Brief

Blason   Abtei Saint-Joseph de Clairval

F-21150 Flavigny-sur-Ozerain

Frankreich


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4. November 2020
Fest von hl. Karl Borromäus


Lieber, verehrter Freund der Abtei Saint-Joseph,

Gemma Galgani berichtet von einer kurzen Unterhaltung mit ihrem Schutzengel: „Er hieß mich zu Bett gehen, indem er mir sagte, ich müsse diese Nacht allein bleiben, weil, wenn er dabliebe, ich nicht schlafen würde; und er ging. Es ist wahr, wenn er da ist, schlafe ich nicht; er lehrt mich so vieles, was sie im Paradies machen, und schnell geht die Nacht vorbei. Er hat mich allein gelassen, und ich habe geschlafen: Mehrmals bin ich jedoch erwacht, und dann sagte er sogleich: ‚Schlafe, damit ich nicht wirklich weggehe’“. So wurde Gemma vom Himmel behutsam beigebracht, wie man sich in den Willen Gottes fügt. Wer war dieses junge Mädchen, über das der hl. Maximilian Kolbe 1921 schrieb: „Ich habe eine Biographie Gemmas dabei. Sie hat mir mehr geboten als eine Reihe von geistlichen Übungen“?

Gemma wurde am 12. März 1878 als das fünfte der acht Kinder ihrer Familie in der Toscana geboren und am folgenden Tag getauft. Ihre Mutter Aurelia Landi, die Frau des Apothekers von Camigliano, Enrico Galgani, war überaus fromm und hätte für ihr Kind eigentlich gern den Namen einer großen Heiligen gewünscht; der Pfarrer tröstete sie mit den Worten: „Gemma! Gemmen (Edelsteine) findet man doch im Paradies! Hoffen wir, dass sie auch ein Edelstein im Paradies wird.“ Die Mutter war bemüht, ihren tiefen Glauben an die Kinder weiterzugeben; sie leitete sie zum Beten an, nahm sie in die Messe mit und erklärte ihnen, wie barmherzig Jesus sein Leben für uns hingegeben hat. Im April 1878 zog die Familie nach Lucca, wo Herr Galgani eine große Apotheke gekauft hatte. 1881 kam Gemma in den Kindergarten und legte dort einen wachen Verstand und eine stetig wachsende Liebe zum Beten an den Tag. Als sie etwa 4 Jahre alt war, wurde sie einmal von ihrer Großmutter in ihrem Zimmer auf Knien und mit gefalteten Händen vor einem Bild der Gottesmutter überrascht. „Was machst du da, Gemma?“, fragte die Großmutter. „Ich bete das Ave Maria. Lass mich, ich will beten!“, erwiderte die Kleine. Mitunter betete sie auch mit ihrer Mutter zusammen. Doch Aurelia Galgani erkrankte an Tuberkulose und starb 8 Jahre nach Gemmas Geburt. Bald konnte die Kranke das Bett nicht mehr verlassen. Gemma wachte viel bei ihr: „Ich wollte mich gar nicht von ihr trennen und gar nicht mehr aus ihrem Zimmer gehen, sondern mit ihr ins Paradies gehen, und ich fürchtete, dass sie allein in den Himmel emporsteigen könnte.“

Am 26. Mai 1885 empfing Gemma im Alter von 7 Jahren das Sakrament der Firmung und vernahm dabei zum ersten Mal eine innere Stimme: „Willst du mir deine Mama geben?“ – „Ja, aber nur, wenn Ihr auch mich nehmt.“ – „Nein, gib mir deine Mama freiwillig. Du musst vorläufig noch beim Papa bleiben. Ich werde sie in den Himmel führen, verstehst du?“ – „Ich war gezwungen, mit ja zu antworten, aber ich weinte“, berichtete Gemma und wachte fortan noch ausdauernder bei ihrer sterbenden Mutter. Da Herr Galvani um das Leben seiner Tochter fürchtete, vertraute er sie schließlich einer Tante an. Aurelia starb am 17. September 1886 im Alter von 38 Jahren mit den Worten: „Ich opfere mein Leben für die Gnade, meine acht Kinder im Paradies wiederzusehen.“

Jeden Tag eine 10

Gemma besuchte eine Klosterschule und empfing am 17. Juni 1887 mit 9 Jahren die Erstkommunion. Sie hatte hart um diese Gnade kämpfen müssen, denn damals wurde sie Kindern ihres Alters üblicherweise noch nicht gewährt; aber Enrico Galgani ertrug den Anblick seiner weinenden Tochter einfach nicht länger. Gemma gab später selbst zu, dass sie ihren Vater durch Tränen zu erweichen pflegte, um ihren Willen durchzusetzen. Zum Tag ihrer Erstkommunion schrieb sie später an ihren Beichtvater: „An diesem gleichen Morgen war es auch, dass Jesus mir das große Verlangen eingab, Nonne zu werden“,.

In der Schule zeichnete sich Gemma besonders in Französisch, Mathematik und Musik aus; vor allem wollte sie aber alles über die Passion Jesu erfahren. Ihre Lehrerin versprach, jedes Mal, wenn sie im Unterricht die Bestnote 10 erhalte, ihr einen speziellen Punkt der Leidensgeschichte zu erläutern. „Ich war überglücklich“, schrieb sie später. „Ich hatte jeden Tag eine 10 und bekam jeden Tag meine Erklärung.“ Doch mit etwa 12 Jahren erkaltete ihr Eifer, und sie fühlte, dass sich Jesus immer weiter von ihr entfernte. Sie fand zu viel Gefallen an eleganter Kleidung, und ihr Vater versagte ihr nichts. Sie fühlte sich allerdings auch nach wie vor zu den Armen hingezogen; bevor sie das Haus verließ, steckte sie alles Mögliche ein, um Almosen geben zu können. Sie war so verschwenderisch, dass ihr Beichtvater, Msgr. Volpi (zunächst Weihbischof in Lucca, 1860-1931 Bischof von Arezzo), ihr schließlich die allzu großzügigen Geschenke verbot; auch ihr Vater gab ihr nichts mehr, was sie verschenken konnte. Gemma ging schließlich überhaupt nicht mehr aus dem Haus, da sie Angst hatte, Armen zu begegnen, denen sie nicht helfen konnte.

Der Schmuck der Ehefrau

Am 11. September 1894 starb ihr Lieblingsbruder Gino im Alter von knapp 18 Jahren an Tuberkulose. Gemma war untröstlich und wurde vor Trauer krank. Sobald sie wieder genesen war, wurde sie von ihrem Vater wie zuvor mit Aufmerksamkeiten und Geschenken überschüttet. Einmal schenkte er ihr eine goldene Uhr, die sie freudig zu einem Ausflug anlegte. Bei ihrer Rückkehr erschien ihr ihr Schutzengel zum ersten Mal: „Bedenke, dass Schmuckstücke, die eine Braut des gekreuzigten Königs zieren, keine anderen sein können als Dornen und Kreuz.“ Von da an erlegte sich die junge Frau Jesus zuliebe eine strenge Disziplin auf: Man sah sie nur noch schlicht gekleidet und ohne jeden Schmuck. Ihre Briefe unterschrieb sie fortan mit „Die arme Gemma“.

An Weihnachten 1894 – Gemma war 16 Jahre alt – bekam sie von ihrem Beichtvater die Erlaubnis, ein Keuschheitsgelübde abzulegen. Sie schrieb in einem Brief an ihn: „Heute morgen nach der heiligen Kommunion sagte Jesus zu mir: ‚Sieh, Gemma, in meinem Herzen gibt es ein kleines Mädchen, das ich sehr liebe und von dem ich ebenso wiedergeliebt werde. Dieses Mädchen bittet mich immer um Liebe und Reinheit, und ich, der ich die wahre Liebe und die wahre Reinheit bin, gebe ihm so viel davon, wie ein menschliches Geschöpf überhaupt bekommen kann.’“ Gemma bat Jesus, viel für ihn leiden zu dürfen, um ihm ihre Liebe zu beweisen. Diese überraschende Bitte war nicht Ausdruck einer psychischen Krankheit, sondern vielmehr des brennenden Wunsches, sich mit Jesus in seiner Passion zu vereinen. Denn Gott bietet uns die Möglichkeit, uns im Rahmen der fruchtbringenden Gemeinschaft der Heiligen am Erlösungswerk zu beteiligen.

Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm (1 Kor 12,27). Die Liebe sucht nicht ihren Vorteil (1 Kor 13,5). Die geringste unserer Handlungen wirkt sich, wenn sie aus Liebe geschieht, zum Vorteil aller aus. Dies geschieht in der Solidarität mit allen lebenden und toten Menschen, die auf der Gemeinschaft der Heiligen gründet. Jede Sünde schadet dieser Gemeinschaft … Der Ausdruck (Gemeinschaft der Heiligen) bezeichnet auch die Gemeinschaft der ‚heiligen Personen’ in Christus, der für alle gestorben ist, so dass das, was ein jeder in und für Christus tut oder leidet allen zugute kommt“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 953 und 961).

Gemma wurde bald erhört: Sie bekam ein schmerzhaftes Geschwür am Fuß, das sie – so gut es ging – verbarg und aus dem sich bald eine Knochenfäule entwickelte. Die Schmerzen wurden so schlimm, dass sie ärztlichen Rat einholen musste; um eine Amputation zu vermeiden, riet der Arzt zu einer Abschabung des Knochens. Gemma warf sich später vor, dabei „geweint und gewehklagt zu haben“, obwohl sie von ihren Angehörigen und Ärzten für ihre Ruhe bewundert worden war.

Jesus gehören

1897 starb Enrico Galgani an Kehlkopfkrebs. Gemma trauerte sehr, wurde jedoch von Jesus innerlich gestärkt. Sie kam zu einer Tante väterlicherseits und half in deren Eisenwarenhandlung mit. Sie bekam mehrere Heiratsanträge, doch da sie Jesus allein gehören wollte, lehnte sie sie ab. Ein Rückenleiden zwang Gemma schließlich, nach Lucca zurückzukehren. Sie litt am sogenannten Morbus Pott, einer Knochen-tuberkulose der Wirbelsäule. Sie war bald gelähmt und ans Bett gefesselt. Am meisten litt sie unter den ärztlichen Untersuchungen, da sie sorgsam darauf bedacht war, ihre körperliche und geistige Reinheit durch Schamhaftigkeit zu bewahren: „Niemals vergaß ich jeden Tag drei Ave Maria mit den Händen unter den Knien zu beten (was mich meine Mama gelehrt hatte), damit Jesus mich jeden Tag vor den Sünden gegen die heilige Reinheit bewahrte.“

„Reinheit verlangt Schamhaftigkeit. Diese ist ein wesentlicher Bestandteil der Mäßigung … Sie ist auf die Keuschheit hingeordnet, deren Feingefühl sie bezeugt. Sie lenkt Blicke und Gesten entsprechend der Würde der Menschen und ihrer Verbundenheit … Zur Schamhaftigkeit gehört auch Bescheidenheit. Sie beeinflusst die Wahl der Kleidung. Wo sie die Gefahr einer ungesunden Neugier vermutet, gebietet sie Schweigen und Zurückhaltung … Die Schamhaftigkeit regt zu einer Lebensweise an, die den Zwängen der Mode und dem Druck vorherrschender Ideologien widersteht. Sie entsteht durch das Erwachen des personalen Bewusstseins. Kinder und Jugendliche zur Schamhaftigkeit erziehen heißt, Achtung vor der menschlichen Person zu wecken“ (Katechismus, Nr. 2521-2524). In seiner Enzyklika Sacra virginitas schrieb Papst Pius XII.: „Zur Bewahrung der unversehrten Reinheit genügen weder die Wachsamkeit noch das Zartgefühl. Es sind da Hilfen nötig, die wesentlich über die Kräfte der Natur hinausgehen: das Gebet zu Gott, die Sakramente der Buße und der Eucharistie sowie die warme Liebe zur Gottesmutter“ (25. März 1954, Nr. 61).

Gemma bekannte, dass sie immer enttäuscht war, wenn sie nach einer Zeit des Leidens feststellen musste, dass sie wieder zu Kräften kam, denn sie betrachtete den Tod als Pforte zum Paradies. Die Visitantinnen, die sie pflegten, schlugen ihr vor, eine Novene zur hl. Marga-reta-Maria zu beten, damit diese ihr helfe, entweder gesund zu werden oder zu sterben. Sie las damals mit großer Freude den Lebensbericht des 1862 verstorbenen und 1920 heiliggesprochenen jungen Passionistenmönches Gabriele dell‘Addolorata. Sie fühlte sich ihm freundschaftlich eng verbunden; er erschien ihr jeden Abend und half ihr bei ihrer Novene, an deren Ende sie zum Erstaunen der Ärzte wieder vollkommen gesund wurde. Gemma hatte vor, selbst  Visitantin zu werden, doch Bruder Gabriele riet ihr, sie solle nur geloben, ins Kloster zu gehen und sich dem Heiligen Herzen Jesu zu weihen. Als sie ihn nach dem Grund für diese Empfehlung fragte, gab er ihr die rätselhafte Antwort: „Sorella mia! (Meine kleine Schwester!)“

Enge Freunde

Die Besonderheit von Gemmas Leben lag darin, dass es einerseits schlicht und eintönig verlief, andererseits aber von einem vertrauten Umgang mit der Welt des Übernatürlichen geprägt war. Gemma sprach mit Engeln und Heiligen, als wären sie enge Freunde. Das belegt auch ihr Tagebuch, das sie ihrem Beichtvater zuliebe führte. Am Gründonnerstag des Jahres 1899 richtete der Gekreuzigte folgende Worte an sie: „Siehe, meine Tochter, und lerne, wie man liebt. Siehst du dieses Kreuz, diese Dornen, diese Wunden? Sie sind alle Werke der Liebe, und zwar einer unendlichen Liebe. Siehst du, wie sehr ich dich geliebt habe? Willst du mich auch in Wahrheit lieben? Lerne zuerst zu leiden; leiden lehrt lieben.“ Am folgenden Tag brachte ihr unser Herr Jesus Christus eigenhändig die Kommunion, da sie krank war und nicht in die Kirche durfte. Die Karfreitagsfeier beging sie in ihrem Zimmer: „Es kam mein Schutzengel zu mir und wir beteten gemeinsam; wir standen Jesus in allen seinen Leiden bei und litten mit seiner Mutter alle ihre Schmerzen. Aber mein Engel verfehlte auch nicht, mir einen sanften Vorwurf zu machen: Ich sollte nicht weinen, wenn ich Jesus ein Opfer zu bringen habe, sondern vielmehr denen danken, die mir dazu Gelegenheit geben.“

In seiner Enzyklika Spe salvi erinnert Papst Benedikt XVI. an den Sinn kleiner Opfer: „Zu einer heute vielleicht weniger praktizierten, aber vor nicht allzu langer Zeit noch sehr verbreiteten Weise der Frömmigkeit gehörte der Gedanke, man könne die kleinen Mühen des Alltags, die uns immer wieder einmal wie mehr oder weniger empfindliche Nadelstiche treffen, ‚aufopfern’ und ihnen dadurch Sinn verleihen … Es ist zu fragen, ob da nicht doch irgendwie etwas Wesentliches und Helfendes enthalten war. Was kann das heißen: ‚aufopfern’? Diese Menschen waren überzeugt, dass sie ihre kleinen Mühen in das große Mitleiden Christi hineinlegen konnten, so dass sie irgendwie zu dem Schatz des Mitleids gehörten, dessen die Menschheit bedarf. So könnten auch die kleinen Verdrießlichkeiten des Alltags Sinn gewinnen und zum Haushalt des Guten, der Liebe in der Menschheit beitragen. Vielleicht sollten wir doch fragen, ob solches nicht auch für uns wieder zu einer sinnvollen Möglichkeit werden kann“ (Nr. 40).

Im Mai 1899 klopfte Gemma bei den Visitantinnen von Lucca an, wurde jedoch aufgrund ihrer zu labilen Gesundheit abgewiesen. Am 8. Juni, dem Vorabend des Herz-Jesu-Festes, wurde ihr die Gnade der Stigmatisierung zuteil, d.h. ihre Hände und ihre Flanke wurden mit den Wundmalen Jesu während seiner Passion gezeichnet. „In diesem Augenblick erschien Jesus, dessen Wunden alle geöffnet waren; aber es floss kein Blut mehr aus diesen Wunden, sondern es gingen gleichsam Feuerflammen aus ihnen hervor; und diese Flammen berührten für einen Augenblick meine Hände, meine Füße und mein Herz. Ich fühlte mich sterben und wäre zum Boden gestürzt; aber die Mutter (die Jungfrau Maria) stützte mich.“

Stunden des Leidens und der Freude

Gemma erlebte jede Woche von Donnerstagabend 20 Uhr bis Freitag 15 Uhr die Passion Jesu mit, d.h. sie trug an ihren Händen, Füßen und an ihrer Flanke die Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen. Jesus setzte ihr zudem eigenhändig seine Dornenkrone auf. Gemma war von einem Gefühl der Dankbarkeit überwältigt, da sie Jesus auf diese Weise Erleichterung verschaffen und Ihm ihre Liebe beweisen konnte. Die Stunden des Leidens waren durch ihre intime Verbundenheit mit dem Erlöser zugleich Stunden der Freude. Sie legte Fürsprache ein für alle, die sie liebte, sowie für alle Sünder und bat auch um Vergebung für ihre eigenen Sünden.

„Indem er die Erlösung durch das Leiden bewirkte, hat Christus gleichzeitig das menschliche Leiden auf die Ebene der Erlösung gehoben“, schrieb Papst Johannes-Paul II. „Darum kann auch jeder Mensch durch sein Leiden am erlösenden Leiden Christi teilhaben“ (Apostolisches Schreiben Salvifici doloris, 11. Februar 1984, Nr. 19). Wir alle müssen aus Treue zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit und zur Liebe leiden. „Leiden mit dem anderen, für die anderen; leiden um der Wahrheit und der Gerechtigkeit willen; leiden aus Liebe und um ein wahrhaft Liebender zu werden – das sind grundlegende Elemente der Humanität, die abzustreifen den Menschen selbst zerstören würde“, erklärte Papst Benedikt XVI. „Können wir das? Ist der andere gewichtig genug, dass ich seinetwegen selbst ein Leidender werde? Ist mir die Wahrheit gewichtig genug, dass sie des Leidens lohnt? Und ist die Verheißung der Liebe so groß, dass sie die Gabe meiner selbst rechtfertigt? Dem christlichen Glauben kommt in der Geschichte der Humanität gerade diese Bedeutung zu, dass er im Menschen auf neue Weise und in neuer Tiefe die Fähigkeit zu diesen für seine Menschlichkeit entscheidenden Weisen des Leidens entbunden hat. Denn er hat uns gezeigt, dass Gott, die Wahrheit und die Liebe in Person, für uns und mit uns leiden wollte“ (Spe salvi, Nr. 39).

Gemma war durch die Zeichen der Liebe, die sie an ihrem Körper trug, völlig verstört und tat alles, um sie zu verbergen. Msgr. Volpi äußerte den Wunsch, mit einem Arzt zu ihr zu kommen, der die Stigmata untersuchen sollte. Gemma beschwor ihn im Namen Jesu, er möge allein kommen, sonst werde er nichts sehen; dennoch suchte er sie in Begleitung eines Arztes auf. Nachdem dieser die Wunden mit Watte vom Blut gereinigt hatte, sah die Haut völlig unversehrt aus. Der Befund des Arztes war, dass es sich um einen Fall von Hysterie handelte: Die Patientin habe sich wohl mit Nadeln gestochen. Man begann, die Wirklichkeit der übernatürlichen Phänomene anzuzweifeln. Das Verschwinden der Stigmata vor dem Arzt war eine Prüfung für die Demut der jungen Frau.

Eine Lieblingstochter

Zu Beginn des Sommers 1899 fand in Lucca eine Mission statt, die von Passionistenpatres (Mitgliedern einer im 18. Jh. vom hl. Paul vom Kreuz gegründeten Kongregation) gepredigt wurde. Gemma stellte erstaunt fest, dass die Patres die gleiche Tracht trugen wie ihr „Bruder Gabriele“! In ihrem Inneren wurde sie von Jesus gefragt: „Gemma, würde es dir gefallen wenn auch du mit einem solchen Ordenskleid bekleidet wärst?… Du wirst eine Tochter meiner Passion sein, eine Lieblingstochter. Einer dieser Söhne wird dein Vater sein. Geh und eröffne ihm alles!“ Die junge Frau vertraute sich einem der Mönche an; dieser untersagte ihr auf der Stelle einige von ihr uner-laubterweise praktizierte Bußübungen und machte sie mit der kinderreichen Familie Giannini bekannt, die sie bei sich aufnahm und vor den Augen der Welt versteckte. Gemma lernte den Passionistenpater Germano kennen, der sie fortan seelsorgerlich mit fester Hand führte. Sie gehorchte ihm in allem und war sogar bereit, sich von Jesus zu verabschieden, wenn die für das Gebet vorgesehene Zeit vorüber war. Ihr Gehorsam schützte sie vor Trugbildern des Teufels. Pater Germano erkannte die Wahrhaftigkeit ihres mystischen Lebens und ließ behutsam den Heiligen Geist in ihr wirken.

Gemma lebte zurückgezogen und demütig weiter: Sie arbeitete pflichtbewusst im Haushalt mit, stopfte die Strümpfe und besorgte die ganze Wäsche der Familie Giannini. Oft verfiel sie dabei unversehens in Extase; war diese vorbei, arbeite sie still weiter. Gemma wäre liebend gern ins Kloster gegangen, doch die Passionistinnen schreckten davor zurück, eine Postulantin mit einem so ungewöhnlichen spirituellen Leben aufzunehmen. Sie unternahm Schritte zur Gründung eines Passionistinnenklosters in Lucca, doch diese verliefen im Sande. An Pfingsten 1902 wurde sie krank und hörte auf zu essen; ihre einzige Nahrung war die heilige Kommunion. Für sie war das eine Zeit intensiver, dem Heiligen Herzen Jesu dargebrachter „Wiedergutmachung“ sowie des Gebets für die Heiligung des Klerus. Am 21. September wurden bei Gemma erste Symptome einer Lungentuberkulose festgestellt. Der Herr offenbarte ihr, dass sie eine schmerzhafte Leidenszeit vor sich habe: „Ich brauche eine gewaltige Sühne, besonders für die Sünden und Frevel, durch die mich die Diener des Allerheiligsten beleidigt haben.“ Die Schmerzen, die sie in den kommenden Monaten erduldete, waren unbeschreiblich, doch ihre Geduld ließ nicht nach. Ihre bedingungslose Liebe zu Gott ließ sie das „Ärgernis des Bösen“ sowie das Leiden in göttlichem Licht sehen. Im Januar 1903 wurde sie aufgrund der Ansteckungsgefahr in ein kleines separates Zimmer verlegt. Dort starb sie mit 25 Jahren am 11. April, dem Karsamstag des Jahres 1903.

Das Passionistinnenkloster von Lucca, dessen Gründung Gemma so innig herbeigewünscht hatte, wurde 1905 eröffnet; in ihm ruht nun die sterbliche Hülle seiner himmlischen Patronin, die einst prophezeit hatte: „Die Passionisten wollten mich nicht als Lebende, aber sie werden mich als Tote haben.“ Am 2. Mai 1940 wurde Gemma Galgani nach einer sorgfältigen Prüfung der mystischen Phänomene in ihrem Leben vom ehrwürdigen Papst Pius XII. heiliggesprochen.

Heilige Gemma Galgani, erwirke durch deine Liebe zum Gekreuzigten die Gnade der Geduld für uns von Jesus und Maria!

Dom Antoine Marie osb

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