Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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7. Juni 2007
Fronleichnam


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Als die hl. Therese von Lisieux auf ihrem Sterbebett hörte, wie eine Novizin ihrer Traurigkeit darüber freien Lauf ließ, dass sie so viel leiden musste, erwiderte sie: «Aber nein! Das Leben ist nicht traurig. Ich könnte Sie verstehen, wenn Sie sagten: ‚Das Exil ist traurig'. Man begeht aber einen Fehler, wenn man das‚ was zwangsläufig ein Ende hat, ‚Leben' nennt. Nur den himmlischen Dingen, nur dem nie Endenden steht dieser Name zu, und so betrachtet ist das Leben niemals traurig, sondern heiter, sehr heiter!» Die Novizin hieß Schwester Marie de la Trinité («von der Dreifaltigkeit»).

Marie-Louise Castel wurde am 12. August 1874 in Saint-Pierre-sur-Dives in der Normandie geboren und bereits am Tag danach getauft. Sie war als dreizehntes Kind auf die Welt gekommen, doch acht Kinder waren sehr früh verstorben. Aus der Familie gingen insgesamt vier geistliche Berufungen hervor. Der Vater war Lehrer im Staatsdienst und machte sich nie die Gesetze von 1882 über die Laizisierung der Schulen zueigen, sondern hielt für seine Schüler an der frommen Gewohnheit des Morgengebets fest. Seine mutige Haltung missfiel der Verwaltung. Er musste von seinem Amt zurücktreten und ließ sich in Paris nieder. Von Marie-Louises Eltern sehr verehrt wurde das Heilige Antlitz unseres Herrn Jesus Christus. Bereits sehr früh vernahm Marie-Louise den Ruf zum geweihten Leben. Im Alter von 12 Jahren entdeckte sie ein Gebet mit der «Bitte um Erleuchtung über die Berufung», das sie an neun Tagen hintereinander sprach. Als sie am Ende der Novene vor dem Heiligen Antlitz betete, hatte sie eine Eingebung, die sie folgendermaßen übersetzte: «Wie glücklich müssen die Karmelitinnen sein! Ich werde Karmelitin!»

«Der liebe Gott ruft mich, und ich folge!»

Die Sehnsucht nach dem Karmel wurde immer stärker in ihrer Seele, ohne jedoch ihren impulsiven Charakter auch nur etwas zu mildern. Hinter dem Rücken ihrer Eltern durchstreifte sie Geschäfte und Jahrmärkte auf der Jagd nach Attraktionen. An den Schießbuden nahm sie «aus Andacht» besonders gerne die Silhouetten von Priestern und Nonnen ins Visier! Da sie den Augenblick ihres Eintritts in den Karmel nicht abwarten wollte, um sich Gott zu weihen, legte sie noch vor ihrem 16. Geburtstag ein Keuschheitsgelübde ab. Einige Tage nach ihrem Gelübde erfuhr sie von ihrem Beichtvater, dass sie von der Priorin des Karmels der Sühne und vom Heiligen Antlitz (in der Avenue de Messine in Paris) zu einer Einkehrwoche aufgenommen werde. Als die Priorin sie darum bat, die Gründe aufzuschreiben, aus denen sie sich zum Karmel hingezogen fühlte, schrieb sie folgende Zeilen: «Ehrwürdige Mutter, Sie fragen mich nach den Gründen, aus denen es mich nach dem Karmel verlangt. Ehrlich gesagt, weiß ich nur eines: Der liebe Gott ruft mich, und ich folge. Er hat aus Liebe zu mir gelitten bis in den Tod; ich will auch aus Liebe zu Ihm leiden.» Die Priorin antwortete: «Der Anfang Ihres Briefes hat mich davon überzeugt, dass Sie berufen sind.» Einige Monate später, am 30. April 1891 trat das junge Mädchen in den Karmel ein und erhielt den Namen «Schwester Agnès de Jésus». Da Schwester Agnès bald krank wurde und ihr Gesundheitszustand sich verschlechterte, musste sie zu ihrem Leidwesen am 8. Juli 1893 «in die Welt» zurückkehren.

Schon am 22. Juli suchte Marie-Louise im Karmel von Lisieux Trost. Im Sprechzimmer wurde sie von der neuen Priorin, Mutter Agnès de Jésus, der Schwester der hl. Therese vom Kinde Jesus, empfangen. Nach Paris zurückgekehrt, erfuhr Marie-Louise, dass sie erst im Alter von 21 Jahren in den Karmel in der Avenue de Messine zurückkehren dürfe. Als die Priorin ihren Schmerz sah, riet sie ihr, sich beim Karmel von Lisieux um Aufnahme zu bewerben: «Die Heimatluft wird Ihnen besser bekommen als die pariser Luft.» Am 16. Juni 1894 trat Marie-Louise in das Karmelitinnenkloster von Lisieux ein, allerdings nicht ohne eine letzte Runde auf dem Jahrmarkt gemacht zu haben! Sie behielt ihr ganzes Leben lang einen Hauch Vorwitz aus ihrer Pariser Jugend bei. Ihr rundes Gesicht blieb so kindlich, dass Schwester Therese sie «ihr Püppchen» nannte; dieser Kosename zeigte die Zuneigung Thereses, die, obwohl sie selbst erst 20 Jahre jung war, den Auftrag hatte, Marie-Louise mit dem Leben im Karmel vertraut zu machen. Marie-Louise erhielt den Namen «Schwester Marie-Agnès vom Heiligen Antlitz». Da sie Thereses jüngste Novizin war, bekam sie besonders viele Ratschläge von ihr und wurde bald ihre eifrige Schülerin, machte ihr allerdings auch viel Arbeit. Therese sah ihr nichts nach und ließ ihr keine Laune durchgehen. Das Scheitern der jungen Schwester in einem anderen Kloster sowie ihr Benehmen – das Benehmen einer kleinen Pariserin – stießen bei den älteren Mitschwestern nicht gerade auf Wohlwollen. Sie dachte nicht daran, die Augen gesenkt zu halten, wie von der Regel des Karmel verlangt, sondern ließ sie überall umherwandern. Therese machte sie darauf aufmerksam, dass ihr Blick zu sehr an den eines «Wildkaninchens» erinnere. Nichtsdestoweniger wurde die Atmosphäre des Noviziats durch die Gegenwart des «Pariser Kindes» lockerer.

Dank ihrer Fortschritte durfte die Postulantin am 18. Dezember 1894 erneut die Tracht der Karmelitinnen anlegen. Schwester Marie-Agnès war von der Vollkommenheit jedoch noch weit entfernt. So fehlte es auch nicht an entsprechenden Bemerkungen. Eines Tages war sie so entmutigt, dass sie sich Therese anvertraute: «Ich habe keine Berufung!» Therese lachte nur darüber, und Schwester Marie-Agnès lachte herzlich mit. Als Hilfestellung zum Ablegen der Gewohnheit, beim kleinsten Anlass in Tränen auszubrechen, wandte Schwester Therese eine originelle Methode an: «Sie nahm eine Muschelschale vom Tisch», erzählte die Novizin später, «und hielt mir die Hände fest, damit ich mir die Tränen nicht abwischen konnte. Dann begann sie meine Tränen in der Muschelschale aufzufangen: Schon bald verwandelten sich meine Tränen in ein fröhliches Lachen.» Therese fügte hinzu: «Von nun an dürfen Sie weinen, so viel Sie wollen, aber nur in die Muschel!» So brachte sie der jungen Schwester die Kunst des Glücklichseins und des Lächelns unter allen Umständen bei. «Das Gesicht ist das Abbild der Seele», sagte sie, «es muss immer ruhig sein, wie das eines stets zufriedenen kleinen Kindes, selbst wenn Sie allein sind, denn die Augen Gottes und der Engel ruhen ständig auf Ihnen « Jesus liebt fröhliche Herzen, Er liebt immer lächelnde Seelen.»

Das einzige Ziel: Ihm Freude machen

Die Profess von Schwester Marie-Agnès sollte gegen Ende des Jahres 1895 stattfinden. Doch Mutter Marie de Gonzague, die amtierende Novizenmeisterin, hielt sie noch nicht für ausreichend vorbereitet; so wurde die Feier auf den 30. April 1896 verschoben. Therese schlug daraufhin der Novizin vor, ohne weiter abzuwarten, den «Weiheakt an die barmherzige Liebe Gottes» zu vollziehen, was diese am 1. Dezember 1895 mit großer Inbrunst auch tat. «Ich fühlte mich in eine solche Woge der Gnade getaucht, dass ich den ganzen Tag lang die Gegenwart Jesu als Hostie deutlich in meinem Herzen spürte.» Dieser von Therese verfasste «Weiheakt» sollte den lieben Gott für die Zurückweisung seiner Liebe durch die Geschöpfe entschädigen und dazu ermuntern, einzig und allein dafür zu arbeiten, dass man Ihm Freude macht. Der wichtigste Abschnitt lautet: «Um in einem Akt vollkommener Liebe zu leben, weihe ich mich als Ganz-Brandopfer deiner barmherzigen Liebe und bitte dich, mich unablässig zu verzehren, die Ströme unendlicher Zärtlichkeit, die in dir beschlossen sind, in meine Seele überfließen zu lassen, damit ich eine Märtyrin deiner Liebe werde, o mein Gott! Möge dieses Martyrium, nachdem es mich vorbereitet hat, vor dir zu erscheinen, mir endlich den Tod geben und meine Seele sich ohne Verzug aufschwingen in die ewige Umarmung deiner barmherzigen Liebe «» Jesus trösten und gleichzeitig Seelen retten, das war das große Ziel, für welches das Herz Thereses entflammt war und das sie auch ihren Schülerinnen vermittelte. Bereits am 14. Juli 1889 hatte sie folgendes an ihre Schwester Céline geschrieben, die damals noch nicht im Kloster lebte: «Céline, in den kurzen Momenten, die uns noch bleiben, dürfen wir keine Zeit vergeuden « lass uns Seelen retten « Seelen gehen ins Verderben wie Schneeflocken, und Jesus weint «»

«Sie werden vom lieben Gott geliebt»

Zwei Monate vor der Profess von Schwester Marie-Agnès beschlossen ihre Vorgesetzten, dass sie nunmehr Schwester Marie de la Trinité et de la Sainte-Face (Maria von der Dreifaltigkeit und vom Heiligen Antlitz) heißen solle, um jede Verwechslung mit dem Namen von Mutter Agnès, der damaligen Priorin, auszuschließen. Am 30. April 1896 legte sie schließlich ihre Gelübde ab. «Dieser Tag», schrieb sie, «war mehr vom Himmel als von der Erde « Schwester Therese vom Kinde Jesus schien ebenso glücklich zu sein wie ich.» Die Heilige sagte zu ihr: «Ah! Sie sollten Ihr ganzes Leben lang dankbar sein, denn Sie werden vom lieben Gott besonders geliebt.»

Im Laufe des Jahres 1897 verschlechterte sich der Zustand Schwester Thereses, die an Tuberkulose erkrankt war; man fürchtete sich vor der Ansteckungsgefahr, und die Priorin entschied, dass Schwester Marie de la Trinité von der Kranken fernbleiben solle. Therese schrieb einige kurze Botschaften an ihre Novizin, damit sie diese Entscheidung annehme: «Ich verstehe Ihren Schmerz darüber, dass Sie nicht mehr mit mir sprechen können, sehr gut, aber seien Sie versichert, dass auch ich unter meiner Ohnmacht leide und dass ich noch nie so deutlich gemerkt habe, welch riesigen Platz Sie in meinem Herzen einnehmen!» Am 30. September erlebte Schwester Marie de la Trinité zusammen mit der ganzen Gemeinschaft die letzten Augenblicke der hl. Therese und ihren schönen, langen verzückten Blick in dem Moment mit, in dem sie «ins Leben einging». Nach der Heiligsprechung Thereses 1925 schrieb Schwester Marie de la Trinité: «Ich glaube, es passiert zum ersten Mal, dass jemand heiliggesprochen wird, der nichts Außergewöhnliches getan hat: Es gab keine Ekstasen, keine Offenbarungen, keine Kasteiungen, nichts, was kleine Seelen wie unsere erschrecken könnte. Ihr ganzes Leben lässt sich in einen einzigen Satz fassen: Sie liebte Gott in all den kleinen Verrichtungen des Gemeinschaftslebens, die sie mit großer Zuverlässigkeit ausführte. Sie war stets von großer seelischer Gelassenheit im Leiden wie in der Freude, denn sie nahm alle Dinge so, als kämen sie direkt vom lieben Gott.»

Das Leben des Klosters ging weiter: mit Stundengebeten im Chor, zwei Stunden stillen Gebets jeden Tag und häuslichen Tätigkeiten. Doch Therese hatte die kleine Gemeinschaft tief geprägt, insbesondere Schwester Marie de la Trinité, die in der Erinnerung an die Heilige eine Triebfeder ihres spirituellen Lebens sah. Im Übrigen hatte diese stets das Gefühl, dass Schwester Therese vom Kinde Jesus sie während ihrer ganzen Pilgerschaft auf Erden begleitete. Diese Begleitung machte ihr Mut angesichts der großen Menge von Briefen, die nach der Veröffentlichung von Thereses Autobiographie «Geschichte einer Seele» im Kloster eintrafen. Sie war mit dieser Korrespondenz sehr ausgelastet: Die Anzahl der täglich eingehenden Briefe stieg von anfangs 25 im Jahre 1909 auf rund 1000 bei der Heiligsprechung 1925.

Am 10. März 1926 schrieb Schwester Marie de la Trinité an Mutter Agnès: «Ich möchte den lieben Gott so lieben, wie unsere kleine Therese ihn geliebt hat, und wie sie sein Herz erfreuen!» Handwerklich begabt, arbeitete sie in der Buchbinderei sowie in der Hostienbäckerei. Ihre Entspannung bestand darin, die Arbeit zu wechseln. Ihre fröhliche Mitteilsamkeit ließ nicht nach. Sie hob gerne die Nachsicht und Güte ihrer Priorin, Mutter Agnès, hervor: «Ich finde Sie so barmherzig», schrieb sie ihr, «dass mir scheint, selbst der liebe Gott kann nicht barmherziger sein!» Für das innere Gebet genügte es ihr, sich an die Worte und Beispiele ihrer verstorbenen Gefährtin zu besinnen: «Meine Erinnerungen an Therese genügen mir für mein inneres Gebet, und ich weiß, dass Gott nichts anderes von mir will, als dass ich den ‚Kleinen Weg' weitergehe, auf welchem sie meine ersten Schritte gelenkt hatte. Mein ganzes Streben ist darauf gerichtet, diesen Weg nicht zu verlassen, denn man muss ständig aufpassen, um auf diesem Weg zu bleiben. Aber welcher Friede, wenn man dort ist!»

«Sobald man sie erkennt»

In ihrem «Kleinen Weg», das sich an alle Menschen wandte, die dem Herrn dienen und seinem göttlichen Willen gehorchen wollen, legte Therese den Kern ihrer Lehre dar: Man solle nicht über die eigenen Schwächen klagen, sondern sich lieber in die Arme Jesu stürzen, um sich von seiner unendlichen Barmherzigkeit reinwaschen zu lassen. Schwester Marie de la Trinité hatte ihre Lektion gelernt; am 2. November 1914 schüttete sie ihr Herz vor Mutter Agnès aus: «Ich fühle nur noch mein Elend und meine Ohnmacht, ich sehe nur noch Finsternis, und verharre trotz allem doch in einem unbeschreiblichen Frieden. Jesus schläft, Maria ebenfalls; ich will sie nicht aufwecken, und warte wie Therese in Frieden auf den Hafen des Himmels.» An eine andere Schwester schrieb sie: «Ach! Wenn Sie mit mir lebten, könnten Sie sofort feststellen, dass wir uns mit all unseren kleinen Fehlern absolut ähnlich sind. Ich sage ‚klein', weil sie, sobald man sie erkennt und ablegen will, nicht mehr schwer wiegen und Jesus keinen Kummer mehr bereiten, sie dienen uns vielmehr als Leitersprossen auf dem Wege des Leidens und der Erniedrigung zu Ihm. Ein Heiliger ist der, der immer wieder aufsteht. Ich weiß nicht mehr, von wem dieses Wort stammt, aber immer wieder aufstehen setzt voraus, dass man immer wieder hinfällt!»

Im Februar 1923 erkrankte Schwester Marie de la Trinité an einer Lungenentzündung. Bald danach erschien ein Fleck auf ihrer Kopfhaut: Es war ein schmerzhafter «Lupus» (d.h. eine Krankheit des Hautes), der sich nach und nach auf das ganze Gesicht ausbreitete und sie wie eine Leprakranke aussehen ließ. Sie war keineswegs betrübt, sondern vielmehr glücklich, auf ihrem Gesicht das Heilige Antlitz Jesu in seiner Passion nachzubilden, das sie an Hand der Worte des Propheten Jesaia betrachtet hatte: Wie über ihn viele erschauerten – so unmenschlich entstellt sah er aus, und seine Gestalt war nicht mehr wie die der Menschen « Keine Gestalt hatte er und keine Schönheit, dass wir nach ihm geschaut hätten, kein Aussehen, dass er uns gefallen hätte. Verachtet war er, von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, mit Krankheit vertraut! Wie einer, vor dem man das Antlitz verhüllt, war er verachtet, so dass wir ihn nicht schätzten. Jedoch, unsere Krankheiten trug er, unsere Schmerzen lud er sich auf. Wir aber hielten ihn für einen Getroffenen, von Gott Geschlagenen und Niedergebeugten. Und doch wurde er durchbohrt für unsere Frevel, zerschlagen wegen unserer Missetaten. Züchtigung für unser Heil lag auf ihm, durch seine Wunde ward uns Heilung zuteil (Jes 52,14 – 53,5).

«Mein Leib bist du!»

Bereits in sehr jungem Alter hatte es sich Marie de la Trinité angewöhnt, das geschundene Gesicht des Herrn zu betrachten. Eines Tages sagte sie sich beim Betrachten des Heiligen Antlitzes: «Das heilige Bild zeigt das Haupt Christi; wo aber ist sein Leib?» Und der Herr schien ihr zu antworten: «Mein Leib bist du!» –«Ja», schrieb sie am 3. April 1910, «wir sind die Glieder zu diesem anbetungswürdigen Haupt; wen wundert es, dass wir in Leid, Verachtung und Erniedrigung leben?» So war sie bereit, ihr Kreuz mit Liebe zu Dem zu tragen, den sie über alles liebte. Sie verstand immer besser, dass ihre Wunden, vereint mit denen des Erlösers, eine Gnadenquelle für die Seelen waren. Zu diesem Thema sagte sie zu Mutter Agnès am 24. April 1934: «Das Wort des Propheten ‚Der Herr verletzt nur, um zu heilen' tut mir sehr gut, wenn ich an meinen Ausschlag denke; ja, alle unsere körperlichen und seelischen Wunden dienen vereint mit den Wunden Jesu dazu, Seelen zu heilen; welche Gnade, so an Seinem Erlösungswerk beteiligt zu sein.» Die Verbandswechsel dauerten immer länger und wurden immer schmerzhafter: Bald brauchte man jeden Morgen zwei Stunden dafür. «Mein ‚Lupus'», sagte sie, «nagt Tag und Nacht an meinem Kopf. Wie viele Akte des Verzichts und der Liebe muss ich seinetwegen ständig machen!» Eines Tages warf sie sich vor, ihre Liebe zum Leiden sei nicht so groß wie die der hl. Therese. Sie bat die Heilige, sie möge ihr diese Liebe erwirken. Am folgenden Tag, dem 6. August 1940, an dem man im Karmel das Heilige Antlitz feierte, begriff sie während der Festmesse zur Verklärung unseres Herrn auf einmal, dass dieser Wunsch sie vom «Kleinen Weg» abweichen ließe und dass es besser war, wenn man sich damit begnügte, immer «arm und kraftlos» zu sein: «Kann man von einem kleinen Kind verlangen, dass es das Leiden liebt? Es weint, es ist unglücklich, wenn es leidet « Dem lieben Gott gefällt es, wenn er uns mit Jesus sagen hört: ‚Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen'. Denn Er weiß, dass wir uns doch seinem Willen anvertrauen!» Genau das beschert unserer Seele Frieden. Dieser Friede wird aus der Quelle der Gewissheit gespeist, dass der Herr seine Kraft von Tag zu Tag schenkt. Die Kranke hatte das eines Tages am eigenen Leibe erfahren: «Am Samstag, nach dem Besuch des Arztes, ließ mich der liebe Gott deutlich spüren, dass Er mich aufrecht hielt, während ich feurig stechende Schmerzen litt. Ich machte mir gerührt klar, dass seine göttliche Hand die Hand des Arztes lenkte und dass Er die Intensität des Schmerzes nach der Kraft bemaß, die Er mir schenkte, um ihn zu ertragen «»

Da Schwester Marie de la Trinité immer gebeugter ging, trennte sie sich gar nicht mehr von ihrem Stock. Trotz dieser verfrühten Alterszeichen bewahrten ihre Worte stets einen heiteren Grundton, selbst wenn sie sehr tiefgründig waren, wie in dieser Notiz vom 6. Juni 1939: «Mein Gott, wenn Du mich ohne meine Krankheit auch nur ein bisschen weniger lieb hättest, dann möchte ich sie viel lieber behalten, um Dir ganz und gar lieb zu sein.» Am 21. Juli 1941 schrieb sie an Pater Marie-Bernard, einen Zisterziensermönch aus der Grande-Trappe: «Der liebe Gott schenkt mir die Gnade, dass ich mich nicht vor der Zukunft fürchte: Ich vertraue mich Ihm an wie ein Kind sich dem Besten aller Väter anvertraut, der alles zum Besten regelt. Mein großer Trost besteht darin, das schmerzensreiche Antlitz Jesu anzuschauen und einige Ähnlichkeit mit ihm festzustellen.» Ein Karmeliter, der ihr 1940 begegnete, zeichnete das folgende malerische Porträt von ihr: «Sie war damals über 65 Jahre alt, trug ihr Alter jedoch beherzt trotz des Lupus, der die Hälfte ihres Gesichts verunstaltete. Sie vermittelte mir einen Eindruck von Heiligkeit und Einfachheit, den ich nie vergessen habe. Sie erzählte mir mit einer so herzlichen und respektvollen Verehrung von der hl. Therese, dass ich heute noch davon gerührt bin.»

So gut es ging, verfolgte Schwester Marie die Aktivitäten der Gemeinschaft, hielt, wenn sie an der Reihe war, die Lesung im Refektorium und ging, auf ihren unvermeidlichen Stock gestützt, zum Stundengebet im Chor. Doch ihre Gesundheit verfiel unaufhaltsam. Am 15. Januar 1944 empfing sie die Sterbesakramente mit den Worten: «Süßer und demütiger Jesus.» In der Nacht vom 15. auf den 16. Januar sprach sie die letzten Worte: «Im Himmel will ich immer der kleinen Therese folgen.» Nach einem kurzen Todeskampf verstarb sie am 16. Januar, dem Festtag Unserer Lieben Frau der Siege, gegen 11 Uhr vormittags.

Seine Mitwirkenden

Schwester Marie de la Trinité weist uns allen den Weg der spirituellen Kindheit. Sie hilft uns, den Wert des demütig mit der Passion des Heilands vereinten Leidens zu begreifen, auf den uns Papst Johannes-Paul II. einige Wochen vor seinem Tod verwies, als er selbst die Last des Leidens und des Alters zu tragen hatte: «Liebe Kranke, wenn Ihr zu Christi Leiden am Kreuze Eure Schmerzen hinzufügt, könnt Ihr auf bevorzugte Weise seine Mitwirkenden bei der Rettung der Seelen sein. Das ist Eure Aufgabe in der Kirche, die sich stets der Rolle und des Wertes der vom Glauben erleuchteten Krankheit bewusst ist. Deshalb ist Euer Leiden niemals unnütz, liebe Kranke! Im Gegenteil, es ist wertvoll, denn es ist die geheimnisvolle aber wirkliche Teilhabe an der rettenden Sendung des Sohnes Gottes. Deshalb zählt der Papst sehr auf den Wert Eurer Gebete und Eurer Leiden: Opfert sie auf für die Kirche und für die Welt» (Botschaft an die Kranken, 11. Februar 2005). Zwei Tage später fügte Johannes-Paul II. hinzu: «Wir werden nicht ins ewige Leben eingehen, wenn wir nicht in Gemeinschaft mit Christus unser Kreuz tragen. Wir finden nicht zum Glück und zum Frieden, wenn wir nicht mutig den innerlichen Kampf aufnehmen. Diesen Kampf gewinnt man mit den Waffen der Buße: Gebet, Fasten und Werke der Barmherzigkeit «»

Bitten wir Schwester Marie de la Trinité, sie möge ihre Fügsamkeit dem Willen Gottes gegenüber in den kleinen Dingen des Alltags auch für uns erwirken, damit wir das Heilige Herz Jesu trösten und viele Seelen für Ihn gewinnen können.

Dom Antoine Marie osb

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