glückseligkeit lenken!

Dom Antoine Marie osb

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