Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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8. Januar 2003
Hl. Severin


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

In gleich welcher Form es auch auftritt, «ist das Leiden anscheinend fast untrennbar mit der irdischen Existenz des Menschen verbunden... Menschliches Leid bewirkt Mitleid, ruft auch Achtung hervor; auf seine Weise flößt es aber auch Furcht ein. Denn es trägt die Größe eines besonderen Geheimnisses in sich... Über Jahrhunderte und Generationen hinweg hat sich immer wieder herausgestellt, dass Leiden eine besondere Kraft in sich birgt, die den Menschen innerlich Christus nahebringt, eine besondere Gnade also. Ihr verdanken viele Heilige, wie z.B. der hl. Franziskus, der hl. Ignatius von Loyola u. a., ihre tiefe Umkehr. Frucht einer solchen Umkehr ist nicht nur die Tatsache, dass der Mensch die Heilsbedeutung des Leidens entdeckt, sondern vor allem, dass er im Leiden ein ganz neuer Mensch wird...» (Apostolischer Brief Salvifici doloris, SD, Johannes-Paul II., 11. Februar 1984, Nr. 3, 4, 26). Das Leben der seligen Anna Schäffer illustriert diese Feststellung des Heiligen Vaters in einzigartiger Weise.

Ein schrecklicher Unfall

Anna Schäffer wurde am 18. Februar 1882 in Mindelstetten, einem niederbayerischen Dorf in der Diözese Regensburg, aus einer kinderreichen Familie geboren, deren Vater Tischler war. Die Schäffers waren gute Christen. Sie sprachen getreu das Morgen-, das Mittags- und das Abendgebet und gingen jeden Sonn- und Feiertag in die Kirche zur heiligen Messe, aber auch unter der Woche, sooft es möglich war. Anna war ein zurückhaltendes, sanftes und scheues Kind, lernbegabt und handwerklich geschickt. 1896 starb der Vater im Alter von vierzig Jahren und ließ seine Familie in großer Armut zurück. Anna, die eigentlich Nonne werden wollte, und zwar möglichst in einem Missionsorden, musste zunächst arbeiten, um ihre Mitgift zusammenzubringen (eine für den Eintritt in ein Kloster damals unerlässliche finanzielle Zuwendung). Mit vierzehn Jahren war sie zuerst bei einer Apothekerin in Regensburg als «Mädchen für alles» beschäftigt, dann in Landshut bei einem Amtsgerichtsrat. Dort empfing sie an einem Abend im Juni 1898 zum ersten Mal eine Botschaft des Himmels. Es erschien ihr ein Heiliger (den sie nicht benennen konnte) und sagte zu ihr: «Bevor du zwanzig Jahre alt wirst, wirst du anfangen, viel zu leiden. Bete den Rosenkranz.» Sie sprach später von einer Gefährdung ihrer jungfräulichen Reinheit, die sie aber in diesen Jahren dank der Hilfe des heiligen Rosenkranzes abwehren konnte.

Am Abend des 4. Februar 1901 wusch das am Forsthaus von Stammham beschäftigte junge Mädchen mit einer Gefährtin, Wally Kreuzer, Wäsche. Das zu dem Ofen unter dem Waschkessel gehörende Ofenrohr hatte sich aus der Wand gelöst; um den Schaden zu beheben, kletterte Anna auf einen Mauervorsprung. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und fiel mit den Füßen voraus bis zu den Knien in das kochende Waschwasser. Wally geriet in Panik und lief los, um Hilfe zu holen, anstatt ihrer Freundin selbst herauszuhelfen. Ein Kutscher eilte herbei und zog die Verletzte aus dem Kessel; man brachte die Unglückliche auf einer Karre in das nächste, sieben Kilometer entfernte Krankenhaus. Um elf Uhr abends kam sie schließlich in die Obhut eines Arztes, der sie zwei Stunden lang operierte. Die kommenden Wochen waren entsetzlich: Es mussten immer wieder verfaulte Fleischfetzen weggeschnitten werden.

Über dreißig chirurgische Eingriffe

Drei Monate später hörte die für Anna zuständige Krankenversicherung auf, die Krankheitskosten zu erstatten. Frau Schäffer konnte für die Krankenhauspflege nicht aufkommen; sie musste ihr armes Kind mit nach Hause nehmen. Auf die dringlichen Bitten ihres Arztes Dr. Wäldin hin, nahm sich eine Behinderteneinrichtung der Kranken an; Anna konnte von August 1901 bis Mai 1902 in die Universitätsklinik Erlangen bei Nürnberg aufgenommen werden. Doch die Behandlungen waren völlig erfolglos. Wieder zu Hause, wurde Anna erneut von Dr. Wäldin betreut. Durch über dreißig chirurgische Eingriffe versuchte der Arzt vergeblich, Hauttransplantationen vorzunehmen. Da er der Kranken keine Linderung verschaffen konnte, begnügte er sich schließlich damit, ihre Beine mit sterilen Verbänden zu versehen. In den zwanzig Jahren, die Anna noch zu leben hatte, beschränkte sich ihre Pflege auf das wöchentliche Wechseln dieser Verbände.

Der Plan Anna Schäffers, in einen Orden einzutreten, war nun nicht mehr realisierbar. Das junge Mädchen fand sich nicht problemlos mit seinem Schicksal ab: Es beklagte sein Leid und klammerte sich an die Hoffnung auf Heilung. Doch seine Seele wuchs in der harten Schule des Kreuzes. Der Geistliche von Mindelstetten, Pfarrer Rieger, der Annas spiritueller Vater wurde, bezeugte, dass er niemals irgendwelche Klagen aus ihrem Munde gehört habe. In ihren unausgesetzten Schmerzen wurde Anna vom lebendigen Gott gestärkt und getröstet, insbesondere durch die heilige Eucharistie.

Die Frage nach dem Sinn des Leidens

«Verschieden ist die Bereitschaft, die der Mensch bei seinem Leiden zeigt», schreibt Papst Johannes-Paul II.. «Man darf jedoch voraussetzen, dass jeder fast immer mit einem typisch menschlichen Protest und mit der Frage nach dem 'Warum' in sein Leiden eintritt. Ein jeder fragt sich nach dem Sinn des Leidens und sucht auf seiner menschlichen Ebene eine Antwort auf diese Frage. Gewiss richtet er diese Frage auch wiederholt an Gott und an Christus. Darüber hinaus kann er nicht übersehen, dass derjenige, an den er seine Frage richtet, auch selbst leidet und ihm vom Kreuz herab, aus der Mitte seines eigenen Leidens her, antworten will. Doch manchmal braucht es Zeit, sogar lange Zeit, bis diese Antwort innerlich wahrgenommen werden kann... Christus erklärt nicht in abstrakter Weise die Gründe des Leidens, sondern sagt vor allem: 'Folge mir!' Komm! Nimm mit deinem Leiden teil an dem Werk der Erlösung der Welt, die durch mein Leiden vollbracht wird! Durch mein Kreuz! Während der Mensch sein Kreuz auf sich nimmt und sich dabei geistig mit dem Kreuz Christi vereint, enthüllt sich vor ihm mehr und mehr der heilbringende Sinn seines Leidens» (SD, Nr. 26).

Von 1910 bis 1925 schrieb Anna Schäffer ihre Gedanken in zwölf Heften auf; darüber hinaus sind uns 183 ihrer Briefe bzw. Karten erhalten geblieben. Ihre Sprache ist ganz schlicht; doch die Originalität und der persönliche Charakter ihrer Schriften fallen dem Leser auf, der dahinter eine fest im Glauben an den gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus und in der lebendigen Gemeinschaft mit allen Erwählten Gottes verankerte Seele entdecken kann. Dieses unverbrüchliche Vertrauen auf Gott sowie die Gewissheit seiner unendlichen Liebe, die sich ihr durch ihr Leiden hindurch offenbarte, strahlten auf diejenigen über, die sich ihr näherten, um ihr ihre Anliegen anzuvertrauen bzw. um sie um Ermutigung und Rat zu bitten. Diese zunächst nur vereinzelten Besucher wurden nach und nach zahlreicher. Selbst die am meisten gegen Anna voreingenommenen Personen mussten einfach von ihrer Geduld und ihrer Güte beeindruckt sein.

Annas Rache

Ihr Bruder Michael, ein armer, dem Trunk ergebener Kerl, war nicht der Letzte, der sich über «die Heilige» lustig machte, wenn er etwas getrunken hatte. Anna «rächte» sich, indem sie ihn durch ihre Sanftmut zu bekehren trachtete. Das Benehmen Michaels zwang Frau Schäffer allerdings, eine kleine Wohnung im Dorf zu mieten und mit ihrer Tochter dorthin zu ziehen. Anna schrieb einmal an diese bewundernswerte Mutter, die ihr bis zu ihrem Tode beistand und sie um vier Jahre überleben sollte: «Meine liebe Mutter, welche Gnade, dich stets an meiner Seite zu haben! Unser lieber Heiland schickt seinen Kindern seinen Beistand zur rechten Zeit, wenn wir ihn vertrauensvoll darum bitten; und wenn uns eine Heimsuchung oder ein Kummer am meisten niederdrückt, ist er uns oft am nächsten durch seine Hilfe und seinen Segen.»

Das über eine steile Treppe zugängliche Zimmer der Kranken hatte nur ein Kruzifix, ein Ecce-Homo und einige Heiligenbilder zum Schmuck. Kaum verließ Anna ihr Zimmer und ihr Bett (das sie auch ihr Bettkreuz nannte). Bei seltenen Anlässen wurde sie in einem Sessel in die Kirche getragen. Sobald der heilige Papst Pius X. die tägliche Kommunion gestattete, wurde ihr von Pfarrer Rieger jeden Tag die Eucharistie gebracht, aus der sie ihre Kraft schöpfte.

Anna machte nicht gern von sich reden. Ihre Tage vergingen zwischen Gebet, Handarbeit und Schreiben. «Ich habe drei Schlüssel zum Paradies», sagte sie. «Der erste ist aus Roheisen und wiegt schwer: mein Leiden. Der zweite ist die Nähnadel und der dritte der Federhalter. Mit diesen verschiedenen Schlüsseln versuche ich jeden Tag das Tor des Himmels aufzuschließen; jeder dieser Schlüssel muss mit drei kleinen Kreuzen geschmückt werden, diese sind das Gebet, das Opfer und die Selbstvergessenheit.» Oft kamen die Kinder aus dem Dorf zu Anna zu Besuch. Sie fühlten sich zu ihr hingezogen; die Kranke erzählte ihnen vom Heiland, von der Seligsten Jungfrau und von den Heiligen. Sie erklärte ihnen, wie man in den Himmel kommt. Insgesamt benahm sich die Bevölkerung von Mindelstetten ihr gegenüber freundlich. An Feiertagen pflegte eine Abordnung des Dorfes sie zu besuchen; manchmal spielte ihr die Blaskapelle im Vorbeigehen unter ihrem Fenster eine Serenade.

Ihr gewohntes Schweigen brach Anna erst aus Liebe zu ihrem ebenfalls leidenden Nächsten. Sobald sie jemanden leiden sah, fand sie tausend fröhliche und freundliche Worte, um ihn zu trösten, und schien selbst das glücklichste aller Geschöpfe zu sein. Sie merkte sich minutiös alle Gebetsanliegen, die man ihr antrug, und brachte sie unermüdlich immer wieder vor Gott. Oft waren Annas Briefe mit einer kleinen, zwei- oder dreifarbigen Federzeichnung verziert, die das Kreuz, einen von Dornen umkränzten Kelch oder auch die eine oder andere Passionsszene darstellte. «Liebe Fanny», schrieb sie am 14. Dezember 1918 an eine Freundin, «wir müssen unsere Leiden als unsere besten Freunde betrachten, die uns Tag und Nacht ohne Unterlass begleiten wollen, um uns zu ermahnen, unsere Blicke nach oben zum heiligen Kreuz Christi hin zu richten.»

Ijob ist unschuldig

Die Menschen haben seit jeher nach dem Sinn des Leidens gefragt. «Im Buch Ijob hat die Frage ihren lebendigsten Ausdruck gefunden», schreibt Papst Johannes-Paul II.. «Die Geschichte dieses gerechten Menschen ist bekannt: Ohne eigene Schuld wird er von unzähligen Leiden heimgesucht. In dieser furchtbaren Lage erscheinen in seinem Hause die drei alten Freunde, die ihn davon zu überzeugen suchen, dass er irgendeine schwere Schuld begangen haben muss, da er von so vielfältigem und schrecklichem Leiden heimgesucht worden ist. Ijob hingegen bestreitet die Richtigkeit dieses Prinzips, welches das Leiden mit der Strafe für Sünde gleichsetzt... Schließlich tadelt Gott selbst die Freunde Ijobs für ihre Anklagen und erkennt an, dass Ijob nicht schuldig ist. Sein Leiden ist das eines Unschuldigen; es muss als ein Geheimnis angenommen werden, das der Mensch mit seinem Verstande letztlich nicht zu durchdringen vermag. Wenn es auch wahr ist, dass Leiden einen Sinn als Strafe hat, wann immer es an Schuld gebunden ist, so ist es doch nicht wahr, dass jedes Leiden Folge von Schuld sei und den Charakter von Strafe habe...

Um aber die richtige Antwort auf das 'Warum' des Leidens finden zu können, müssen wir auf die Offenbarung der göttlichen Liebe schauen: Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat (Joh 3,16)... Der Mensch stirbt, wenn er das ewige Leben verliert. Der eingeborene Sohn ist der Menschheit geschenkt worden, um den Menschen vor allem vor diesem endgültigen Übel und vor dem endgültigen Leiden zu bewahren... Christus leidet freiwillig, und er leidet unschuldig. Im Leiden Christi hat das menschliche Leiden seinen Höhepunkt erreicht. Zugleich ist es in eine völlig neue Dimension und Ordnung eingetreten: Es ist mit der Liebe verbunden worden, mit jener Liebe, die das Gute schafft, indem sie es sogar aus dem Bösen wirkt, und zwar durch das Leiden, so wie das höchste Gut der Erlösung der Welt vom Kreuz Christi ausgegangen ist. In ihm müssen wir auch die Frage nach dem Sinn des Leidens neu stellen und aus ihm die Antwort auf diese Frage bis zur letzten Tiefe ablesen» (SD, Nr. 10, 11, 13, 14, 18).

Wie schnell die Zeit vergeht!

Schon seit langem gehörte Anna dem Dritten Orden des heiligen Franziskus an. Vom 4. Oktober 1910 an (dem Fest des heiligen Franziskus von Assisi) trug sie für einige Zeit die Stigmen der Passion, doch sie bat Gott, er möge die mystischen Wundmale nicht sichtbar werden lassen; das wurde ihr auch gewährt. Sie scheint die Heilige Schrift nicht viel gelesen zu haben, doch als Tochter der katholischen Kirche kannte sie deren Lehre und deren Liturgie sehr gründlich und vollzog sie mit Hilfe ihrer Kindheitserinnerungen im Jahreslauf nach. «Für die heilige Kirche und ihre Hirten zu beten, ist für mich das Wichtigste», behauptete sie. Ihr Leben als Kranke begriff sie als Teilhabe am Kreuz Christi. «In den Stunden des Leidens und den vielen schlaflosen Nächten habe ich die beste Gelegenheit, mich im Geiste vor das Allerheiligste zu begeben und dem Heiligsten Herzen Jesu Sühne und Wiedergutmachung anzubieten. Oh! Wie schnell die Zeit dann für mich vergeht! Heiligstes Herz Jesu, verborgen im allerheiligsten Sakrament, ich danke dir für mein Kreuz und meine Leiden, vereint mit der Danksagung von Maria, der Mutter der Schmerzen.»

«Der Erlöser hat an Stelle des Menschen und für den Menschen gelitten. Jeder ist auch zur Teilhabe an jenem Leiden aufgerufen, durch das die Erlösung vollzogen wurde. Indem er die Erlösung durch das Leiden bewirkte, hat Christus gleichzeitig das menschliche Leiden auf die Ebene der Erlösung gehoben. Darum kann auch jeder Mensch durch sein Leiden am erlösenden Leiden Christi teilhaben... Denn wer in Verbundenheit mit Christus leidet,... ergänzt auch durch sein Leiden, was an den Leiden Christi noch fehlt (Kol 1,24)... Das Leiden Christi hat das Gut der Erlösung der Welt erwirkt. Dieses Gut ist in sich unerschöpflich und grenzenlos. Kein Mensch vermag ihm etwas hinzuzufügen. Zugleich jedoch hat Christus im Geheimnis der Kirche als seines Leibes gewissermaßen sein Erlöserleiden jedem anderen Leiden des Menschen geöffnet» (SD, Nr. 19, 20, 24).

Unser Herr Jesus Christus, die Heilige Jungfrau Maria und die Heiligen sprachen oft zu Anna im Laufe ihrer nächtlichen Träume, und diese himmlischen Botschaften schenkten ihr Erholung und gleichsam einen Vorgeschmack auf das Paradies. Doch dieser Trost gab ihr nie eine übermenschliche Unempfindlichkeit. Bis zuletzt nahm sie die magere Linderung, die ihr die Medizin verschaffen konnte, dankbar an. In den fünfundzwanzig Jahren ihres «Martyriums» vollzog sich bei ihr allerdings ein Fortschritt in der inneren Annahme der Heimsuchungen. Sie entdeckte nach und nach das Geheimnis des inneren Friedens, das sie in ihrer ganz einfachen Sprache folgendenmaßen ausdrückte: «Oh! Welches Glück und welche Liebe im Kreuz und im Leiden verborgen sind!... Ich bin keine Viertelstunde ohne zu leiden, und schon seit langem weiß ich nicht mehr, was es heißt, schmerzfrei zu sein... Oft leide ich so sehr, dass ich kaum ein Wort sagen kann; in diesen Augenblicken denke ich, dass mein Vater im Himmel mich besonders lieben muss.» Gemäß dem Wort des heiligen Paulus, Ich bin überreich an Freude bei all unserer Drangsal (2 Kor 7,4), litt sie mit einer geheimnisvollen, nicht wahrnehmbaren Freude.

Eine Quelle der Freude

«Quelle der Freude wird die Überwindung des Gefühls von der Nutzlosigkeit des Leidens... Das Leiden verzehrt nicht nur den Menschen innerlich, sondern macht ihn wohl auch zu einer Last für die anderen. Der Mensch sieht sich dazu verurteilt, von den anderen Hilfe und Beistand zu erhalten, und kommt sich selbst zugleich als unnütz vor. Die Entdeckung des heilbringenden Sinnes eines Leidens in Gemeinschaft mit Christus verwandelt dieses niederdrückende Gefühl. Der leidende Mensch dient in der geistlichen Dimension des Erlösungswerkes wie Christus dem Heil seiner Brüder und Schwestern... Wer an den Leiden Christi teilhat, bewahrt in seinen Leiden einen ganz besonderen Teil des unendlichen Schatzes der Erlösung der Welt und kann ihn mit den anderen teilen» (SD, Nr. 27).

Dreieinhalb Jahre vor ihrem Tod musste Anna ihre Näharbeiten aufgeben, die ihr eine Ablenkung und eine Gelegenheit boten, sich nützlich zu machen. Zudem wurde es absolut unmöglich, sie in die benachbarte Pfarrkirche zu bringen, damit sie die Messe hören konnte; dieser Verzicht war für sie sehr schmerzlich. Sie schrieb: «Mein Leben erlischt nach und nach im Leiden... die Ewigkeit rückt immer näher; bald werde ich in Gott leben, der das Leben selbst ist. Der Himmel hat keinen Preis, und ich freue mich jede Minute auf den Ruf des Herrn in die unendlich schöne Heimat» (16. März 1922). Als Anna Schäffer am 5. Oktober 1925 die heilige Kommunion zum letzten Mal empfangen hatte, machte sie das Zeichen des Kreuzes und murmelte: «Herr Jesus, ich liebe dich.» Sie verschied friedlich im Alter von 43 Jahren. Ihr Körper ruht auf dem Friedhof von Mindelstetten, wo er auf die «Auferstehung des Fleisches» wartet. «Christus hat durch seine Auferstehung die Welt endgültig überwunden; wegen ihrer Beziehung zu Passion und Tod überwand er die Welt zugleich aber auch durch sein Leiden. Ja, das Leiden ist in einzigartiger Weise in jenen Sieg über die Welt einbezogen, der in der Auferstehung offenbar geworden ist. Christus bewahrt an seinem auferstandenen Leib die Wundmale der Kreuzigung an den Händen, den Füßen und an der Seite. Durch die Auferstehung offenbart er die siegreiche Kraft des Leidens» (SD, Nr. 25).

Nach dem Vorbild des guten Samariters

Die Kraft des Leidens ist den Menschen auch überlassen worden, um eine «Zivilisation der Liebe» entstehen zu lassen: «Die beiden Teile der Botschaft Christi vom Weltgericht (Mt 25,34-45) weisen eindeutig darauf hin, wie wesentlich es für jeden Menschen im Hinblick auf sein ewiges Leben ist ,innezuhalten' - wie der barmherzige Samariter es tat - beim Leiden des Nächsten, ,Mitleid' mit ihm zu haben und schließlich ihm zu helfen. Im messianischen Programm Christi, zugleich Programm für das Reich Gottes, ist das Leiden dafür in der Welt, um Liebe zu wecken, um Werke der Nächstenliebe zu veranlassen und die gesamte menschliche Zivilisation in eine ,Zivilisation der Liebe' zu verwandeln. In dieser Liebe verwirklicht sich die Heilsbedeutung des Leidens bis ins letzte und erreicht ihre endgültige Dimension» (SD, Nr. 30).

Der Papst schließt sein apostolisches Schreiben mit folgenden Worten: «Wir bitten euch alle, die ihr leidet, uns zu unterstützen. Gerade euch, die ihr schwach seid, bitten wir, zu einer Kraftquelle für die Kirche und für die Menschheit zu werden. Möge in dem schrecklichen Kampf zwischen den Kräften des Guten und des Bösen, der sich vor uns in der heutigen Welt abspielt, euer Leiden in Einheit mit dem Kreuze Christi siegen!» (SD, Nr. 31). Die selige Anna Schäffer war dank des Kreuzes Jesu siegreich. Schon vor dem offiziellen Spruch der Kirche strömte das Volk zahlreich aus Bayern und dann aus ganz Europa zu ihrem Grab, um ihre Hilfe zu erbitten. Im Laufe des Jahres 1998 wurden in der Pfarrgemeinde von Mindelstetten 551 ihrer Fürsprache zu verdankende Gnadenerweise registriert. Seit 1929 wurden über 15000 ihrer Fürbitte zugeschriebene Gnadenakte gemeldet.

Anlässlich ihrer Seligsprechung am 7. März 1999 sagte der Papst: «Wenn wir unseren Blick auf die selige Anna Schäffer richten, lesen wir in ihrem Leben einen lebendigen Kommentar zu dem, was der heilige Paulus den Römern geschrieben hatte: Die Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wurde (Röm 5,5). Zwar ist ihr der Kampf darum, sich dem Willen Gottes zu überlassen, nicht erspart geblieben. Doch sie durfte immer besser begreifen, dass gerade die Schwäche und das Leiden die Seiten sind, auf die Gott sein Evangelium schreibt. Ihr Krankenbett wurde zur Wiege eines sich auf die ganze Welt ausdehnenden Apostolats.»

Ob in ihren Briefen oder in ihrer Handarbeit, die selige Anna Schäffer stellte mit Vorliebe das Herz Jesu dar, das Symbol der göttlichen Liebe. Wir empfehlen ihr alle Leidenden, damit sie ihnen hilft, sich in Erwartung der glorreichen Ewigkeit mit diesem Heiligsten Herzen zu vereinen.

Dom Antoine Marie osb

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